Was macht Amerika aus? Karl Schlögels besonderer Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts: die großen Jahre der USA
Karl Schlögel hat als Historiker den Osten nach Europa zurückgebracht. Er hat aber auch intensiv die USA bereist, wo ihn die Weite des Landes genauso faszinierte wie in Russland. "American Matrix" erzählt, wie Nordamerika von Eisenbahn und Highway erschlossen wurde, Städte und Industrien aus dem Nichts entstanden, Wolkenkratzer in den Himmel schossen - Errungenschaften einer Gesellschaft, die sich frei von allen Traditionen fühlte. Das Versprechen des American Way of Life veränderte die Welt genauso wie das sozialistische Experiment. Karl Schlögels großes Buch beschreibt die USA aus einer einmaligen, überraschenden Perspektive - und erzählt eine Geschichte des 20. Jahrhunderts, wie sie noch nicht zu lesen war.
Karl Schlögel hat als Historiker den Osten nach Europa zurückgebracht. Er hat aber auch intensiv die USA bereist, wo ihn die Weite des Landes genauso faszinierte wie in Russland. "American Matrix" erzählt, wie Nordamerika von Eisenbahn und Highway erschlossen wurde, Städte und Industrien aus dem Nichts entstanden, Wolkenkratzer in den Himmel schossen - Errungenschaften einer Gesellschaft, die sich frei von allen Traditionen fühlte. Das Versprechen des American Way of Life veränderte die Welt genauso wie das sozialistische Experiment. Karl Schlögels großes Buch beschreibt die USA aus einer einmaligen, überraschenden Perspektive - und erzählt eine Geschichte des 20. Jahrhunderts, wie sie noch nicht zu lesen war.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Ein "Meisterwerk der Erzählkunst" nennt Michael Hesse das Buch des Osteuropa-Historikers Karl Schlögel über Amerika: Schlögel verbindet darin eigene Streifzüge durch die USA mit den Erfahrungen bekannter Reisender wie den russischen Schriftstellern Ilf und Petrow oder dem Soziologen Max Weber. Wir erfahren einiges über die Entstehungsgeschichte des Hoover-Damms, etwa, dessen New-Deal-Architektur den Demokraten hugeschreiben wird, obwohl sie den Republikanern zu verdanken ist, aber auch über die Abgründe des Kommunismus, so Hesse, denn Schlögel vergleicht fortwährend die USA mit der UdSSR. Er empfiehlt das Buch vor allem jenen, die die "tiefen Risse in der US-amerikanischen Gesellschaft" besser nachvollziehen wollen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2023Die Straßen der reisenden Seelen
Zum Raum wird hier die Zeit:
Karl Schlögel besichtigt Amerika
und hält es dabei vor allem
mit gebauten Zeugen eines Willens
zum Monumentalen, Wuchtigen
und Erhabenen.
Von Dieter Thomä
Von Dieter Thomä
Karl Schlögel, der wunderbare Erzähler und Erklärer von Osteuropa, hat sich in jüngerer Zeit auf anderes Terrain gewagt. 2020 verschlug es ihn nach Frankreich, weil er auf Ähnlichkeiten zwischen den Parfums Chanel No. 5 und Rotes Moskau gestoßen war. Nun überspringt er den großen Teich und überrascht seine Leserschaft mit dem Buch "American Matrix". Die Wachhunde der disziplinären Spezialisierung werden bellen, die Freunde der Grenzüberschreitung werden sich daran erfreuen, dass Schlögel die "dauerhafte Begeisterung", die er für die USA verspürt, in Worte gefasst hat.
Das Buch zielt auf eine "Neuvermessung des amerikanischen Jahrhunderts" oder - genau genommen - der USA im 20. Jahrhundert. Das Wort "Vermessung" wählt Schlögel mit Bedacht. Seine Art der Geschichtsschreibung befasst sich tatsächlich weniger mit Personen, Großtaten, Strategien, Institutionen, dem "Aufstieg und Fall" von Imperien, sondern mit Orten: mit Museen in Washington D.C., Fabriken in Pittsburgh, dem Bahnhof von Detroit, dem Hoover-Staudamm an der Grenze zwischen Arizona und Nevada, Baseballstadien, Autobahnen, Motels, Einkaufszentren, Universitäten. Zum Raum wird hier die Zeit. Zur Orientierung am Raum gehört die Faszination für Dinge, die Schlögel mit einem Ausspruch Walt Whitmans bekräftigt: "All truths wait in all things." Er sucht den Zugang zu menschlichen Schicksalen über deren materielle Umgebung. So ist der Greyhound-Bus eben nicht nur ein Bus, sondern auch Protestmittel der Freedom Riders im Kampf gegen Rassendiskriminierung 1961.
Einen Höhepunkt dieses dicken, schweren, manchmal schwerfälligen Buches bietet gleich das dritte Kapitel: Karl Schlögel schnappt sich den Baedeker-Reiseführer in der Ausgabe von 1904 und begleitet Max Weber, der in ebendiesem Jahr New York, St. Louis und Chicago, dem Indian Territory in Oklahoma und den Schwarzen in Alabama einen Besuch abstattet. Schlögel kombiniert dann Webers Eindrücke von den Schlachthöfen in Chicago mit denjenigen Upton Sinclairs, der dort genau zur gleichen Zeit wie Weber für seinen Roman "Der Dschungel" recherchiert. Weber sieht "Qualm, Kot, Blut und Felle" und verfolgt den Weg der Tiere von den Viehkoppeln bis zur "Conservenbüchse". Man meint, den Gestank zu riechen, und erkennt in der reibungslosen Organisation der Schlachthöfe zugleich ein Exempel für die von Weber beschriebene "Rationalisierung" des Kapitalismus. "Die ganze gewaltige Stadt" Chicago gleicht nach Weber "einem Menschen, dem die Haut abgezogen ist und dessen Eingeweide man arbeiten sieht".
Das Buch ist voll mit sprechenden Details. Man bewegt sich durch die "Lichtungen und Wüstungen" der heruntergewirtschafteten Stadt Detroit. Man lernt, dass der Bildhauer der Präsidentenköpfe am Mount Rushmore dem Ku-Klux-Klan nahestand und mit seiner Skulptur den heiligen "Berg der sechs Großväter" der Sioux entweihte. Man erfährt, dass Rodins Skulptur "Der Kuss" bei der Weltausstellung 1893 in Chicago von Männern nur auf Antrag betrachtet werden durfte - und von Frauen gar nicht. Zu Hochform läuft Schlögel auf, wenn er Verbindungen zwischen den USA und Russland zieht.
Dann stellt er neben Tocquevilles berühmtes Werk über die USA von 1835/40 das Buch "La Russie en 1839" von Astolphe de Custine. Schlögel meldet Zweifel an Tocquevilles These an, dass der Siedler-Kolonialismus in den USA weniger brutal gewesen sei als die Expansionspolitik des Zarenreichs. Oder er erzählt von den Verbindungen Henry Fords nach Nischni Nowgorod, dem "Detroit an der Wolga". Mit Blick auf die Technik konstatiert er eine "unangestrengt-natürliche Übereinstimmung" zwischen USA und Sowjetunion. Den Unterschied sieht Schlögel - wenig überraschend - bei der Spannung zwischen Individualismus und Kollektiv. Dann liest er den spannenden Bericht, den Ilja Ilf und Jewgeni Petrow nach ihrer USA-Reise 1935 verfassen. Oder er begleitet den Architekten Frank Lloyd Wright zu seinem Vortrag in Moskau 1937. (Wright: "Russland kann diesem geldgierigen, kriegslüsternen, zänkischen Haufen altersschwacher Rassen, aus denen die westliche Welt besteht, noch jene Seele geben, die sie selbst nicht mehr haben.")
Vielleicht hätte Schlögel diese interkulturellen Konstellationen in den Mittelpunkt rücken sollen, dann wäre mehr Platz gewesen für Maxim Gorkis Begegnung mit dem "gelben Teufel des Geldes" und seinen Besuch in Coney Island 1906 oder auch für Sergej Eisensteins Aufenthalt in Kalifornien 1930, inklusive Tennisspiel mit Charlie Chaplin und Besuch der Goldgräberstätten.
Kein Zweifel: Schlögel spürt den Erfahrungshunger und beherrscht den Gedankenflug. Und doch hinterlässt sein Buch einen zwiespältigen Eindruck und bietet streckenweise eine zähe Lektüre. Das hat mit einem Konstruktionsfehler zu tun, an dem es leidet. Schlögel interessiert sich für die "einzigartige Dynamik" dieses Landes und meint, ihr gerecht zu werden, indem er beschreibt, wie sie "konkrete Gestalt in gebauten Landschaften annimmt". Doch mit diesem Verfahren verwandelt sich die Dynamik geradewegs in Statik - und das Buch stagniert beim Behandeln toter Gegenstände. Stahl und Beton beherrschen das Bild. Die "andere Geschichte", die Schlögel erzählt, ist über weite Strecken Architekturgeschichte - und vor allem eine Geschichte technischer Großprojekte. Vielleicht kommt darin eine déformation russe zum Ausdruck. "Wucht" und "Erhabenheit" zählen zu seinen Lieblingsworten, wenn er die Resultate der "atemberaubenden Kraftakte" des amerikanischen Maschinenzeitalters feiert. Ein weiterer wunderschöner Vers Walt Whitmans wird im Buch zitiert: "To know the universe itself as a road, as many roads, as roads for traveling souls." Doch es scheint fast, als interessiere sich Schlögel mehr für die Straßen, auf denen die Seelen reisen, als für diese selbst.
Das Buch wirkt wie ein riesiges Containerschiff, das viel Interessantes geladen hat und an Schlagseite leidet. Die Leserschaft erfährt unglaublich viel über die USA - und unglaublich viel auch nicht. Die Leerstellen haben Methode. Der Raum wird erkundet, aber die zeitlichen Künste - vor allem Film und Musik - fehlen fast vollständig. Selbst die Film-Tetralogie "The Matrix", die ein Titelwort von Schlögels Buch verwendet und erklärtermaßen den amerikanischen Traum zum Thema hat, kommt nicht vor. Schlögels Desinteresse an der Zeit führt nebenbei auch dazu, dass sein Buch keiner ersichtlichen Chronologie folgt und immer wieder bei den gleichen Themen ins Stocken kommt. Ein besonderes Faible hat Schlögel für Weltausstellungen. Dreimal erfährt man, dass Frederick Jackson Turner seinen epochalen Vortrag über die Frontier nicht zufällig auf der Weltausstellung in Chicago 1893 gehalten habe. Dreimal lernen wir, dass Max Weber, Werner Sombart und Ernst Troeltsch 1904 die Weltausstellung in St. Louis besucht haben. Dreimal wird das "Futurama" der Weltausstellung 1939 beschrieben. Wenn wir schon bei Schwächen sind: Lincoln hat seine Gettysburg-Rede nicht 47, sondern 87 Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung gehalten. "4,2 Milliarden Quadratfuß" sind nicht "3,7 Milliarden Quadratmeter", sondern nur rund ein Zehntel davon.
Grundsätzlich gilt: Was nicht monumental, wuchtig und erhaben ist, rückt bei Schlögel an den Rand. Eine "221 Meter hohe Staumauer, die an der Sohle 201 Meter, auf der Dammkrone vierzehn Meter breit" ist, bekommt ein eigenes Kapitel, weitgehend ignoriert werden dagegen Townhalls und Dorfkirchen in Neuengland, die Siedlungen der Amish oder der Mormonen, Trailerparks, Drogenumschlagplätze, Fast-Food-Restaurants, Gated Communities, Housing Projects am Stadtrand, Plantagen im Süden, Braiding Salons und Nagelstudios, Chinatown, Silicon Valley, Disneyland, Las Vegas oder die über fünfhundert Spielcasinos in Indian Territories.
Schlögel zeigt trotz des großen Umfangs seines Werkes und trotz des Anspruchs, eine "andere Geschichte" der USA vorzulegen, nur einen amerikanischen Torso. Das ist bedauerlich, aber letzten Endes begegnet man diesem Buch doch mit Wertschätzung. Denn bekanntlich kann niemand über alles schreiben - und immerhin hat das meiste, was in diesem Buch steht, Esprit nebst Hand und Fuß.
Karl Schlögel: "American Matrix". Besichtigung einer Epoche.
Carl Hanser Verlag, München 2023. 830 S., Abb., geb., 45,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zum Raum wird hier die Zeit:
Karl Schlögel besichtigt Amerika
und hält es dabei vor allem
mit gebauten Zeugen eines Willens
zum Monumentalen, Wuchtigen
und Erhabenen.
Von Dieter Thomä
Von Dieter Thomä
Karl Schlögel, der wunderbare Erzähler und Erklärer von Osteuropa, hat sich in jüngerer Zeit auf anderes Terrain gewagt. 2020 verschlug es ihn nach Frankreich, weil er auf Ähnlichkeiten zwischen den Parfums Chanel No. 5 und Rotes Moskau gestoßen war. Nun überspringt er den großen Teich und überrascht seine Leserschaft mit dem Buch "American Matrix". Die Wachhunde der disziplinären Spezialisierung werden bellen, die Freunde der Grenzüberschreitung werden sich daran erfreuen, dass Schlögel die "dauerhafte Begeisterung", die er für die USA verspürt, in Worte gefasst hat.
Das Buch zielt auf eine "Neuvermessung des amerikanischen Jahrhunderts" oder - genau genommen - der USA im 20. Jahrhundert. Das Wort "Vermessung" wählt Schlögel mit Bedacht. Seine Art der Geschichtsschreibung befasst sich tatsächlich weniger mit Personen, Großtaten, Strategien, Institutionen, dem "Aufstieg und Fall" von Imperien, sondern mit Orten: mit Museen in Washington D.C., Fabriken in Pittsburgh, dem Bahnhof von Detroit, dem Hoover-Staudamm an der Grenze zwischen Arizona und Nevada, Baseballstadien, Autobahnen, Motels, Einkaufszentren, Universitäten. Zum Raum wird hier die Zeit. Zur Orientierung am Raum gehört die Faszination für Dinge, die Schlögel mit einem Ausspruch Walt Whitmans bekräftigt: "All truths wait in all things." Er sucht den Zugang zu menschlichen Schicksalen über deren materielle Umgebung. So ist der Greyhound-Bus eben nicht nur ein Bus, sondern auch Protestmittel der Freedom Riders im Kampf gegen Rassendiskriminierung 1961.
Einen Höhepunkt dieses dicken, schweren, manchmal schwerfälligen Buches bietet gleich das dritte Kapitel: Karl Schlögel schnappt sich den Baedeker-Reiseführer in der Ausgabe von 1904 und begleitet Max Weber, der in ebendiesem Jahr New York, St. Louis und Chicago, dem Indian Territory in Oklahoma und den Schwarzen in Alabama einen Besuch abstattet. Schlögel kombiniert dann Webers Eindrücke von den Schlachthöfen in Chicago mit denjenigen Upton Sinclairs, der dort genau zur gleichen Zeit wie Weber für seinen Roman "Der Dschungel" recherchiert. Weber sieht "Qualm, Kot, Blut und Felle" und verfolgt den Weg der Tiere von den Viehkoppeln bis zur "Conservenbüchse". Man meint, den Gestank zu riechen, und erkennt in der reibungslosen Organisation der Schlachthöfe zugleich ein Exempel für die von Weber beschriebene "Rationalisierung" des Kapitalismus. "Die ganze gewaltige Stadt" Chicago gleicht nach Weber "einem Menschen, dem die Haut abgezogen ist und dessen Eingeweide man arbeiten sieht".
Das Buch ist voll mit sprechenden Details. Man bewegt sich durch die "Lichtungen und Wüstungen" der heruntergewirtschafteten Stadt Detroit. Man lernt, dass der Bildhauer der Präsidentenköpfe am Mount Rushmore dem Ku-Klux-Klan nahestand und mit seiner Skulptur den heiligen "Berg der sechs Großväter" der Sioux entweihte. Man erfährt, dass Rodins Skulptur "Der Kuss" bei der Weltausstellung 1893 in Chicago von Männern nur auf Antrag betrachtet werden durfte - und von Frauen gar nicht. Zu Hochform läuft Schlögel auf, wenn er Verbindungen zwischen den USA und Russland zieht.
Dann stellt er neben Tocquevilles berühmtes Werk über die USA von 1835/40 das Buch "La Russie en 1839" von Astolphe de Custine. Schlögel meldet Zweifel an Tocquevilles These an, dass der Siedler-Kolonialismus in den USA weniger brutal gewesen sei als die Expansionspolitik des Zarenreichs. Oder er erzählt von den Verbindungen Henry Fords nach Nischni Nowgorod, dem "Detroit an der Wolga". Mit Blick auf die Technik konstatiert er eine "unangestrengt-natürliche Übereinstimmung" zwischen USA und Sowjetunion. Den Unterschied sieht Schlögel - wenig überraschend - bei der Spannung zwischen Individualismus und Kollektiv. Dann liest er den spannenden Bericht, den Ilja Ilf und Jewgeni Petrow nach ihrer USA-Reise 1935 verfassen. Oder er begleitet den Architekten Frank Lloyd Wright zu seinem Vortrag in Moskau 1937. (Wright: "Russland kann diesem geldgierigen, kriegslüsternen, zänkischen Haufen altersschwacher Rassen, aus denen die westliche Welt besteht, noch jene Seele geben, die sie selbst nicht mehr haben.")
Vielleicht hätte Schlögel diese interkulturellen Konstellationen in den Mittelpunkt rücken sollen, dann wäre mehr Platz gewesen für Maxim Gorkis Begegnung mit dem "gelben Teufel des Geldes" und seinen Besuch in Coney Island 1906 oder auch für Sergej Eisensteins Aufenthalt in Kalifornien 1930, inklusive Tennisspiel mit Charlie Chaplin und Besuch der Goldgräberstätten.
Kein Zweifel: Schlögel spürt den Erfahrungshunger und beherrscht den Gedankenflug. Und doch hinterlässt sein Buch einen zwiespältigen Eindruck und bietet streckenweise eine zähe Lektüre. Das hat mit einem Konstruktionsfehler zu tun, an dem es leidet. Schlögel interessiert sich für die "einzigartige Dynamik" dieses Landes und meint, ihr gerecht zu werden, indem er beschreibt, wie sie "konkrete Gestalt in gebauten Landschaften annimmt". Doch mit diesem Verfahren verwandelt sich die Dynamik geradewegs in Statik - und das Buch stagniert beim Behandeln toter Gegenstände. Stahl und Beton beherrschen das Bild. Die "andere Geschichte", die Schlögel erzählt, ist über weite Strecken Architekturgeschichte - und vor allem eine Geschichte technischer Großprojekte. Vielleicht kommt darin eine déformation russe zum Ausdruck. "Wucht" und "Erhabenheit" zählen zu seinen Lieblingsworten, wenn er die Resultate der "atemberaubenden Kraftakte" des amerikanischen Maschinenzeitalters feiert. Ein weiterer wunderschöner Vers Walt Whitmans wird im Buch zitiert: "To know the universe itself as a road, as many roads, as roads for traveling souls." Doch es scheint fast, als interessiere sich Schlögel mehr für die Straßen, auf denen die Seelen reisen, als für diese selbst.
Das Buch wirkt wie ein riesiges Containerschiff, das viel Interessantes geladen hat und an Schlagseite leidet. Die Leserschaft erfährt unglaublich viel über die USA - und unglaublich viel auch nicht. Die Leerstellen haben Methode. Der Raum wird erkundet, aber die zeitlichen Künste - vor allem Film und Musik - fehlen fast vollständig. Selbst die Film-Tetralogie "The Matrix", die ein Titelwort von Schlögels Buch verwendet und erklärtermaßen den amerikanischen Traum zum Thema hat, kommt nicht vor. Schlögels Desinteresse an der Zeit führt nebenbei auch dazu, dass sein Buch keiner ersichtlichen Chronologie folgt und immer wieder bei den gleichen Themen ins Stocken kommt. Ein besonderes Faible hat Schlögel für Weltausstellungen. Dreimal erfährt man, dass Frederick Jackson Turner seinen epochalen Vortrag über die Frontier nicht zufällig auf der Weltausstellung in Chicago 1893 gehalten habe. Dreimal lernen wir, dass Max Weber, Werner Sombart und Ernst Troeltsch 1904 die Weltausstellung in St. Louis besucht haben. Dreimal wird das "Futurama" der Weltausstellung 1939 beschrieben. Wenn wir schon bei Schwächen sind: Lincoln hat seine Gettysburg-Rede nicht 47, sondern 87 Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung gehalten. "4,2 Milliarden Quadratfuß" sind nicht "3,7 Milliarden Quadratmeter", sondern nur rund ein Zehntel davon.
Grundsätzlich gilt: Was nicht monumental, wuchtig und erhaben ist, rückt bei Schlögel an den Rand. Eine "221 Meter hohe Staumauer, die an der Sohle 201 Meter, auf der Dammkrone vierzehn Meter breit" ist, bekommt ein eigenes Kapitel, weitgehend ignoriert werden dagegen Townhalls und Dorfkirchen in Neuengland, die Siedlungen der Amish oder der Mormonen, Trailerparks, Drogenumschlagplätze, Fast-Food-Restaurants, Gated Communities, Housing Projects am Stadtrand, Plantagen im Süden, Braiding Salons und Nagelstudios, Chinatown, Silicon Valley, Disneyland, Las Vegas oder die über fünfhundert Spielcasinos in Indian Territories.
Schlögel zeigt trotz des großen Umfangs seines Werkes und trotz des Anspruchs, eine "andere Geschichte" der USA vorzulegen, nur einen amerikanischen Torso. Das ist bedauerlich, aber letzten Endes begegnet man diesem Buch doch mit Wertschätzung. Denn bekanntlich kann niemand über alles schreiben - und immerhin hat das meiste, was in diesem Buch steht, Esprit nebst Hand und Fuß.
Karl Schlögel: "American Matrix". Besichtigung einer Epoche.
Carl Hanser Verlag, München 2023. 830 S., Abb., geb., 45,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Karl Schlögel zeigt auf eindrückliche Weise, dass historische Urteilskraft und stetige kritische Selbstreflexion unerlässlich sind, wenn wir die Konflikte der Gegenwart angemessen verstehen wollen." Aus der Jurybegründung zum Gerda Henkel Preis 2024
"Viele Beobachtungen in Schlögels Buch sind seitlangem gültig und werden es bleiben. Das macht es zu einem Gewinn für alle, die die Kraft und Konflikte in einem Land verstehen wollen, das sich einst das Land der unbegrenzten Möglichkeiten nannte." Michael Hesse, Frankfurter Rundschau, 03.02.24
"Klassiker von Beginn an: Der Blick des Osteuropahistorikers Karl Schlögel auf die USA als Territorialmacht verdankt dem Vergleich mit Russland seinen Fokus. Und Schlögels Amerika-Erfahrungen seine Prägnanz." Lena Bopp, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.11.23
"Eines der überraschendsten und zugleich gewichtigsten Sachbücher des Herbstes ist die voluminöse Kulturgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. Überraschend, weil sein Autor, Karl Schlögel, sich einem Namen als herausragender Kenner der Geschichte Osteuropas gemacht hat. Gewichtig, weil der fulminante Streifzug durch die Geschichte der USA im 20. Jahrhundert den Blick für das Individuelle und das Allgemeine mit einer meisterhaften Erzählkunst kombiniert." Victor Mauer, NZZ am Sonntag, 26.11.23
"Den Lesern schenkt Schlögel dadurch die Freiheit, sich seiner Reise auf einer beliebigen Etappe anzuschließen und sich von seinem meisterhaften Erzählfluss immer wieder von neuem treiben zu lassen." Claudia Franziska Brühwiler, Neue Zürcher Zeitung, 02.11.23
"Schlögel ist ein brillanter Formulierer... Das Buch strotzt einfach nur so vor Ideen, Anregungen, von Menschen, von denen man noch nie gehört hat oder von Dingen, die man schon gehört hat, aber jetzt noch einmal komplett neu beleuchtet bekommt... Auch für Leute, die denken, sie wissen eigentlich schon sehr, sehr viel oder alles über Amerika. Hier werden Sie auf jeden Fall noch Neuigkeiten entdecken können." Alexander Cammann, Zeit Online "Was liest du gerade?", 20.10.23
"Voll mit sprechenden Details ... Kein Zweifel: Schlögel spürt den Erfahrungshunger und beherrscht den Gedankenflug." Dieter Thomä, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.10.23
"Ein faszinierendes Buch über die USA - dass es sich trotz des überbordenden Materials so gut liest, hat mit Schlögels Begeisterung zu tun und mit seiner großen Erzählkunst." Ronald Düker, Die Zeit, 12.10.23
"Unvergleichlich aber sind die Stilsicherheit und Genauigkeit seiner Beobachtungen, auch er ist, wie die Künstler des 'Machine Age' bewundernd genannt wurden, ein 'Precisionist'. Und er hat einen Blick für aufschlussreiche Konstellationen." Wolf Lepenies, Welt plus, 25.09.23
"Viele Beobachtungen in Schlögels Buch sind seitlangem gültig und werden es bleiben. Das macht es zu einem Gewinn für alle, die die Kraft und Konflikte in einem Land verstehen wollen, das sich einst das Land der unbegrenzten Möglichkeiten nannte." Michael Hesse, Frankfurter Rundschau, 03.02.24
"Klassiker von Beginn an: Der Blick des Osteuropahistorikers Karl Schlögel auf die USA als Territorialmacht verdankt dem Vergleich mit Russland seinen Fokus. Und Schlögels Amerika-Erfahrungen seine Prägnanz." Lena Bopp, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.11.23
"Eines der überraschendsten und zugleich gewichtigsten Sachbücher des Herbstes ist die voluminöse Kulturgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. Überraschend, weil sein Autor, Karl Schlögel, sich einem Namen als herausragender Kenner der Geschichte Osteuropas gemacht hat. Gewichtig, weil der fulminante Streifzug durch die Geschichte der USA im 20. Jahrhundert den Blick für das Individuelle und das Allgemeine mit einer meisterhaften Erzählkunst kombiniert." Victor Mauer, NZZ am Sonntag, 26.11.23
"Den Lesern schenkt Schlögel dadurch die Freiheit, sich seiner Reise auf einer beliebigen Etappe anzuschließen und sich von seinem meisterhaften Erzählfluss immer wieder von neuem treiben zu lassen." Claudia Franziska Brühwiler, Neue Zürcher Zeitung, 02.11.23
"Schlögel ist ein brillanter Formulierer... Das Buch strotzt einfach nur so vor Ideen, Anregungen, von Menschen, von denen man noch nie gehört hat oder von Dingen, die man schon gehört hat, aber jetzt noch einmal komplett neu beleuchtet bekommt... Auch für Leute, die denken, sie wissen eigentlich schon sehr, sehr viel oder alles über Amerika. Hier werden Sie auf jeden Fall noch Neuigkeiten entdecken können." Alexander Cammann, Zeit Online "Was liest du gerade?", 20.10.23
"Voll mit sprechenden Details ... Kein Zweifel: Schlögel spürt den Erfahrungshunger und beherrscht den Gedankenflug." Dieter Thomä, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.10.23
"Ein faszinierendes Buch über die USA - dass es sich trotz des überbordenden Materials so gut liest, hat mit Schlögels Begeisterung zu tun und mit seiner großen Erzählkunst." Ronald Düker, Die Zeit, 12.10.23
"Unvergleichlich aber sind die Stilsicherheit und Genauigkeit seiner Beobachtungen, auch er ist, wie die Künstler des 'Machine Age' bewundernd genannt wurden, ein 'Precisionist'. Und er hat einen Blick für aufschlussreiche Konstellationen." Wolf Lepenies, Welt plus, 25.09.23