Produktdetails
- Verlag: Steidl
- 2nd ed.
- Erscheinungstermin: 7. September 2009
- Englisch
- Abmessung: 267mm x 23mm
- Gewicht: 1400g
- ISBN-13: 9783865219244
- ISBN-10: 3865219241
- Artikelnr.: 26487280
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2009Das Unbehagen in der Natur
Von Kalifornien bis Alaska: Der Fotograf Mitch Epstein ist quer durch Amerika gereist, zu Kraftwerken, Raffinerien und Staudämmen. In seinem Bildessay "American Power" dokumentiert er das Verhältnis von Energie und Gewalt.
Von Julia Voss
Was der amerikanische Fotograf Mitch Epstein mit seinem Bildband "American Power" vorgelegt hat, scheint achtzig Jahre nach Sigmund Freud visuell einzulösen, worüber der Psychoanalytiker 1930 in seinem epochalen Essay über "Das Unbehagen in der Kultur" schrieb. "In den letzten Generationen", notierte Freud, "haben die Menschen außerordentliche Fortschritte in den Naturwissenschaften und in ihrer technischen Anwendung gemacht, ihre Herrschaft über die Natur ist in einer früher unvorstellbaren Weise befestigt." Die Menschen seien stolz auf diese Errungenschaften und hätten ein Recht dazu. Und eben nach dieser einleitenden Feststellung führt Freud aus, warum aber trotzdem die Enttäuschung dominiere, ein Gefühl, das pochend, wachsend, sich ausdehnend das Glück überlagere.
In Bildern gesprochen, macht Freud einen Kameraschwenk und richtet das Auge auf das, was Mitch Epsteins Fotografie "Griffith Motors, The Dalles, Oregon 2006" festhält: den Unterschied zwischen einem Versprechen und seiner Einlösung. Das Versprechen hat bei dem amerikanischen Autohändler Griffith Motors die Form eines Wandbildes angenommen, eine schwül romantische Szene, gebadet in verheißungsvolles Sonnenlicht, die europäische Siedler bei der Ankunft in Amerika zeigt. Den beschwerlichen Weg haben sie mit zwei Pferdestärken und einem Karren zurückgelegt, es öffnet sich nun ein riesiges fruchtbares Land, durch das sich ein Fluss schlängelt, und ein Prediger verheißt ihnen eine strahlende Zukunft. Schnitt. Die Zukunft ist eingetroffen, sie parkt auf dem Gelände des Autohändlers. Aus zwei Pferdestärken wurden mehr als hundert PS, die unter grell lackierten Motorhauben verpackt sind. Das weite Land ist asphaltiert, überbaut, aufgewühlt, vertrocknet, der Fluss durch einen Staudamm geteilt. Nie war es leichter, von einem Ort zum anderen zu gelangen, sich zu wärmen, das Feld zu bestellen oder Trinkwasser zu erhalten. Und doch ist die Gegenwart nicht das Einlösen des Versprechens, das der technische Fortschritt einmal zu geben schien.
Mitch Epstein, 1952 in Holyoke, Massachusetts, als Sohn eines jüdischen Möbelhändlers geboren, ist längst kein Unbekannter mehr. Sein vielbeachtetes Buch "Family Business", in dem er Pleite, Auflösung und Zerfall des väterlichen Geschäfts dokumentiert, brachte ihm Vergleiche mit Fotografen wie Robert Frank und William Eggleston ein; er selbst nennt als Vorbild Robert Adams. Aus der Perspektive des Sohnes begann er damit, den Zerfall amerikanischer Städte zu erzählen. Auch Holyoke war Opfer des Strukturwandels: Die Supermärkte und Malls verdrängten die kleinen Läden, das alte Zentrum verarmte und wurde darauf von Leuten bewohnt, die offenbar einen deutlich anderen Möbelgeschmack hatten als Epsteins Vater, dessen Geschäft immer schlechter lief und schließlich von ein paar Jugendlichen in Brand gesetzt wurde - was den nur ungenügend versicherten Vater endgültig ruinierte.
Und auch Epsteins gerade im Steidl Verlag erschienenes neues Buch "American Power" beginnt mit einer Nahaufnahme. Wie im Fall seines Vaters ist es eine Einzelperson, die ihn das Panorama in den Blick nehmen lässt, eine alte Dame, die bewaffnet in ihrem Wohnzimmer sitzt. An ihrem Fenster hat sie zwei Überwachungskameras aufgestellt, sie starren in den Garten. Der Besuch, den sie fürchtet, ist kein Krimineller im herkömmlichen Sinne, kein auf die falsche Bahn geratener Jugendlicher, verarmter oder enttäuschter Erwachsener. Der Besuch, den sie fürchtet, ist der Herr von der Stromgesellschaft. Die alte Dame ist die letzte Widerständige in einem Ort, in dem der Energiekonzern American Electric Power ein Kohlekraftwerk errichtet hat. Den Einwohnern von Cheshire im Bundesstaat Ohio wurde Geld bezahlt, damit sie wegziehen, nie wieder zurückkehren und außerdem versprechen, weder in der Öffentlichkeit noch bei einem Gericht Klage gegen den Konzern zu erheben, falls sie durch den Rauchausstoß gesundheitliche Schäden erlitten haben sollten. Die alte Dame weigert sich. Sie wartet Tag für Tag, auch wenn sie die Antwort des Konzerns fürchtet.
Mit "American Power" hat Epstein einen bewusst doppeldeutigen Titel gewählt, um das Verhältnis von Energie und Gewalt in seinem Heimatland zu beschreiben. Die Kulturhöhe eines Landes, hatte Freud geschrieben, würden wir an seiner Schönheit messen. "In einem solchen Land seien Flüsse, die mit Überschwemmungen drohen, in ihrem Lauf reguliert, ihr Wasser durch Kanäle hingeleitet, wo es entbehrt wird. Der Erdboden werde sorgfältig bearbeitet und mit den Gewächsen beschickt, die er zu tragen geeignet, die mineralischen Schätze der Tiefe emsig zutage gefördert und zu den verlangten Werkzeugen und Geräten verarbeitet. Die Verkehrsmittel seien reichlich, rasch und zuverlässig, die wilden und gefährlichen Tiere seien ausgerottet, die Zucht der zu Haustieren gezähmten sei in Blüte."
All das, was Freud in seinem Entwurf für ein utopisches Land beschreibt, ist eingetreten. Nur wurde ein Preis dafür gezahlt, mit dem man nicht gerechnet hat und der zu hoch liegt.
Epstein reiste quer durch Amerika und fotografierte zwischen 2003 und 2008 die Ruinen des amerikanischen Traums. Er fuhr zu den Kohlekraftwerken in West Virginia, zu der BP Raffinerie in Kalifornien, den abschmelzenden Gletschern in Alaska und den Staudammprojekten in Nevada. Er stieß dort nicht nur auf verwüstete Landschaften, sondern auch auf ein verkapseltes System von Machtstrukturen. "American Power" meint nicht nur die Art und Weise, wie Energie gewonnen wird, sondern auch die Energie, die Politik und Konzerne investieren, um ihre Interessen gewahrt zu sehen. Epstein wurde mehrfach von der Polizei angehalten und durchsucht, als er versuchte, Kraftwerke aufzunehmen. Seit dem 11. September 2001 gelten sie als potentielle Terrorziele. Epsteins Thema war allerdings nicht die drohende Zerstörung, sondern die bereits vollendete.
Mitch Epstein: "American Power". Mit einem Nachwort des Fotografen. Steidl Verlag, Göttingen 2009. 144 S. geb., 52,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von Kalifornien bis Alaska: Der Fotograf Mitch Epstein ist quer durch Amerika gereist, zu Kraftwerken, Raffinerien und Staudämmen. In seinem Bildessay "American Power" dokumentiert er das Verhältnis von Energie und Gewalt.
Von Julia Voss
Was der amerikanische Fotograf Mitch Epstein mit seinem Bildband "American Power" vorgelegt hat, scheint achtzig Jahre nach Sigmund Freud visuell einzulösen, worüber der Psychoanalytiker 1930 in seinem epochalen Essay über "Das Unbehagen in der Kultur" schrieb. "In den letzten Generationen", notierte Freud, "haben die Menschen außerordentliche Fortschritte in den Naturwissenschaften und in ihrer technischen Anwendung gemacht, ihre Herrschaft über die Natur ist in einer früher unvorstellbaren Weise befestigt." Die Menschen seien stolz auf diese Errungenschaften und hätten ein Recht dazu. Und eben nach dieser einleitenden Feststellung führt Freud aus, warum aber trotzdem die Enttäuschung dominiere, ein Gefühl, das pochend, wachsend, sich ausdehnend das Glück überlagere.
In Bildern gesprochen, macht Freud einen Kameraschwenk und richtet das Auge auf das, was Mitch Epsteins Fotografie "Griffith Motors, The Dalles, Oregon 2006" festhält: den Unterschied zwischen einem Versprechen und seiner Einlösung. Das Versprechen hat bei dem amerikanischen Autohändler Griffith Motors die Form eines Wandbildes angenommen, eine schwül romantische Szene, gebadet in verheißungsvolles Sonnenlicht, die europäische Siedler bei der Ankunft in Amerika zeigt. Den beschwerlichen Weg haben sie mit zwei Pferdestärken und einem Karren zurückgelegt, es öffnet sich nun ein riesiges fruchtbares Land, durch das sich ein Fluss schlängelt, und ein Prediger verheißt ihnen eine strahlende Zukunft. Schnitt. Die Zukunft ist eingetroffen, sie parkt auf dem Gelände des Autohändlers. Aus zwei Pferdestärken wurden mehr als hundert PS, die unter grell lackierten Motorhauben verpackt sind. Das weite Land ist asphaltiert, überbaut, aufgewühlt, vertrocknet, der Fluss durch einen Staudamm geteilt. Nie war es leichter, von einem Ort zum anderen zu gelangen, sich zu wärmen, das Feld zu bestellen oder Trinkwasser zu erhalten. Und doch ist die Gegenwart nicht das Einlösen des Versprechens, das der technische Fortschritt einmal zu geben schien.
Mitch Epstein, 1952 in Holyoke, Massachusetts, als Sohn eines jüdischen Möbelhändlers geboren, ist längst kein Unbekannter mehr. Sein vielbeachtetes Buch "Family Business", in dem er Pleite, Auflösung und Zerfall des väterlichen Geschäfts dokumentiert, brachte ihm Vergleiche mit Fotografen wie Robert Frank und William Eggleston ein; er selbst nennt als Vorbild Robert Adams. Aus der Perspektive des Sohnes begann er damit, den Zerfall amerikanischer Städte zu erzählen. Auch Holyoke war Opfer des Strukturwandels: Die Supermärkte und Malls verdrängten die kleinen Läden, das alte Zentrum verarmte und wurde darauf von Leuten bewohnt, die offenbar einen deutlich anderen Möbelgeschmack hatten als Epsteins Vater, dessen Geschäft immer schlechter lief und schließlich von ein paar Jugendlichen in Brand gesetzt wurde - was den nur ungenügend versicherten Vater endgültig ruinierte.
Und auch Epsteins gerade im Steidl Verlag erschienenes neues Buch "American Power" beginnt mit einer Nahaufnahme. Wie im Fall seines Vaters ist es eine Einzelperson, die ihn das Panorama in den Blick nehmen lässt, eine alte Dame, die bewaffnet in ihrem Wohnzimmer sitzt. An ihrem Fenster hat sie zwei Überwachungskameras aufgestellt, sie starren in den Garten. Der Besuch, den sie fürchtet, ist kein Krimineller im herkömmlichen Sinne, kein auf die falsche Bahn geratener Jugendlicher, verarmter oder enttäuschter Erwachsener. Der Besuch, den sie fürchtet, ist der Herr von der Stromgesellschaft. Die alte Dame ist die letzte Widerständige in einem Ort, in dem der Energiekonzern American Electric Power ein Kohlekraftwerk errichtet hat. Den Einwohnern von Cheshire im Bundesstaat Ohio wurde Geld bezahlt, damit sie wegziehen, nie wieder zurückkehren und außerdem versprechen, weder in der Öffentlichkeit noch bei einem Gericht Klage gegen den Konzern zu erheben, falls sie durch den Rauchausstoß gesundheitliche Schäden erlitten haben sollten. Die alte Dame weigert sich. Sie wartet Tag für Tag, auch wenn sie die Antwort des Konzerns fürchtet.
Mit "American Power" hat Epstein einen bewusst doppeldeutigen Titel gewählt, um das Verhältnis von Energie und Gewalt in seinem Heimatland zu beschreiben. Die Kulturhöhe eines Landes, hatte Freud geschrieben, würden wir an seiner Schönheit messen. "In einem solchen Land seien Flüsse, die mit Überschwemmungen drohen, in ihrem Lauf reguliert, ihr Wasser durch Kanäle hingeleitet, wo es entbehrt wird. Der Erdboden werde sorgfältig bearbeitet und mit den Gewächsen beschickt, die er zu tragen geeignet, die mineralischen Schätze der Tiefe emsig zutage gefördert und zu den verlangten Werkzeugen und Geräten verarbeitet. Die Verkehrsmittel seien reichlich, rasch und zuverlässig, die wilden und gefährlichen Tiere seien ausgerottet, die Zucht der zu Haustieren gezähmten sei in Blüte."
All das, was Freud in seinem Entwurf für ein utopisches Land beschreibt, ist eingetreten. Nur wurde ein Preis dafür gezahlt, mit dem man nicht gerechnet hat und der zu hoch liegt.
Epstein reiste quer durch Amerika und fotografierte zwischen 2003 und 2008 die Ruinen des amerikanischen Traums. Er fuhr zu den Kohlekraftwerken in West Virginia, zu der BP Raffinerie in Kalifornien, den abschmelzenden Gletschern in Alaska und den Staudammprojekten in Nevada. Er stieß dort nicht nur auf verwüstete Landschaften, sondern auch auf ein verkapseltes System von Machtstrukturen. "American Power" meint nicht nur die Art und Weise, wie Energie gewonnen wird, sondern auch die Energie, die Politik und Konzerne investieren, um ihre Interessen gewahrt zu sehen. Epstein wurde mehrfach von der Polizei angehalten und durchsucht, als er versuchte, Kraftwerke aufzunehmen. Seit dem 11. September 2001 gelten sie als potentielle Terrorziele. Epsteins Thema war allerdings nicht die drohende Zerstörung, sondern die bereits vollendete.
Mitch Epstein: "American Power". Mit einem Nachwort des Fotografen. Steidl Verlag, Göttingen 2009. 144 S. geb., 52,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Das Verhältnis von Energie und Gewalt sieht Rezensentin Julia Voss in Mitch Epsteins Bildband "American Power" eindrucksvoll dokumentiert. Die Bilder des Fotografen, der von 2003 bis 2008 quer durch die USA reiste und Kraftwerke, Raffinerien und Staudämme fotografierte, erscheinen ihr wie die visuelle Einlösung von Sigmund Freuds Thesen in seinem Essay "Das Unbehagen in der Kultur". Bewusst doppeldeutig ist für Voss der Titel des Bands, meint "American Power" doch nicht nur die Art und Weise, wie in Amerika Energie gewonnen wird, sondern auch die Energie, die Politik und Konzerne investieren, um ihre Interessen und ihre Macht zu stärken. Wie sie berichtet, wurde Epstein beim Fotografieren der Kraftwerke mehrfach von der Polizei behindert, da Kraftwerke seit dem 11. September 2001 als mögliche Terrorziele gelten. "Epsteins Thema war allerdings", so die Rezensentin, "nicht die drohende Zerstörung, sondern die bereits vollendete."
© Perlentaucher Medien GmbH
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