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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.06.2000

Die Mission ist möglich
Der amerikanische Historiker David Kaiser analysiert im Detail, weshalb die GI-Generation den Vietnamkrieg begann
Eigentlich hätte es nie so kommen dürfen. Die Meinungsführer im amerikanischen Kongress, allen voran Mike Mansfield, waren dagegen, die Verbündeten, von Australien abgesehen, ebenfalls. Charles de Gaulle forderte ein „Neutralitätsmodell” für die von Ost und West begehrte Region und gab damit das Stichwort für Schlichtungsbemühungen der Uno unter Generalsekretär U Thant. In der New York Times oder in der Washington Post war von Rückzug die Rede, und der Kandidat der Republikanischen Partei, Barry Goldwater, blamierte sich bei den Präsidentschaftswahlen, weil er als Kriegstreiber galt. Überdies hatte Kassandra vorübergehend in Langley Quartier bezogen. Aus dem Hauptquartier der CIA wie anderer Geheimdienste kamen auffällig viele Warnungen vor einem Konflikt, in dem es kaum etwas zu gewinnen, aber viel zu verlieren gab. Dennoch standen die USA in den frühen sechziger Jahren am Vorabend des längsten Krieges ihrer Geschichte.
Warum dem so war, wer die Entscheidung zur Bombardierung Nordvietnams und schließlich zur Entsendung von Bodentruppen traf und wie dieser Beschluss in die Tat umgesetzt wurde, gehört zu jenen Kapiteln amerikanischer Zeitgeschichte, über die viel geschrieben und wenig nachgedacht wurde. David Kaiser, Historiker am Naval War College der US-Streitkräfte, hat nun eine minutiöse Rekonstruktion vorgelegt, ein Buch, dessen Faktenreichtum den Leser schier erdrückt. Dass es dennoch eine flüssige, mitunter spannende Lektüre ist, verdanken wir dem Mut des Autors zu pointierten Thesen.
Drei scheinen besonders bemerkenswert. Erstens arbeitet er schlüssig heraus, wie sich das Gravitationszentrum amerikanischer Politik seit den frühen 50er Jahren verlagerte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde eine Vielzahl von Apparaten, Diensten und Bürokratien geschaffen, die fernab von parlamentarischer Kontrolle die Grundlinien nationaler Sicherheitspolitik formulierten. Der Preis ihrer Abschottung bestand nicht zuletzt in einer dramatischen Verengung des intellektuellen Horizonts. Die vorgestellten Planspiele für Südostasien können als eine Art „institutionelles Gedächtnis” gelesen werden, aus dem die Erinnerung an Alternativen zur militärischen Intervention im Laufe der Jahre getilgt wurde. Als die Entscheidungen zu Vietnam anstanden, brachten nur noch Außenseiter und Einzelkämpfer wie Averell Harriman oder George Ball den Mut zum Widerspruch auf. Ihr Scheitern illustriert anschaulicher als alle Theorie die Dynamik und das Beharrungsvermögen des „National Security State”.
Zweitens greift Kaiser auf das Konzept der „politischen Generation” zurück, um die unter Kennedy und Johnson maßgeblichen Eliten zu charakterisieren. Zum größten Teil Seiteneinsteiger, hatten sie nicht die Ochsentour durch die Apparate gemacht und erwiesen sich doch als deren effektivste Sachwalter. Ein Paradox, das sich auflöst, sobald man nach biografischen Gemeinsamkeiten fragt. Robert McNamara, McGeorge und William Bundy, Dean Rusk, Maxwell Taylor oder die Brüder Rostow waren wie ihre weniger bekannten Kollegen zwischen 1910 und 1925 geboren und deuteten den Zweiten Weltkrieg als politisches Erweckungserlebnis. Den Kampf gegen totalitäre Tyrannei verstanden sie fortan als Mission, die Dritte Welt erschien als ein dem Zweiten Weltkrieg vergleichbarer Schauplatz im Ringen um Freiheit und Demokratie. Über das unerschütterliche Selbst- und Machtbewusstsein dieser „GI-Generation” ist viel geschrieben worden: dass das Wort „unmöglich” in ihrem Sprachschatz nicht vorkam, dass sie glaubte, jeden Tiger reiten zu können. Kaiser zeigt darüber hinaus eine nicht minder manische Kehrseite: die panische Angst vor dem Verlieren, vor der Blamage, sollte ihnen die Fortschreibung der im Zweiten Weltkrieg begonnenen Erfolgsgeschichte versagt bleiben. Diese Melange aus Phantasien der Allmacht und Ohnmacht ist ein Stoff, aus dem historische Tragödien gewebt sind.
Drittens betont Kaiser, dass die von der Verfassung eingeforderte Machtbalance nun mehr denn je vom Durchsetzungsvermögen des Präsidenten abhing. Um die „checks and balances” zu wahren, hätte es eines gleichermaßen standhaften wie im bürokratischen Kleinkrieg gewieften Mannes im Weißen Haus bedurft. John F. Kennedy war in Kaisers Augen ein solcher Politiker. Freilich können die zur Illustration dieser These bemühten Beispiele nicht immer überzeugen. Das Porträt Kennedys ist eine gravierende Schwachstelle des Buches, weil der Autor mehr seinen Gefühlen als den Fakten folgt. Lyndon B. Johnson hingegen ist leichter zu durchschauen als der ins Enigmatische verliebte Kennedy. Johnson verwarf seine Bedenken gegen eine Ausweitung des Krieges im Stil eines Mannes, der sich in einem unverdienten Amt beweisen will und glaubt, durch die Demonstration von Härte Statur zu gewinnen.
Das Zusammenspiel von alten Bürokraten, neuen Eliten und unerfahrenem Präsidenten führte 1964 binnen weniger Monate zu einer Art kumulativer Radikalisierung, wie Kaiser nicht zuletzt am Beispiel einer von William Bundy geleiteten Planungsgruppe zeigen kann. Selbst um das Risiko eines „großen Krieges” mit der VR China, den Einsatz von Atomwaffen eingeschlossen, war man zur Eskalation in Vietnam bereit. Kaiser datiert die Entscheidung auf das Frühjahr 1964 – früher als viele andere Historiker und mit überzeugenderen Argumenten. Dass es ein langer Krieg werden würde, zeichnete sich schon damals ab. Wer sich nämlich kaum Rechenschaft über Ziele ablegt, hat allen Grund zum Weitermachen, aber keinen zum Aufhören. Zumal wenn eine Generation das Kommando führt, die keine Welt jenseits von Sieg und Triumph kennt.
BERND GREINER
DAVID KAISER: American Tragedy. Kennedy, Johnson, and the Origins of the Vietnam War, Cambridge, Mass. , London: Belknap Press of Harvard University Press, 2000, 566 Seiten, $ 29,95.
Guerrillas in einem Boot – irgendwo in Süd-Vietnam
Foto: SZ-Archiv
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2000

Kriegstreibende Bürokraten
Die Ursachen des Vietnam-Krieges

David Kaiser: American Tragedy. Kennedy, Johnson and the Origins of the Vietnam War. Harvard University Press, Cambridge und London 2000. 566 Seiten, Abbildungen, 19,95 Pfund.

Kriege haben viele Ursachen. Das wußte schon Thukydides. Nun war der Vietnam-Krieg für die Amerikaner weder so lang noch so verheerend wie der Peloponnesische Krieg für die Athener. Trotzdem hat David Kaiser eine Ursachenanalyse des Vietnam-Krieges vorgelegt, in der sich der Vergleich zwischen den beiden unterschiedlichen Kriegen aufdrängt. Zum einen, weil jene vermeintlich kleine Auseinandersetzung am anderen Ende der Welt wie kaum ein anderes in der amerikanischen Geschichte zu einem traumatischen Ereignis wurde. Zum anderen, weil noch immer über die Ursachen eines Entscheidungsprozesses gerätselt wird, den Kaiser die größte Fehlentscheidung in der Außenpolitik der Vereinigten Staaten nennt.

Wer die Kriegsursachen verstehen will, sagt Kaiser, muß sich also an Thukydides orientieren und die langfristigen von den unmittelbaren Ursachen unterscheiden. Nun ist Kaiser nicht der erste Autor, der sich an einer Analyse der Politikprozesse vor dem eigentlichen Kriegsbeginn versucht. Aber niemand hat bisher nicht nur die zeitliche Perspektive, sondern auch die Verantwortung für den Krieg so pointiert verschoben. Nach seiner Ansicht wurden Mitte der fünfziger Jahre, während der Eisenhower-Administration, die politischen Grundlagen und langfristigen Voraussetzungen für den Krieg geschaffen.

Kaiser bietet eine minutiöse Rekonstruktion der Entscheidungsabläufe in Washington. Sie setzt mit der antikommunistischen Außen- und Sicherheitspolitik Eisenhowers ein und endet mit dem ersten Bodentruppeneinsatz 1965. Eine Flut von Gesprächsaufzeichnungen und deklassifizierten Pentagon-Dokumenten hat Kaiser in fast zehnjähriger Recherche ausgewertet, um die Genese eines Krieges freizulegen, der am Ende zum längsten in der amerikanischen Geschichte wurde und rund 60 000 GIs das Leben kostete.

Zwischen endlosen Fakten und Fußnoten entwickelt Kaiser zwei klare Thesen: Schon Eisenhower war es, und nicht erst Kennedy, der die Vorgaben für die Eskalation der militärischen Präsenz in Vietnam entwarf. Und Johnson war es, der jene Politik der fünfziger Jahre fortsetzte. Zweitens verschiebt Kaiser das Gewicht innerhalb der Entscheidungskette nach unten, zur Bürokratie und zu den Außen- und Sicherheitspolitik-Experten der amerikanischen Regierung. Diese waren seit Eisenhowers Regierungszeit darauf festgelegt, einer kommunistischen Aggression überall auf der Welt mit allen Mitteln entgegenzutreten, und sie überhäuften Johnson und Kennedy mit Plänen und Eingaben über ein baldiges militärisches Eingreifen.

Dabei entsteht ein Porträt von Kennedy, das folgender gängiger Lehrmeinung widerspricht: Kennedy als Falke in der Verkleidung einer Taube, als ein Präsident, der hinter der Fassade liberaler Innenpolitik stets ein aggressiver Außenpolitiker gewesen sein soll - von Anfang an dazu bereit, in Vietnam Krieg zu führen.

Kennedy ließ zwar das amerikanische Militärpersonal zwischen 1960 und 1963 kontinuierlich von 600 auf 17 500 Mann erhöhen. Jedoch stellt diese Entwicklung für Kaiser weniger den Beweis für Kennedys Kriegsintentionen dar, sondern vielmehr für einen "Kompromiß" zwischen dem zurückhaltenden, dem skeptischen Präsidenten und seiner kriegstreiberischen Bürokratie und einzelnen Kabinettsmitgliedern, die ganz im Sinne von Eisenhowers Politik vor 1961 eine direkte Intervention forderten.

Der Kennedy, den Kaiser präsentiert, ist kein Vertreter jener sich unbesiegbar glaubenden GI-Generation, die den Kampf um jeden Preis führen wollte. Statt dessen, so Kaiser, "werden wir wohl nie erfahren, was Kennedy getan hätte, wenn er eine zweite Amtszeit erlebt hätte, aber wir können sicher sein, daß der Vietnam-Krieg drei oder vier Jahre früher begonnen hätte, wäre Kennedy den Anweisungen seiner Untergebenen gefolgt".

Ganz anders erscheint dagegen der unerfahrene und wenig charismatische Johnson: Nie den kritischen Eingaben untergeordneter Berater folgend, hingegen auf den Spuren Eisenhowers dem Militär nahezu freien Lauf lassend, habe er sich ganz auf Kennedys langjährigen Weggefährten Robert McNamara verlassen.

So überzeugend Kaiser die Rolle der Bürokraten und neuen Eliten im politischen Entscheidungsprozeß darstellt und auch belegen kann, so sehr wird dennoch eine seiner Schlußfolgerungen zur großen Schwachstelle des Buches: daß nur Kennedy der richtige Mann war, um den Bürokraten und Kriegstreibern zu widerstehen. Denn nur selten gelingt es dem Autor, sein Kennedy-Bild mit Fakten zu unterlegen - statt dessen folgt er eher seinen persönlichen Ansichten. Denn allein der Wechsel im Weißen Haus änderte das Hauptziel der amerikanischen Politik nicht, den Süden Vietnams unbedingt gegen den kommunistischen Norden zu verteidigen. Nur die Mittel änderten sich mit der Zeit.

THOMAS SCHULZ

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