Produktdetails
- Verlag: Simon & Schuster UK
- ISBN-13: 9781847394125
- Artikelnr.: 27315994
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.2011Teilweise eingerostet
Philipp Meyer ist ein junger Amerikaner und der Roman "Rost" ist sein, sagen wir es bescheiden, "Weltdebüt". Begriffe wie stream of consciousness und Signalnamen wie James Joyce, William Faulkner und Virginia Woolf umschwirren den Text. Am Ende ist es aber dann doch bloß ein Buch mit ein paar rauhbeinigen Jungen, denen es nicht gelingt, bekannt, einflussreich und glücklich zu werden. Billy Poe ist ein Fußballstar, der es gelassen auf sich nimmt, wenn er in den Verdacht gerät, einen Kumpel ermordet zu haben. Seine Freundschaft zu Isaac English, der es in Wirklichkeit getan hat, ist dicker als Blut. Isaac treibt es in die amerikanische Welt, während Billy ins Gefängnis kommt. Dass beide, Billy und Isaac, irgendwie mit dem Leben davonkommen, hat vor allem mit drei weiteren Personen zu tun: Isaacs Schwester Lee, kein Engel, aber mit wissenschaftlichen Ambitionen; Billys Mutter Grace, die Madonna im Wohnwagen, und schließlich Bud Harris. Der Polizeichef der heruntergekommenen Industriestadt Buell in Pennsylvanien nimmt sich Grace' Nöten samt denen ihres Sohnes an. Dieser wiederum opfert sich freiwillig für den Freund, um ihn vor der Giftspritze sowie der Wut der anderen Insassen zu schützen. Das ergab vielleicht spannende Schreibmomente für den Autor, für die Leser hingegen schließt längere Strecken durch Ödland ein - sowie die Frage, wie es um die "rostige" Gerechtigkeit im fernen Westen Amerikas bestellt ist. (Philipp Meyer: "Rost". Roman. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2010. 464 S., geb., 22,95 [Euro].) g.sch.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Philipp Meyer ist ein junger Amerikaner und der Roman "Rost" ist sein, sagen wir es bescheiden, "Weltdebüt". Begriffe wie stream of consciousness und Signalnamen wie James Joyce, William Faulkner und Virginia Woolf umschwirren den Text. Am Ende ist es aber dann doch bloß ein Buch mit ein paar rauhbeinigen Jungen, denen es nicht gelingt, bekannt, einflussreich und glücklich zu werden. Billy Poe ist ein Fußballstar, der es gelassen auf sich nimmt, wenn er in den Verdacht gerät, einen Kumpel ermordet zu haben. Seine Freundschaft zu Isaac English, der es in Wirklichkeit getan hat, ist dicker als Blut. Isaac treibt es in die amerikanische Welt, während Billy ins Gefängnis kommt. Dass beide, Billy und Isaac, irgendwie mit dem Leben davonkommen, hat vor allem mit drei weiteren Personen zu tun: Isaacs Schwester Lee, kein Engel, aber mit wissenschaftlichen Ambitionen; Billys Mutter Grace, die Madonna im Wohnwagen, und schließlich Bud Harris. Der Polizeichef der heruntergekommenen Industriestadt Buell in Pennsylvanien nimmt sich Grace' Nöten samt denen ihres Sohnes an. Dieser wiederum opfert sich freiwillig für den Freund, um ihn vor der Giftspritze sowie der Wut der anderen Insassen zu schützen. Das ergab vielleicht spannende Schreibmomente für den Autor, für die Leser hingegen schließt längere Strecken durch Ödland ein - sowie die Frage, wie es um die "rostige" Gerechtigkeit im fernen Westen Amerikas bestellt ist. (Philipp Meyer: "Rost". Roman. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2010. 464 S., geb., 22,95 [Euro].) g.sch.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.10.2010Bald werden alle wieder unterwegs sein
Natur der toten Fabriken: Mit „Rost“ schreibt Philipp Meyer einen großen Roman zum langen Abschied von einer amerikanischen Lebensform
„Isaacs Mutter war fünf Jahre tot, aber er dachte ständig an sie.“ Das ist ein Romananfang, der im Gedächtnis bleibt. Es wird noch besser. Im Wechsel von Innenperspektiven und panoramatischen Naturbildern beschreibt der 1974 in Baltimore geborene Schriftsteller Philipp Meyer das Leben in einer Region, wo der amerikanische Traum ausgeträumt wird: Buell in Fayette County, Pennsylvania, heißt das fiktive Hinterwäldlerkaff, in dem er seine Geschichte angesiedelt hat.
Schwerindustrie: Kokereien, Hochöfen, Walzwerke – das war einmal das Rückgrat der amerikanischen Wirtschaft, mit dem die USA zwei Weltkriege gewonnen hat. Aber das ist lange her. „Rustbelt“ nennt man diese Region heute, Rostgürtel. „Ein Stück weiter war die alte Kohlenrutsche, die sich über die gesamte Hügelflanke zog“, heißt es im Roman „Rost“, „unübersehbar, die auf hohen Stahlpfeilern die Straße überspannte, durch die Rostlöcher im Boden war der Himmel zu erkennen; eine Hängebrücke, Eisen, quer über den Fluss. Sie war gesperrt, von beiden Seiten, die Struktur vom Rost erobert und pockennarbig.“
Philipp Meyer beschreibt verfallende Industriearchitektur wie den Kadaver eines riesenhaften Untiers, das beim Kriechen über Fluss und Hügel verendet und dann Teil der Landschaft geworden ist: „Letzen Endes alles Rost“, denkt Isaac, aber auch, dass der Gedanke hier nicht sehr originell sei. Doch Meyer zeigt nicht nur Rost und Rostlöcher, sondern auch den Himmel, den man dadurch sieht.
Isaac aber will zu anderen Himmeln, ein junger Mann, klein für sein Alter, hochbegabt und mit einem Riesenrucksack auf den Schultern. Viertausend Dollar hat er dabei; Geld, das er seinem tyrannischen Vater gestohlen hat, dessen Krankheit ihn an sein halb verwaistes Elternhaus fesselt. Isaacs Schwester Lee hat es besser getroffen, aber ihr Yale-Stipendium und die Ehe mit einem reichen Sohn haben sie nicht glücklich gemacht. Lee kommt von Billy Poe nicht los, dem Naturburschen und Spitzensportler, dem Freund ihres kleinen Bruders, dem Hauptverdächtigen in einem Mordfall.
Poe haust mit seiner Mutter Grace in einem Wohnwagen auf einer Waldparzelle und schlägt nach seinem Vater, bringt nichts zustande, kann sich von Buell nicht losreißen, obwohl er mit einem Sportlerstipendium jederzeit studieren könnte. Er kann nicht verstehen, will nicht verstehen, warum man mit achtzehn plötzlich den Ort verlassen soll, wo man sich zu Hause fühlt und wie zu Zeiten der Indianer. Wenn die Tiefkühltruhe leer ist, geht Poe jagen, und wenn keine Jagdsaison ist, wildert er auch. Jagd ist in den USA kein Privileg für nachwachsende Führungskräfte. Jagd ist eine Art, auch ohne Geld zu überleben. Aber Poe hat auch einen Sportwagen. Der steht allerdings schrottreif auf dem Waldgrundstück.
Ein wenig begleitet Poe seinen Freund noch, der als Eisenbahntramp nach Kalifornien will, um zu studieren, doch dann sind da plötzlich drei Landstreicher. Poe hat ein Messer an der Kehle, und Isaac hat eine Eisenkugel in der Hand. Dann ist einer der drei Penner tot, und Isaac hat etwas begangen, was der örtliche Polizeichef Harris viel eher Poe zugetraut hätte – einen Totschlag, den der neue Staatsanwalt im Ort leicht zum Mordfall aufblasen könnte.
Chief Harris wiederum hat ein Verhältnis mit Poes Mutter Grace und hatte ihn bislang immer wieder rausreißen können, wenn er über die Stränge oder zu hart zugeschlagen hatte. Aber diesmal meldet sich ein Zeuge, der Poe beschuldigt. Poe wandert ins Gefängnis. Und Isaac wandert allein den Fluss entlang, bis zum nächsten Güterbahnhof.
Das ist die Figurenkonstellation, das sind die wechselnden Sichtweisen, aus denen hier erzählt wird. Der Autor entwirft eine tragische Verstrickung zweier Freunde, die dem Roman Dynamik und Spannung verleiht. Dessen Dramatik wird jedoch nicht nur durch Wechsel der Figurenperspektive gebrochen, sondern auch durch Rückblicke und grandiose Beschreibungen einer Natur, die Menschen und Menschenwerk gleichermaßen überwältigt. Da sitzen Lee und Poe nachts auf der Terrasse, „sie hörten einen Bach, der bergab zu der Schlucht floss, wo er einen anderen Bach traf und danach den Fluss. Und weiter, dachte er. Und weiter traf er dann auf den Ohio, dieser auf den Mississippi und dann bis zum Golf von Mexiko und dem Atlantik, alles war verbunden.“
Und all das ist wunderschön. Immer wieder halten Meyers Gestalten und Handlung inne, um das vor Augen zu führen. Es gibt hundert Arten von Grün und kühle Luft und blauen Himmel, aber die Zeiten, als Stahlarbeiter pro Stunde dreißig Dollar kriegten, sind unwiderruflich vorbei. „Da wurde man doch nicht entlassen, wenn man gut in seinem Job war“, formuliert Lee den amerikanischen Traum von gestern. Philipp Meyer erzählt vom mühseligen, schmerzhaften Erwachen aus diesem Traum. Nur ein paar Alte werden in Buell weiterträumen dürfen, weil ihnen auch gar nichts anderes mehr übrig bleibt. Chief Harris etwa lebt in einer Hütte im Wald, einer Bastion seiner Einsamkeit, in die ihn seine bevorstehende Pensionierung bald ganz entlassen wird. Nachdem der tote Landstreicher gefunden worden ist, sitzt er schon mal „ungefähr drei Stunden“ in seinem Ford Explorer und hält nach Verdächtigen Ausschau. Tote Landstreicher sind ihm egal.
Wie egal, wird man später sehen, wenn er den Fall auf seine Weise zum Abschluss bringt. Doch was er hier sieht, erzählt eine ganz andere, eine größere Geschichte, die freilich, wie vieles in diesem Roman, schon fast vorbei ist: „Schrottreife Güterwaggons standen auf der Wiese, eine angenehme, friedliche Stimmung herrschte an diesem Ort“, der wohlgemerkt ein Tatort ist. Doch wie bei der stillgelegten Kohlenrutsche hat auch hier ein Untergang stattgefunden, der nicht nur einen einzelnen Menschen betrifft, sondern eine ganze Gesellschaft: „Wie die Natur sich Menschenwerk zurückholte. Als Harris jung war, hatte er so etwas in Vietnam gesehen, in verlassenen Dschungeltempeln.“ Dass der Polizist, der die ganze Zeit neben ihm sitzt, ein Asiate im Kampfanzug ist, gibt dieser Reminiszenz eine leicht ironische Note. Doch man muss wohl schon ein Altersgenosse von Harris sein, um sie wahrzunehmen.
Lang, lang ist vieles hier her, ja das meiste eigentlich. „Rost“ erzählt von Menschen, die in Jonathan Franzens Roman „Freiheit“ nur am Rande abgefertigt werden, von einem provinziellen Amerika, dessen Fabriken und Arbeiter das Land einst zur Weltmacht gemacht haben. Philipp Meyer hat damit einen großen Roman zum langen Abschied von einer amerikanischen Lebensform geschrieben: „Er stand da, schaute in die Sonne auf dem langsam strömenden Fluss“, heißt es gegen Ende über Isaac. Das ist wohl der Fluss, in dem sich seine Mutter das Leben genommen hat, und doch nicht mehr derselbe: „Licht spiegelte sich in der Kathedralenkuppel und den Fenstern aller Häuser, ein paar Seeschwalben flogen los, hin zum offenen Wasser, und bald würde er wie sie sein, fort.“ Bald werden auch andere nicht mehr in Buell sein, sondern unterwegs. Und das ist von allen amerikanischen Lebensformen wohl die amerikanischste. ULRICH BARON
PHILIPP MEYER: Rost. Aus dem Englischen von Frank Heibert. Klett-Cotta, Stuttgart 2010. 464 Seiten, 22,95 Euro .
„Rost“ erzählt von Menschen, die
bei Jonathan Franzen nur
am Rande abgefertigt werden
Die Zeiten, als Stahlarbeiter pro Stunde dreißig Dollar kriegten, sind unwiderruflich vorbei. „Da wurde man doch nicht entlassen, wenn man gut in seinem Job war“, formuliert eine Figur in Philipp Meyers Roman „Rost“ den amerikanischen Traum von gestern. Das Bild zeigt ein verlassenes Stahlwerk im „Rostgürtel“. Meyer beschwört aber nicht zuletzt auch die Schönheit der Natur, die sich das Menschenwerk erobert.
Foto: Sean Hemmerle/ContactPressImages/Agentur Focus
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Natur der toten Fabriken: Mit „Rost“ schreibt Philipp Meyer einen großen Roman zum langen Abschied von einer amerikanischen Lebensform
„Isaacs Mutter war fünf Jahre tot, aber er dachte ständig an sie.“ Das ist ein Romananfang, der im Gedächtnis bleibt. Es wird noch besser. Im Wechsel von Innenperspektiven und panoramatischen Naturbildern beschreibt der 1974 in Baltimore geborene Schriftsteller Philipp Meyer das Leben in einer Region, wo der amerikanische Traum ausgeträumt wird: Buell in Fayette County, Pennsylvania, heißt das fiktive Hinterwäldlerkaff, in dem er seine Geschichte angesiedelt hat.
Schwerindustrie: Kokereien, Hochöfen, Walzwerke – das war einmal das Rückgrat der amerikanischen Wirtschaft, mit dem die USA zwei Weltkriege gewonnen hat. Aber das ist lange her. „Rustbelt“ nennt man diese Region heute, Rostgürtel. „Ein Stück weiter war die alte Kohlenrutsche, die sich über die gesamte Hügelflanke zog“, heißt es im Roman „Rost“, „unübersehbar, die auf hohen Stahlpfeilern die Straße überspannte, durch die Rostlöcher im Boden war der Himmel zu erkennen; eine Hängebrücke, Eisen, quer über den Fluss. Sie war gesperrt, von beiden Seiten, die Struktur vom Rost erobert und pockennarbig.“
Philipp Meyer beschreibt verfallende Industriearchitektur wie den Kadaver eines riesenhaften Untiers, das beim Kriechen über Fluss und Hügel verendet und dann Teil der Landschaft geworden ist: „Letzen Endes alles Rost“, denkt Isaac, aber auch, dass der Gedanke hier nicht sehr originell sei. Doch Meyer zeigt nicht nur Rost und Rostlöcher, sondern auch den Himmel, den man dadurch sieht.
Isaac aber will zu anderen Himmeln, ein junger Mann, klein für sein Alter, hochbegabt und mit einem Riesenrucksack auf den Schultern. Viertausend Dollar hat er dabei; Geld, das er seinem tyrannischen Vater gestohlen hat, dessen Krankheit ihn an sein halb verwaistes Elternhaus fesselt. Isaacs Schwester Lee hat es besser getroffen, aber ihr Yale-Stipendium und die Ehe mit einem reichen Sohn haben sie nicht glücklich gemacht. Lee kommt von Billy Poe nicht los, dem Naturburschen und Spitzensportler, dem Freund ihres kleinen Bruders, dem Hauptverdächtigen in einem Mordfall.
Poe haust mit seiner Mutter Grace in einem Wohnwagen auf einer Waldparzelle und schlägt nach seinem Vater, bringt nichts zustande, kann sich von Buell nicht losreißen, obwohl er mit einem Sportlerstipendium jederzeit studieren könnte. Er kann nicht verstehen, will nicht verstehen, warum man mit achtzehn plötzlich den Ort verlassen soll, wo man sich zu Hause fühlt und wie zu Zeiten der Indianer. Wenn die Tiefkühltruhe leer ist, geht Poe jagen, und wenn keine Jagdsaison ist, wildert er auch. Jagd ist in den USA kein Privileg für nachwachsende Führungskräfte. Jagd ist eine Art, auch ohne Geld zu überleben. Aber Poe hat auch einen Sportwagen. Der steht allerdings schrottreif auf dem Waldgrundstück.
Ein wenig begleitet Poe seinen Freund noch, der als Eisenbahntramp nach Kalifornien will, um zu studieren, doch dann sind da plötzlich drei Landstreicher. Poe hat ein Messer an der Kehle, und Isaac hat eine Eisenkugel in der Hand. Dann ist einer der drei Penner tot, und Isaac hat etwas begangen, was der örtliche Polizeichef Harris viel eher Poe zugetraut hätte – einen Totschlag, den der neue Staatsanwalt im Ort leicht zum Mordfall aufblasen könnte.
Chief Harris wiederum hat ein Verhältnis mit Poes Mutter Grace und hatte ihn bislang immer wieder rausreißen können, wenn er über die Stränge oder zu hart zugeschlagen hatte. Aber diesmal meldet sich ein Zeuge, der Poe beschuldigt. Poe wandert ins Gefängnis. Und Isaac wandert allein den Fluss entlang, bis zum nächsten Güterbahnhof.
Das ist die Figurenkonstellation, das sind die wechselnden Sichtweisen, aus denen hier erzählt wird. Der Autor entwirft eine tragische Verstrickung zweier Freunde, die dem Roman Dynamik und Spannung verleiht. Dessen Dramatik wird jedoch nicht nur durch Wechsel der Figurenperspektive gebrochen, sondern auch durch Rückblicke und grandiose Beschreibungen einer Natur, die Menschen und Menschenwerk gleichermaßen überwältigt. Da sitzen Lee und Poe nachts auf der Terrasse, „sie hörten einen Bach, der bergab zu der Schlucht floss, wo er einen anderen Bach traf und danach den Fluss. Und weiter, dachte er. Und weiter traf er dann auf den Ohio, dieser auf den Mississippi und dann bis zum Golf von Mexiko und dem Atlantik, alles war verbunden.“
Und all das ist wunderschön. Immer wieder halten Meyers Gestalten und Handlung inne, um das vor Augen zu führen. Es gibt hundert Arten von Grün und kühle Luft und blauen Himmel, aber die Zeiten, als Stahlarbeiter pro Stunde dreißig Dollar kriegten, sind unwiderruflich vorbei. „Da wurde man doch nicht entlassen, wenn man gut in seinem Job war“, formuliert Lee den amerikanischen Traum von gestern. Philipp Meyer erzählt vom mühseligen, schmerzhaften Erwachen aus diesem Traum. Nur ein paar Alte werden in Buell weiterträumen dürfen, weil ihnen auch gar nichts anderes mehr übrig bleibt. Chief Harris etwa lebt in einer Hütte im Wald, einer Bastion seiner Einsamkeit, in die ihn seine bevorstehende Pensionierung bald ganz entlassen wird. Nachdem der tote Landstreicher gefunden worden ist, sitzt er schon mal „ungefähr drei Stunden“ in seinem Ford Explorer und hält nach Verdächtigen Ausschau. Tote Landstreicher sind ihm egal.
Wie egal, wird man später sehen, wenn er den Fall auf seine Weise zum Abschluss bringt. Doch was er hier sieht, erzählt eine ganz andere, eine größere Geschichte, die freilich, wie vieles in diesem Roman, schon fast vorbei ist: „Schrottreife Güterwaggons standen auf der Wiese, eine angenehme, friedliche Stimmung herrschte an diesem Ort“, der wohlgemerkt ein Tatort ist. Doch wie bei der stillgelegten Kohlenrutsche hat auch hier ein Untergang stattgefunden, der nicht nur einen einzelnen Menschen betrifft, sondern eine ganze Gesellschaft: „Wie die Natur sich Menschenwerk zurückholte. Als Harris jung war, hatte er so etwas in Vietnam gesehen, in verlassenen Dschungeltempeln.“ Dass der Polizist, der die ganze Zeit neben ihm sitzt, ein Asiate im Kampfanzug ist, gibt dieser Reminiszenz eine leicht ironische Note. Doch man muss wohl schon ein Altersgenosse von Harris sein, um sie wahrzunehmen.
Lang, lang ist vieles hier her, ja das meiste eigentlich. „Rost“ erzählt von Menschen, die in Jonathan Franzens Roman „Freiheit“ nur am Rande abgefertigt werden, von einem provinziellen Amerika, dessen Fabriken und Arbeiter das Land einst zur Weltmacht gemacht haben. Philipp Meyer hat damit einen großen Roman zum langen Abschied von einer amerikanischen Lebensform geschrieben: „Er stand da, schaute in die Sonne auf dem langsam strömenden Fluss“, heißt es gegen Ende über Isaac. Das ist wohl der Fluss, in dem sich seine Mutter das Leben genommen hat, und doch nicht mehr derselbe: „Licht spiegelte sich in der Kathedralenkuppel und den Fenstern aller Häuser, ein paar Seeschwalben flogen los, hin zum offenen Wasser, und bald würde er wie sie sein, fort.“ Bald werden auch andere nicht mehr in Buell sein, sondern unterwegs. Und das ist von allen amerikanischen Lebensformen wohl die amerikanischste. ULRICH BARON
PHILIPP MEYER: Rost. Aus dem Englischen von Frank Heibert. Klett-Cotta, Stuttgart 2010. 464 Seiten, 22,95 Euro .
„Rost“ erzählt von Menschen, die
bei Jonathan Franzen nur
am Rande abgefertigt werden
Die Zeiten, als Stahlarbeiter pro Stunde dreißig Dollar kriegten, sind unwiderruflich vorbei. „Da wurde man doch nicht entlassen, wenn man gut in seinem Job war“, formuliert eine Figur in Philipp Meyers Roman „Rost“ den amerikanischen Traum von gestern. Das Bild zeigt ein verlassenes Stahlwerk im „Rostgürtel“. Meyer beschwört aber nicht zuletzt auch die Schönheit der Natur, die sich das Menschenwerk erobert.
Foto: Sean Hemmerle/ContactPressImages/Agentur Focus
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