In Rillingsbach geht es gemächlich zu. Das weiß keiner besser als Wirtin Martha, die im örtlichen Gasthaus das Zepter fest in der Hand hält. Doch als sich ein junger Chronist unter die Stammgäste mischt und die Ordnung im Dorf auf den Kopf stellt, drängen tief vergrabene Erinnerungen an die Oberfläche, die bis zur amerikanischen Besatzungszeit zurückreichen.
Im Schippen, dem einzigen Gasthaus im schwäbischen Rillingsbach, hocken sie beisammen und lassen sich von Boiznerin Martha die Krüge füllen. Neben Martha, die den heruntergewirtschafteten Familienbetrieb mit Grazie dem Untergang entgegenführt, ist da noch Hilde, die Wilde, die einst auszog, um die Männer zu studieren. Außerdem Alfred mit seiner Leidenschaft für tote amerikanische Politiker und Frieder, den zwar keiner mag, mit dem aber jeder gern gesehen wird. An diesem Tag geht alles anders zu, denn ein junger Chronist sitzt mit den Alten im Schippen. Im gleichen Maß, wie das Misstrauen gegenüber dem Eindringlingschwindet, brechen Erinnerungen auf und nehmen im Gastraum Gestalt an. Übles tritt zutage, Verdecktes wird enthüllt, und die sonst so friedlichen Gemüter geraten in Rage. Und der Chronist? Der sitzt mit am Tisch und notiert, was notiert werden muss.
Im Schippen, dem einzigen Gasthaus im schwäbischen Rillingsbach, hocken sie beisammen und lassen sich von Boiznerin Martha die Krüge füllen. Neben Martha, die den heruntergewirtschafteten Familienbetrieb mit Grazie dem Untergang entgegenführt, ist da noch Hilde, die Wilde, die einst auszog, um die Männer zu studieren. Außerdem Alfred mit seiner Leidenschaft für tote amerikanische Politiker und Frieder, den zwar keiner mag, mit dem aber jeder gern gesehen wird. An diesem Tag geht alles anders zu, denn ein junger Chronist sitzt mit den Alten im Schippen. Im gleichen Maß, wie das Misstrauen gegenüber dem Eindringlingschwindet, brechen Erinnerungen auf und nehmen im Gastraum Gestalt an. Übles tritt zutage, Verdecktes wird enthüllt, und die sonst so friedlichen Gemüter geraten in Rage. Und der Chronist? Der sitzt mit am Tisch und notiert, was notiert werden muss.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.11.2018Spät und schräg
Kneipenprosa II: Kai Wieland schickt in seinem klugen, gewitzten Roman „Amerika“ einen jungen Chronisten ins Dorfgasthaus
„Information Control Division“ nannten die amerikanischen Besatzungstruppen ihre Propaganda- und Zensurabteilung in Deutschland nach dem Krieg. Informationskontrolle leisten alle Aufzeichnungs- und Distributionsmedien. Auch Romane, zumal historische und politische. Auch der vorliegende Romanerstling „Amerika“. Er speichert, filtert, sortiert, was an einem ganz und gar unscheinbaren Ort im schwäbischen Wald geredet wird. Und mehr als das: Genau diese Informationskontrolle durch literarisches Archivieren ist sein Thema. Und dann spielt noch die historisch reale Information Control Division eine wichtige Rolle. Nicht umsonst heißt er „Amerika“. Und noch etwas vorweg: Es ist ein überraschend kluger, gewitzter und zugleich von lebhaften, oft krassen Geschichten überquellender erster Roman eines jungen Autors vom Jahrgang 1989.
Diese Generation ist historisch bereits weit weg von Krieg und Nachkriegszeit. Selbst ihre Eltern zehren von den Geschichten der Vorgänger oder vom sich festigenden kulturellen Gedächtnis, den Aufzeichnungen, Dokumenten und Kommentaren. Aber was, wenn es diese nicht gibt? Wenn die Welt unbeschrieben ist? Eine Hinterwelt? So wie im Roman: ein Stück Vorgeschichte im tiefen deutschen (Märchen-)Wald. Wo Stimmen durcheinanderklingen. Wo Riesenzwerge an der Theke hocken und Legenden aus den Bierhumpen sprießen. Wo kein Aufschreibesystem arbeitet, kein Staat zu machen ist. Was dann? Genau in dieser Situation erscheint die Literatur auf dem Plan und macht buchstäblich Geschichte.
Ein sogenannter „Chronist“ kommt aus Gründen, die wir nicht kennen, in das schwäbisches Dorf Rillingsbach, das er nicht kennt, setzt sich in die Ortskneipe zu genau vier übrig gebliebenen alten Leutchen, schreibt auf, was sie sagen, bevor das Dorf ausstirbt und die Geschichten verschwinden. Er fragt nicht groß. Er sitzt da wie ein Aufzeichnungsgerät und notiert. Warum tut er das? Es gibt nicht den kleinsten psychologischen Hinweis. Diese Frage lässt sich nur über ihre starke Verallgemeinerung beantworten: Weil sich auf diese Weise zeigen lässt, wie Erinnerung überhaupt entsteht, wie sie gemacht wird, wie ein Gedächtnis sich ausbildet. Man könnte auch sagen, weil hier die Geschichtsmächtigkeit der Schrift eine regionale, nur noch mündliche Kultur erfasst.
Das eben ist die Aufgabe des Chronisten, der damit der Hegel’sche Held der Geschichte wäre, der aus Stämmen und Mythen Staat und Weltgeschichte macht.
Martha, Frieder, Hilde und Alfred sitzen vor ihren Gläsern in der Dorfkneipe, dem „Schippen“. Und ihr Geschichtenreigen, eher zäh ausgespuckt als freiheraus fabuliert, beginnt gleich mit einem Knaller. Da ist Hildes Vater, der verrückte Gewaltmensch Erwin, der als Kopfschlachter arbeitet und mit seinen Ausbeinmessern ins Bett und in die Kneipe geht. Dort droht er dem lustige Naturlieder singenden Ex-SS-Mann Wilhelm, dem Vater von Frieder, mit dem Tod, weil das feige Schwein es sich zu Hause habe gut gehen lassen, während die anderen, wie Erwin selbst, an der Front ihr Leben ruiniert hätten.
Kurz darauf, so heißt es, vergreift sich Erwin an der jungen Wirtstochter Martha, wird erwischt von ihrem Vater und liegt bald schon mit einem Riesenloch an der Stelle seines „Schandmauls“ in der Scheune, das Gehirn ein Stück daneben. Dieses Geschehen, so will es das Schicksal, so erzählt es die Kneipe, hält wiederum den inzwischen verwahrlosten Oberscharführer Wilhelm vom Selbstmord ab. Er stand schon auf dem Fenstersims, als Marthas Entsetzensschrei ob Erwins Anblick sich durch das ganze Dorf fraß.
Das ist ein Auftakt wie ein Schlag in die Magengrube. Mit trockenem, leicht sarkastischem Humor vorgetragen. Wie alle Episoden mal im Berichtston, als ob die Erzählung vom Chronisten stammte, dann wieder durchaus räsonierend und spekulierend und den Chronisten selbst mit umfassend, sodass sich ein unzuverlässiger Erzähler immer breiter macht. Dieser Erzähler steuert den Chronisten als eine nüchterne Figur durch den Roman, lässt ihn gewissermaßen die empirische Schwerarbeit machen.
Alles im schmalen „Schippen“. Er zeichnet auf, archiviert und ordnet. Der Erzähler baut daraus dann einen komplexen geschichtlichen und psychologischen Raum, sodass das Archiv zu atmen beginnt. Es bewegt sich erst unbeholfen wie Frankensteins Kreatur nach der Kunstgeburt, dann öffnen sich nach und nach die persönlichen, sozialen, regionalen und geschichtlichen Welten im Rücken der leidenschaftlich animierten Kneipenbewohner.
Es folgen die Erzählungen der anderen Trinker, und alle sind sie in der Elterngeneration zentriert, also in Kriegs- und Nachkriegszeit. Selbst Hildes schwäbische Hippie- und Wanderhuren-Karriere in den freizügigen Siebzigerjahren nimmt ihren Ausgang von den amerikanischen Besatzungssoldaten bei Heilbronn. Und die kleine Martha, das Kneipenmädchen, wird unauslöschlich geprägt von einem Büchlein aus Zeitungspapier, das ihr ein bewaffneter GI in die Hand drückt, während ein anderer das ganze Dorf antreten lässt, um ihm die Leviten zu lesen und einen Maibaum mit US-Flagge aufzurichten.
Das Büchlein, so erfährt man später, war von Ernest Hemingway. Und dem ansonsten still ins Glas stierenden Alfred fällt irgendwann ein, oder er stellt sich vor, dass ihn seine US-Passion über den Atlantik getrieben habe, wo er mit seiner darob schwer genervten Frau ausschließlich Schauplätze der Ermordung berühmter Persönlichkeiten aufsuchte, also von Martin Luther King, Medgar Evers, John F. und Robert Kennedy, John Lennon und anderen.
Das ist morbide und komisch und voller Hintersinn erzählt, wie jede der anekdotisch aufbereiteten Roman-Episoden. So hat fast jede Figur im Roman selbst versucht, wenn auch vergeblich, sich der geschichtsmächtigen Konstellation von Staat und Schrift selbst einzuschreiben. Der Nazi-Lehrer von Rillingsbach hatte sich in den Nazi-Dichter Schattenbach verguckt und ihn eine Woche in der Schule zu Gast. Eins seiner Gedichte geistert in Zitaten durch den ganzen Roman, eins mit Micky Maus (!) im deutschen Wald. Erwins Frau arbeitete als Bibliothekarin im Amerikahaus im nahen Provinzstädtchen Murrhardt. Die Hemingway-Martha zieht es unwiderstehlich ebendahin, bis sie selbst beginnt, über ihr Leben zu schreiben. Und die wilde Hilde hat es gar zu einem eigenen Buch gebracht, mit dem Titel „Hintergrundrauschen“, was ziemlich genau die informationelle Situation in einer vor Stimmen summenden Kneipe bezeichnet.
„Und wie oft“, heißt es, „war Alfred dort, wo Geschichte geschrieben wurde“, von den ersten Panzern in Rillingsdorf bis hin zum Balkon des Lorraine Motels in Memphis, Tennessee, wo Martin Luther King starb. Alle wollen sie zur Schrift und ans Licht der Geschichte, vergeblich, bis der Chronist kommt.
Morbide, abgründig, komisch. Es gibt ein auffälliges literarisches Interesse an der deutschen Nachkriegszeit. Der junge Kai Wieland ist mit seiner bittersüßen Mischung aus anekdotischer Konkretheit und abstrakt-reflexivem Bauplan nahe an Frank Witzels monumentalem Nachkriegs-Roman „Direkt danach und kurz davor“, weniger verrätselt, aber dem Unheimlichen und dem Unabgegoltenen der Zeit auf der Spur.
In Uwe Timms kürzlich erschienenem Stunde-null-Roman „Ikarien“ hat das Unheimliche eine feste historische Gestalt: die eugenische Praxis der Nazis, die einer sachlichen amerikanischen Besatzerperspektive ausgesetzt ist. Bei Witzel und Wieland ist das Unheimliche hingegen eine verzerrende Gewalt. Bei Wieland darüber hinaus auch noch ein bisschen lustig. Er zeigt uns die Instrumente (der Aufzeichnung und bisherigen Darstellungen) aus einer entkrampfenden Ferne, und er kann das, weil er eben nicht „direkt danach“ ist, sondern spät und schräg daneben. Sieht er mehr oder besser? Er sieht anderes und anders. Und bei aller Beschwörung der altdeutschen Echtholztheken, er sieht auch sehr heutig.
HUBERT WINKELS
Die Erzählungen der Trinker
kreisen um den Krieg und die
Nachkriegszeit
Bittersüß ist die Mischung aus
anekdotischer Konkretheit und
abstrakt-reflexivem Bauplan
Kai Wieland: Amerika.
Roman. Klett-Cotta,
Stuttgart 2018.
240 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Kneipenprosa II: Kai Wieland schickt in seinem klugen, gewitzten Roman „Amerika“ einen jungen Chronisten ins Dorfgasthaus
„Information Control Division“ nannten die amerikanischen Besatzungstruppen ihre Propaganda- und Zensurabteilung in Deutschland nach dem Krieg. Informationskontrolle leisten alle Aufzeichnungs- und Distributionsmedien. Auch Romane, zumal historische und politische. Auch der vorliegende Romanerstling „Amerika“. Er speichert, filtert, sortiert, was an einem ganz und gar unscheinbaren Ort im schwäbischen Wald geredet wird. Und mehr als das: Genau diese Informationskontrolle durch literarisches Archivieren ist sein Thema. Und dann spielt noch die historisch reale Information Control Division eine wichtige Rolle. Nicht umsonst heißt er „Amerika“. Und noch etwas vorweg: Es ist ein überraschend kluger, gewitzter und zugleich von lebhaften, oft krassen Geschichten überquellender erster Roman eines jungen Autors vom Jahrgang 1989.
Diese Generation ist historisch bereits weit weg von Krieg und Nachkriegszeit. Selbst ihre Eltern zehren von den Geschichten der Vorgänger oder vom sich festigenden kulturellen Gedächtnis, den Aufzeichnungen, Dokumenten und Kommentaren. Aber was, wenn es diese nicht gibt? Wenn die Welt unbeschrieben ist? Eine Hinterwelt? So wie im Roman: ein Stück Vorgeschichte im tiefen deutschen (Märchen-)Wald. Wo Stimmen durcheinanderklingen. Wo Riesenzwerge an der Theke hocken und Legenden aus den Bierhumpen sprießen. Wo kein Aufschreibesystem arbeitet, kein Staat zu machen ist. Was dann? Genau in dieser Situation erscheint die Literatur auf dem Plan und macht buchstäblich Geschichte.
Ein sogenannter „Chronist“ kommt aus Gründen, die wir nicht kennen, in das schwäbisches Dorf Rillingsbach, das er nicht kennt, setzt sich in die Ortskneipe zu genau vier übrig gebliebenen alten Leutchen, schreibt auf, was sie sagen, bevor das Dorf ausstirbt und die Geschichten verschwinden. Er fragt nicht groß. Er sitzt da wie ein Aufzeichnungsgerät und notiert. Warum tut er das? Es gibt nicht den kleinsten psychologischen Hinweis. Diese Frage lässt sich nur über ihre starke Verallgemeinerung beantworten: Weil sich auf diese Weise zeigen lässt, wie Erinnerung überhaupt entsteht, wie sie gemacht wird, wie ein Gedächtnis sich ausbildet. Man könnte auch sagen, weil hier die Geschichtsmächtigkeit der Schrift eine regionale, nur noch mündliche Kultur erfasst.
Das eben ist die Aufgabe des Chronisten, der damit der Hegel’sche Held der Geschichte wäre, der aus Stämmen und Mythen Staat und Weltgeschichte macht.
Martha, Frieder, Hilde und Alfred sitzen vor ihren Gläsern in der Dorfkneipe, dem „Schippen“. Und ihr Geschichtenreigen, eher zäh ausgespuckt als freiheraus fabuliert, beginnt gleich mit einem Knaller. Da ist Hildes Vater, der verrückte Gewaltmensch Erwin, der als Kopfschlachter arbeitet und mit seinen Ausbeinmessern ins Bett und in die Kneipe geht. Dort droht er dem lustige Naturlieder singenden Ex-SS-Mann Wilhelm, dem Vater von Frieder, mit dem Tod, weil das feige Schwein es sich zu Hause habe gut gehen lassen, während die anderen, wie Erwin selbst, an der Front ihr Leben ruiniert hätten.
Kurz darauf, so heißt es, vergreift sich Erwin an der jungen Wirtstochter Martha, wird erwischt von ihrem Vater und liegt bald schon mit einem Riesenloch an der Stelle seines „Schandmauls“ in der Scheune, das Gehirn ein Stück daneben. Dieses Geschehen, so will es das Schicksal, so erzählt es die Kneipe, hält wiederum den inzwischen verwahrlosten Oberscharführer Wilhelm vom Selbstmord ab. Er stand schon auf dem Fenstersims, als Marthas Entsetzensschrei ob Erwins Anblick sich durch das ganze Dorf fraß.
Das ist ein Auftakt wie ein Schlag in die Magengrube. Mit trockenem, leicht sarkastischem Humor vorgetragen. Wie alle Episoden mal im Berichtston, als ob die Erzählung vom Chronisten stammte, dann wieder durchaus räsonierend und spekulierend und den Chronisten selbst mit umfassend, sodass sich ein unzuverlässiger Erzähler immer breiter macht. Dieser Erzähler steuert den Chronisten als eine nüchterne Figur durch den Roman, lässt ihn gewissermaßen die empirische Schwerarbeit machen.
Alles im schmalen „Schippen“. Er zeichnet auf, archiviert und ordnet. Der Erzähler baut daraus dann einen komplexen geschichtlichen und psychologischen Raum, sodass das Archiv zu atmen beginnt. Es bewegt sich erst unbeholfen wie Frankensteins Kreatur nach der Kunstgeburt, dann öffnen sich nach und nach die persönlichen, sozialen, regionalen und geschichtlichen Welten im Rücken der leidenschaftlich animierten Kneipenbewohner.
Es folgen die Erzählungen der anderen Trinker, und alle sind sie in der Elterngeneration zentriert, also in Kriegs- und Nachkriegszeit. Selbst Hildes schwäbische Hippie- und Wanderhuren-Karriere in den freizügigen Siebzigerjahren nimmt ihren Ausgang von den amerikanischen Besatzungssoldaten bei Heilbronn. Und die kleine Martha, das Kneipenmädchen, wird unauslöschlich geprägt von einem Büchlein aus Zeitungspapier, das ihr ein bewaffneter GI in die Hand drückt, während ein anderer das ganze Dorf antreten lässt, um ihm die Leviten zu lesen und einen Maibaum mit US-Flagge aufzurichten.
Das Büchlein, so erfährt man später, war von Ernest Hemingway. Und dem ansonsten still ins Glas stierenden Alfred fällt irgendwann ein, oder er stellt sich vor, dass ihn seine US-Passion über den Atlantik getrieben habe, wo er mit seiner darob schwer genervten Frau ausschließlich Schauplätze der Ermordung berühmter Persönlichkeiten aufsuchte, also von Martin Luther King, Medgar Evers, John F. und Robert Kennedy, John Lennon und anderen.
Das ist morbide und komisch und voller Hintersinn erzählt, wie jede der anekdotisch aufbereiteten Roman-Episoden. So hat fast jede Figur im Roman selbst versucht, wenn auch vergeblich, sich der geschichtsmächtigen Konstellation von Staat und Schrift selbst einzuschreiben. Der Nazi-Lehrer von Rillingsbach hatte sich in den Nazi-Dichter Schattenbach verguckt und ihn eine Woche in der Schule zu Gast. Eins seiner Gedichte geistert in Zitaten durch den ganzen Roman, eins mit Micky Maus (!) im deutschen Wald. Erwins Frau arbeitete als Bibliothekarin im Amerikahaus im nahen Provinzstädtchen Murrhardt. Die Hemingway-Martha zieht es unwiderstehlich ebendahin, bis sie selbst beginnt, über ihr Leben zu schreiben. Und die wilde Hilde hat es gar zu einem eigenen Buch gebracht, mit dem Titel „Hintergrundrauschen“, was ziemlich genau die informationelle Situation in einer vor Stimmen summenden Kneipe bezeichnet.
„Und wie oft“, heißt es, „war Alfred dort, wo Geschichte geschrieben wurde“, von den ersten Panzern in Rillingsdorf bis hin zum Balkon des Lorraine Motels in Memphis, Tennessee, wo Martin Luther King starb. Alle wollen sie zur Schrift und ans Licht der Geschichte, vergeblich, bis der Chronist kommt.
Morbide, abgründig, komisch. Es gibt ein auffälliges literarisches Interesse an der deutschen Nachkriegszeit. Der junge Kai Wieland ist mit seiner bittersüßen Mischung aus anekdotischer Konkretheit und abstrakt-reflexivem Bauplan nahe an Frank Witzels monumentalem Nachkriegs-Roman „Direkt danach und kurz davor“, weniger verrätselt, aber dem Unheimlichen und dem Unabgegoltenen der Zeit auf der Spur.
In Uwe Timms kürzlich erschienenem Stunde-null-Roman „Ikarien“ hat das Unheimliche eine feste historische Gestalt: die eugenische Praxis der Nazis, die einer sachlichen amerikanischen Besatzerperspektive ausgesetzt ist. Bei Witzel und Wieland ist das Unheimliche hingegen eine verzerrende Gewalt. Bei Wieland darüber hinaus auch noch ein bisschen lustig. Er zeigt uns die Instrumente (der Aufzeichnung und bisherigen Darstellungen) aus einer entkrampfenden Ferne, und er kann das, weil er eben nicht „direkt danach“ ist, sondern spät und schräg daneben. Sieht er mehr oder besser? Er sieht anderes und anders. Und bei aller Beschwörung der altdeutschen Echtholztheken, er sieht auch sehr heutig.
HUBERT WINKELS
Die Erzählungen der Trinker
kreisen um den Krieg und die
Nachkriegszeit
Bittersüß ist die Mischung aus
anekdotischer Konkretheit und
abstrakt-reflexivem Bauplan
Kai Wieland: Amerika.
Roman. Klett-Cotta,
Stuttgart 2018.
240 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Ein überzeugendes Debüt eines vielversprechenden jungen Autors.« Ralph Gerstenberg, Deutschlandfunk - Büchermarkt, 21.05.2019 »Sein Thema ist die Widersprüchlichkeit von Erinnerungen, gemessen an realen Geschehnissen und er nutzt das Potenzial der Sprache, seiner Geschichte eine ganz eigene Dynamik zu verleihen - unaufgeregt und alltäglich auf der einen Seite, facettenreich znd fesselnd auf der anderen.« Marisa Sass-Baitis, Stuttgarter Wochenblatt, 17.04.2019 » [Ein] von stiller Heiterkeit und skurrilem Witz getragene[r] Heimatroman« Andreas Kohm, Mannheimer Morgen, 11.01.2019 »Ein überraschend kluger, gewitzter und zugleich von lebhaften, oft krassen Geschichten überquellender erster Roman eines jungen Autors [...] Morbide, abgründig, komisch.« Hubert Winkels, Süddeutsche Zeitung, 19.11.2018 »Ein beeindruckendes Buch eines hoffnungsvollen Talents: Seitenweiser Nachschlag ist hier unbedingt erwünscht!« Diana Wieser, Blog: Schreibelust-Leselust, 16.11.2018 »"Amerika", das in Sachen Erinnerung möglicherweise in Patrick Modiano ein großes Vorbild hat, ist ein reiches und reifes Buch, das für die Leser eine Fülle an Überraschungen bereithält.« Erik Lim, Südwest Presse, 09.10.2018 »Mit "Amerika" ist den digitalen Scouts ein kapitaler Fang ins Netz gegangen. Er spricht allen Vorurteilen Hohn, bei dem, was jenseits der bewährten Kanäle hereindringt, müsse es sich notwendig um Leichtgewichtiges handeln.« Stefan Kister, Stuttgarter Zeitung, 27.09.2018 »Um die Zukunft der deutschsprachigen Literatur muss niemand fürchten, solange es Schriftsteller wie Kai Wieland gibt. Ein preiswürdiger Debütroman.« Gérard Otremba, sounds & books, 02.10.2018 »Kai Wieland hat mit "Amerika" einen bemerkenswerten Roman vorgelegt.« Ingrid Knack, Backnanger Kreiszeitung, 19.09.2018