»Der unverzichtbare Bericht einer brillanten Historikerin.« Jill Lepore
Der Protest gegen strukturellen Rassismus gehört nicht erst seit der Black-Lives-Matter-Bewegung, seit den Toden von Breonna Taylor, George Floyd und vielen anderen zum alltäglichen Straßenbild in den USA. Er ist, wie die Historikerin Elizabeth Hinton in ihrem Buch nachweist, auch nicht als jeweils spontaner Ausbruch von verzweifelter Wut und Gewalt zu verstehen.
Mit erzählerischer Wucht und anhand erstmals erschlossener Quellen vollzieht »America on Fire« nach, wie die Rebellion Schwarzer Communitys seit den 1960er-Jahren nahezu ununterbrochen gegen ein System gewaltsamer Unterdrückung ankämpft.
Der Protest gegen strukturellen Rassismus gehört nicht erst seit der Black-Lives-Matter-Bewegung, seit den Toden von Breonna Taylor, George Floyd und vielen anderen zum alltäglichen Straßenbild in den USA. Er ist, wie die Historikerin Elizabeth Hinton in ihrem Buch nachweist, auch nicht als jeweils spontaner Ausbruch von verzweifelter Wut und Gewalt zu verstehen.
Mit erzählerischer Wucht und anhand erstmals erschlossener Quellen vollzieht »America on Fire« nach, wie die Rebellion Schwarzer Communitys seit den 1960er-Jahren nahezu ununterbrochen gegen ein System gewaltsamer Unterdrückung ankämpft.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2021Aufstand
in Amerika
Elizabeth Hinton versucht,
„Black Lives Matter“ zu erklären
Der Sommer 2020 hatte in Amerika nichts von der Sorglosigkeit, die man von dieser Jahreszeit erwartet. Corona legte das Land lahm, ein verbissenes Wettrennen zwischen Donald Trump und Joe Biden ums Weiße Haus ging in seinen Endspurt, und überall demonstrierten Amerikaner gegen Polizeiwillkür, mal friedlich, mal gewalttätig. Der Tod des 46 Jahre alten Afroamerikaners George Floyd in Minneapolis, dem ein weißer Polizist mit seinem Knie die Luft abgedrückt hatte, führte zu landes- und weltweiten Protesten. Viele waren überrascht von deren Wucht und Ausmaß. Für die Historikerin Elizabeth Hinton jedoch kam er keineswegs unvermittelt, sondern setzte die Aufstände schwarzer Amerikaner der 1960er-Jahre fort.
Die meisten Amerikaner betrachteten die Jahrzehnte seit der Bürgerrechtsbewegung als eine Zeit des Fortschritts, hin zu mehr Inklusion und Gleichheit. Das sei eine Fehldeutung, so Hinton; es handle sich vielmehr um eine ununterbrochene „Rebellion“ schwarzer Gemeinden gegen ein System gewaltsamer Unterdrückung. Vor allem aber sei diese Rebellion weniger eine Reaktion auf Armut und Ausgrenzung als auf gezielte Provokationen der Polizei. Hinton meint den „Krieg gegen das Verbrechen“, mit dem Präsident Lyndon B. Johnson 1968 auf Ausschreitungen in Harlem, Detroit oder Los Angeles mit Dutzenden Toten und enormen Zerstörungen reagierte, indem er militarisierte Polizeikräfte in verarmte schwarze Viertel schickte, um die Ordnung wiederherzustellen. Aus Protest gegen die Polizeipräsenz, die viele als Staatskontrolle empfanden, bewarfen Bewohner die Einsatzkräfte mit Steinen und Molotowcocktails, plünderten Geschäfte, steckten öffentliche Einrichtungen in Brand.
Hinton, geboren 1983, ist Professorin für Geschichte und African American Studies an der Universität Yale. Sie forscht zu Diskriminierung und Ungleichheit in den Vereinigten Staaten. Bereits in ihrem Erstling „From the War on Poverty to the War on Crime“ (2016) befasste sie sich mit „institutionellem Rassismus“ in den USA. „America on Fire“ ist quasi eine Fortsetzung – und eine Fleißarbeit: In zehn langen Kapiteln haben Hinton und ihr Team aus Archiven, Bibliotheken und Datenbanken Zeugenaussagen und Beispiele für Polizeiwillkür bei Aufständen zusammengetragen, chronologisch und regional sortiert und minutiös wie dramaturgisch aufbereitet.
Viele Fälle sind zweifellos empörend, unsäglich, himmelschreiend. Hinton ließ sich von den Missständen, die ihre Recherche offenlegte, freilich mitreißen. Ihre Bilanz jedenfalls liest sich wie ein Mix aus Appell und Furor, man vermisst die Distanz zu Gegenstand und Akteuren, die wissenschaftliches Arbeiten erfordert. Beim Leser weicht die Entrüstung bald der Ermüdung: Die Nacherzählungen sind zu lang, zu detailliert und nach dem immerselben Muster aufgebaut, statt Empathie herrscht bald Abstumpfung.
Für die Historikerin liegen die Verhältnisse klar auf dem Tisch: Täter waren und sind eine offen oder versteckt rassistische Polizei, Opfer sind dunkelhäutige Bürger. Außerdem stört sie sich vehement an dem verbreiteten Begriff riot (Aufruhr, Krawall) für die Aufstände. Das Wort sei eine rassistische Trope für Ereignisse, die man nur als „Rebellionen“ verstehen könne – als Ausbrüche kollektiven Widerstands gegen eine ungleiche und gewaltsame Ordnung. „Eine drohende Schwarze Rebellion ist ein Schlüssel zum Verständnis der US-Geschichte, vor allem aber zum Verständnis der Zeit nach der Bürgerrechtsbewegung“, zitierte die New York Times Hinton jüngst.
Nicht immer funktioniert das Täter-Opfer-Schema: So beschreibt sie den schwierigen abendlichen Alltag 1969 in einer Sozialbausiedlung in der Stadt Cairo, Illinois, weil auf den Straßen Finsternis herrscht. Jedoch haben die Anwohner selbst die Laternen regelmäßig zerschossen, um nicht von anrückenden Polizisten gesehen zu werden. Auch bewerten die oft asiatischen oder indischstämmigen Ladenbetreiber, deren Geschäfte zerstört und geplündert wurden, solche Unruhen womöglich sehr anders. Deren Stimmen würde man ebenso gerne hören wie die der zahlreichen schwarzen US-Polizisten. Welche Rolle spielen sie, was halten sie von den Aufständen ihrer „Brüder und Schwestern“?
So wichtig es ist, an dramatische Ereignisse zu erinnern, so unklar bleibt der Erkenntnisgewinn dieser Bestandsaufnahme. Die meisten Vorfälle sind bereits dokumentiert und wissenschaftlich aufbereitet, das zeigen allein 72 kleinstbedruckte Seiten Anhang. Dass es immer wieder zu Rassenunruhen in den USA kommt, greift als These für ein knapp 500 Seiten dickes Werk ebenso zu kurz wie die wortklauberische Frage, ob es sich um riots oder rebellions handelt. Was man aus einer ungerechten, rassistischen Vergangenheit, und ja, auch Gegenwart, lernen könnte, diese wichtige Antwort bleibt Hinton schuldig.
VIOLA SCHENZ
Elizabeth Hinton:
America on Fire.
Rassismus, Polizeigewalt und die Schwarze
Rebellion seit den 1960ern. Aus dem Amerikanischen von Heike Schlatterer und Werner Roller. Blessing-
Verlag, München 2021.
496 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
in Amerika
Elizabeth Hinton versucht,
„Black Lives Matter“ zu erklären
Der Sommer 2020 hatte in Amerika nichts von der Sorglosigkeit, die man von dieser Jahreszeit erwartet. Corona legte das Land lahm, ein verbissenes Wettrennen zwischen Donald Trump und Joe Biden ums Weiße Haus ging in seinen Endspurt, und überall demonstrierten Amerikaner gegen Polizeiwillkür, mal friedlich, mal gewalttätig. Der Tod des 46 Jahre alten Afroamerikaners George Floyd in Minneapolis, dem ein weißer Polizist mit seinem Knie die Luft abgedrückt hatte, führte zu landes- und weltweiten Protesten. Viele waren überrascht von deren Wucht und Ausmaß. Für die Historikerin Elizabeth Hinton jedoch kam er keineswegs unvermittelt, sondern setzte die Aufstände schwarzer Amerikaner der 1960er-Jahre fort.
Die meisten Amerikaner betrachteten die Jahrzehnte seit der Bürgerrechtsbewegung als eine Zeit des Fortschritts, hin zu mehr Inklusion und Gleichheit. Das sei eine Fehldeutung, so Hinton; es handle sich vielmehr um eine ununterbrochene „Rebellion“ schwarzer Gemeinden gegen ein System gewaltsamer Unterdrückung. Vor allem aber sei diese Rebellion weniger eine Reaktion auf Armut und Ausgrenzung als auf gezielte Provokationen der Polizei. Hinton meint den „Krieg gegen das Verbrechen“, mit dem Präsident Lyndon B. Johnson 1968 auf Ausschreitungen in Harlem, Detroit oder Los Angeles mit Dutzenden Toten und enormen Zerstörungen reagierte, indem er militarisierte Polizeikräfte in verarmte schwarze Viertel schickte, um die Ordnung wiederherzustellen. Aus Protest gegen die Polizeipräsenz, die viele als Staatskontrolle empfanden, bewarfen Bewohner die Einsatzkräfte mit Steinen und Molotowcocktails, plünderten Geschäfte, steckten öffentliche Einrichtungen in Brand.
Hinton, geboren 1983, ist Professorin für Geschichte und African American Studies an der Universität Yale. Sie forscht zu Diskriminierung und Ungleichheit in den Vereinigten Staaten. Bereits in ihrem Erstling „From the War on Poverty to the War on Crime“ (2016) befasste sie sich mit „institutionellem Rassismus“ in den USA. „America on Fire“ ist quasi eine Fortsetzung – und eine Fleißarbeit: In zehn langen Kapiteln haben Hinton und ihr Team aus Archiven, Bibliotheken und Datenbanken Zeugenaussagen und Beispiele für Polizeiwillkür bei Aufständen zusammengetragen, chronologisch und regional sortiert und minutiös wie dramaturgisch aufbereitet.
Viele Fälle sind zweifellos empörend, unsäglich, himmelschreiend. Hinton ließ sich von den Missständen, die ihre Recherche offenlegte, freilich mitreißen. Ihre Bilanz jedenfalls liest sich wie ein Mix aus Appell und Furor, man vermisst die Distanz zu Gegenstand und Akteuren, die wissenschaftliches Arbeiten erfordert. Beim Leser weicht die Entrüstung bald der Ermüdung: Die Nacherzählungen sind zu lang, zu detailliert und nach dem immerselben Muster aufgebaut, statt Empathie herrscht bald Abstumpfung.
Für die Historikerin liegen die Verhältnisse klar auf dem Tisch: Täter waren und sind eine offen oder versteckt rassistische Polizei, Opfer sind dunkelhäutige Bürger. Außerdem stört sie sich vehement an dem verbreiteten Begriff riot (Aufruhr, Krawall) für die Aufstände. Das Wort sei eine rassistische Trope für Ereignisse, die man nur als „Rebellionen“ verstehen könne – als Ausbrüche kollektiven Widerstands gegen eine ungleiche und gewaltsame Ordnung. „Eine drohende Schwarze Rebellion ist ein Schlüssel zum Verständnis der US-Geschichte, vor allem aber zum Verständnis der Zeit nach der Bürgerrechtsbewegung“, zitierte die New York Times Hinton jüngst.
Nicht immer funktioniert das Täter-Opfer-Schema: So beschreibt sie den schwierigen abendlichen Alltag 1969 in einer Sozialbausiedlung in der Stadt Cairo, Illinois, weil auf den Straßen Finsternis herrscht. Jedoch haben die Anwohner selbst die Laternen regelmäßig zerschossen, um nicht von anrückenden Polizisten gesehen zu werden. Auch bewerten die oft asiatischen oder indischstämmigen Ladenbetreiber, deren Geschäfte zerstört und geplündert wurden, solche Unruhen womöglich sehr anders. Deren Stimmen würde man ebenso gerne hören wie die der zahlreichen schwarzen US-Polizisten. Welche Rolle spielen sie, was halten sie von den Aufständen ihrer „Brüder und Schwestern“?
So wichtig es ist, an dramatische Ereignisse zu erinnern, so unklar bleibt der Erkenntnisgewinn dieser Bestandsaufnahme. Die meisten Vorfälle sind bereits dokumentiert und wissenschaftlich aufbereitet, das zeigen allein 72 kleinstbedruckte Seiten Anhang. Dass es immer wieder zu Rassenunruhen in den USA kommt, greift als These für ein knapp 500 Seiten dickes Werk ebenso zu kurz wie die wortklauberische Frage, ob es sich um riots oder rebellions handelt. Was man aus einer ungerechten, rassistischen Vergangenheit, und ja, auch Gegenwart, lernen könnte, diese wichtige Antwort bleibt Hinton schuldig.
VIOLA SCHENZ
Elizabeth Hinton:
America on Fire.
Rassismus, Polizeigewalt und die Schwarze
Rebellion seit den 1960ern. Aus dem Amerikanischen von Heike Schlatterer und Werner Roller. Blessing-
Verlag, München 2021.
496 Seiten, 26 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Viola Schenz wird nicht ganz klar, worin der Erkenntnisgewinn von Elizabeth Hintons "America on Fire" bestehen soll. Die 1983 geborene Historikerin und Professorin der Universität Yale zeigt darin eine Bestandsaufnahme des Rassismus, der Polizeigewalt und der Bürgerrechtsbewegung, erklärt die Rezensentin. Aber die Feststellung, dass es immer wieder zu Konfrontationen zwischen schwarzen Aktivisten und weißer Polizei komme, genügt der Rezensentin bei fünfhundert Seiten nicht. Bedauerlich findet Schenz auch, dass weder schwarze Polizisten noch asiatische Ladenbesitzer zu Wort kommen, obwohl sie von Plünderungen durchaus betroffen sind. Dass die Autorin statt "riots" lieber von "rebellions" sprechen möchte, nimmt die Rezensentin auf, wichtiger wäre ihr allerdings eine Antwort auf die Frage, was man aus der rassistischen Vergangenheit für die Gegenwart lernen könne, schließt Schenz ein wenig enttäuscht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Der unverzichtbare Bericht einer brillanten Historikerin.« Jill Lepore, Autorin des Bestsellers "Diese Wahrheiten"