Mit Frank Kelleters Buch liegt die bislang gründlichste Einzeluntersuchung zur nordamerikanischen Aufklärung und die erste Diskursanalyse des aufgeklärten Vernunftbegriffes insgesamt vor. Auf der Grundlage einer umfassenden Definition des rationalen Projektes der Aufklärung zeigt Kelleter, welche Sprach- und Handlungspraktiken im 18. Jahrhundert zur Ausbildung eines spezifisch amerikanischen Rationalitätsverständnisses beitrugen.
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Frankfurter Allgemeine ZeitungGanz schön rational damals
Frank Kelleters Neuinterpretation der amerikanischen Aufklärung
Wer an die politische Sprache Amerikas denkt, dem wird das Merkmal der "Rationalität" gegenwärtig wohl nicht zuerst einfallen. Nicht erst seit Bush junior und nicht erst seit dem "11. September" ist der offizielle politische Diskurs der Vereinigten Staaten, zumal die Rhetorik der Präsidenten, aus europäischer Sicht alles andere als nüchtern-vernunftorientiert, vielmehr manichäisch und missionarisch, zivilreligiös und pathetisch. Mit Links-rechts-Schemata hat das nur sehr bedingt etwas zu tun; Reagan und Bush unterscheiden sich darin nicht grundsätzlich von Kennedy und Carter.
Doch zum Glück gibt es das achtzehnte Jahrhundert und die "Founding Fathers" - zum Glück für Amerika wie für die an Amerika zu verzweifeln drohenden Europäer. Die politische Literatur der amerikanischen Revolutionszeit, vom kolonialen Protest über die Unabhängigkeitsbewegung bis zur Begründung der nationalen Republik, stellt noch immer eine schier unerschöpfliche Ressource für heutige Forscher, für heutiges Nachdenken über Amerika dar: Idealismus, Pathos und religiöse Fundierung waren dieser Generation wahrlich nicht fremd, aber vor allem beeindruckt die kühle, oft geradezu szientifische Rationalität, mit der diese Politiker und Intellektuellen um John Adams und Thomas Jefferson, Thomas Paine und Patrick Henry, Alexander Hamilton und James Madison eine neue Staatsordnung entwarfen und begründeten - eine Staatsordnung, die mehr sein sollte als ein neues Institutionengeflecht, die deshalb eine neue Gesellschaft und neue Anthropologie mit einschloß.
Das alles ist bis in die jüngste Zeit ebenso häufig beschrieben worden - gelehrt oder unterhaltsam, theoretisch oder anschaulich -, wie über die ideologischen Wurzeln des revolutionären Denkens und der amerikanischen "new science of politics" (Gordon Wood) gestritten wurde. Es liegt freilich einige Zeit zurück, daß die Forschung dabei zum letzten Mal wirklich neue Horizonte erschlossen hat: nämlich mit dem Streit zwischen der "republikanischen" und der "liberalen" Deutung der Revolution in den siebziger und achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Im Moment herrscht eine Phase vor, die der Wissenschaftsphilosoph Thomas Kuhn als "Normalwissenschaft" kennzeichnen würde. Man wartet gespannt darauf, welchem Autor, welchem Buch es gelingt, diese Innovationsschwelle zu überschreiten und eine neue Deutung der revolutionären Politik und Ideologie im späten achtzehnten Jahrhundert vorzulegen, die produktiv und spannungsreich auf die Krise und die Neudefinition Amerikas am Beginn unseres Jahrhunderts bezogen ist.
Vielleicht als eine Rekonstruktion der kulturellen Rationalität Amerikas im Zeichen der gegenwärtigen Verunsicherung? Frank Kelleter jedenfalls hat sich für seine Untersuchung der amerikanischen Aufklärung ein anspruchsvolles Ziel gesetzt. In seiner Mainzer Habilitationsschrift versucht der Literaturwissenschaftler und Amerikanist eine umfassende Neuinterpretation politischer Diskurse im neunzehnten Jahrhundert, die um die Leitidee einer "amerikanischen Aufklärung" herum organisiert ist. Damit ist nicht nur eine spezifische Ausprägung der Aufklärung als einer von Europa übernommenen kulturell-politischen Bewegung gemeint, sondern zugleich die systematische Frage nach der Entfaltung von Vernunftpotentialen in der politischen Rede, in der kommunikativen Praxis der britischen Kolonien und der jungen Vereinigten Staaten. Kelleter verknüpft historische, textkritische und systematische Erklärungsansprüche; auf ungewöhnlich breite Weise legt er seine Studie als interdisziplinäre Synthese im Schnittfeld von Literaturwissenschaft, Philosophie und Geschichte an. Er will das achtzehnte Jahrhundert erklären und daraus Material für eine Theorie der Rationalität ebenso wie für eine "Theorie der Moderne" gewinnen.
In vier Teilen nähert sich Kelleter seiner großen Aufgabe an. Die ersten Kapitel, knapp zweihundert Seiten, entwickeln einen systematischen Vorgriff auf das "Projekt der Aufklärung" und auf philosophische Theorien der Vernunft zwischen Locke und Hume einerseits, Habermas und Foucault andererseits. Die sensualistische Begründung der Vernunft in der angelsächsischen Tradition wird dabei hervorgehoben; Aufklärung rehabilitiert die Sinnlichkeit und rationalisiert das Wunderbare, schafft es aber nicht ab. Dieser Begriff einer sinnlich-religiösen Aufklärung wird mit der Habermasschen Kommunikationstheorie der Vernunft zu amalgamieren versucht: Die amerikanische Aufklärung im achtzehnten Jahrhundert zeichnete sich demnach durch spezifische Sprachpraktiken aus, die einer diskursiven Entfaltung von Rationalitäten im Vollzug von Politik, Religion oder Literatur Raum gaben.
Die sinnliche Dimension der Aufklärung greift der zweite, in vieler Hinsicht originellste Teil des Buches auf, der die protestantische Erweckungstheologie des frühen und mittleren achtzehnten Jahrhunderts in den britischen Kolonien analysiert. Dieses "Great Awakening" war zugleich eine dynamische soziale Bewegung, die den erstarrten neuenglischen Calvinismus ebenso wie (etwas später) die anglikanische Kirche in den südlichen Kolonien durcheinanderwirbelte und dabei Hierarchien aufbrach, so daß die neue Frömmigkeitskultur zugleich zur Vorbotin revolutionärer Mobilisierung werden konnte.
Jonathan Edwards, den berühmten theologischen Protagonisten dieser Bewegung in Neuengland, rückt Kelleter in den Mittelpunkt; er wird gewissermaßen zum Ur-Helden der amerikanischen Aufklärung, was wiederum nur unter der Prämisse funktioniert, daß die Aufklärung (mit Panajotis Kondylis) als Abkehr vom "cartesianischen Rationalismus" zu verstehen sei. Mystik und Pietismus, der Appell der Erwecker an sinnliche Erfahrung, werden dann zu Wurzeln einer neuen Rationalität. Diese These freilich scheint überzogen, auch wenn sich Elemente des "Great Awakening" ein Jahrhundert später im amerikanischen Transzendentalismus eines Emerson oder Thoreau durchaus wiederfanden. Unbestreitbar dagegen ist, daß das "Great Awakening" neue Kommunikationsräume eröffnete und weitere soziale Schichten in eine Sphäre der praktischen Öffentlichkeit einbezog.
Der dritte und umfangreichste Teil ist weitaus konventioneller geraten. Hier arbeitet sich Kelleter noch einmal durch die Stufen der Amerikanischen Revolution und ihrer politischen Debatten zwischen den sechziger und neunziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts hindurch: Locke und die "Commonwealthmen", Föderalisten und Antiföderalisten, schließlich die frühe Republik zwischen Französischer Revolution und neuem amerikanischen Nationalismus. Zu ausgedehnt sind die "Forschungsberichte" und Selbstvergewisserungen des Autors, zu unscharf ist die Richtung der Argumentation. Der Zusammenhalt mit den beiden ersten Teilen geht über weite Strecken verloren.
Im Zeitalter "postkolonialer" Historiographie konnte das Buch mit der Untersuchung jener herrschenden Diskurse nicht enden, die im Laufe von drei Jahrzehnten von der kolonialen Peripherie Britanniens in das nationale Zentrum Amerikas gerückt waren. Im vierten und letzten Teil des Buches widmet sich Kelleter daher den "differenten Rationalitäten" im Diskurs jener Gruppen, denen von den Verfassungsvätern höchstens ein marginaler Platz in der Republik zuerkannt worden war: der Indianer, der afroamerikanischen Sklaven und der Frauen. Der identitätspolitische Widerstand dieser Gruppen, so Kelleter, wurde jedoch erfolgreich "amerikanisiert", indem sich auch die Ausgegrenzten auf den versprochenen Universalismus Amerikas berufen konnten. So führt Kelleter am Ende die Vielheit der Stimmen wieder auf die Einheit der Vernunft zurück.
Nicht erst am Ende des Buches findet sich der Rezensent ein wenig ratlos wieder. Kaum vermeidbar ist das Fazit: Der Autor ist an der übergroßen Bürde des Stoffes und der Erklärungsansprüche, die er sich aufgeladen hat, gescheitert. Er wollte zuviel auf einmal, und auf eine fatale Weise wollte er sich nicht festlegen: Die Position Kelleters nämlich in der Debatte um Aufklärung und Vernunft bleibt bis zum Schluß rätselhaft. Wenn amerikanische Aufklärung - so die Bilanz des letzten Teils - "vor allem (!) in den Lebenserzählungen von Sklaven oder den romantischen Fiktionen bürgerlicher Hausfrauen" stattfand, wozu dann sechshundert Seiten über Jonathan Edwards und die "Founding Fathers"? Und wie paßt dazu die These vom antiintellektualistischen, pietistisch-religiösen Charakter amerikanischer Rationalität?
Eine zweite Brücke, die sich als nicht tragfähig erweist, ist die vom achtzehnten Jahrhundert in die Gegenwart. Solche Brücken sind nicht prinzipiell unmöglich, aber anders als Habermas oder Foucault, die Kelleter mit seiner eigenen "Theorie der Moderne" noch überbieten will, gelingt es ihm nicht, historisches Material in systematische Erkenntnisse zu übersetzen. Die Gegenwartsanalyse bleibt bestenfalls blaß, zum gegenwärtigen Amerika hat sie nichts zu sagen. Auf eine innovative und zeitgemäße Deutung der Revolution müssen wir deshalb weiter warten.
PAUL NOLTE
Frank Kelleter: "Amerikanische Aufklärung". Sprachen der Rationalität im Zeitalter der Revolution. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2002. 852 S., geb., 116,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frank Kelleters Neuinterpretation der amerikanischen Aufklärung
Wer an die politische Sprache Amerikas denkt, dem wird das Merkmal der "Rationalität" gegenwärtig wohl nicht zuerst einfallen. Nicht erst seit Bush junior und nicht erst seit dem "11. September" ist der offizielle politische Diskurs der Vereinigten Staaten, zumal die Rhetorik der Präsidenten, aus europäischer Sicht alles andere als nüchtern-vernunftorientiert, vielmehr manichäisch und missionarisch, zivilreligiös und pathetisch. Mit Links-rechts-Schemata hat das nur sehr bedingt etwas zu tun; Reagan und Bush unterscheiden sich darin nicht grundsätzlich von Kennedy und Carter.
Doch zum Glück gibt es das achtzehnte Jahrhundert und die "Founding Fathers" - zum Glück für Amerika wie für die an Amerika zu verzweifeln drohenden Europäer. Die politische Literatur der amerikanischen Revolutionszeit, vom kolonialen Protest über die Unabhängigkeitsbewegung bis zur Begründung der nationalen Republik, stellt noch immer eine schier unerschöpfliche Ressource für heutige Forscher, für heutiges Nachdenken über Amerika dar: Idealismus, Pathos und religiöse Fundierung waren dieser Generation wahrlich nicht fremd, aber vor allem beeindruckt die kühle, oft geradezu szientifische Rationalität, mit der diese Politiker und Intellektuellen um John Adams und Thomas Jefferson, Thomas Paine und Patrick Henry, Alexander Hamilton und James Madison eine neue Staatsordnung entwarfen und begründeten - eine Staatsordnung, die mehr sein sollte als ein neues Institutionengeflecht, die deshalb eine neue Gesellschaft und neue Anthropologie mit einschloß.
Das alles ist bis in die jüngste Zeit ebenso häufig beschrieben worden - gelehrt oder unterhaltsam, theoretisch oder anschaulich -, wie über die ideologischen Wurzeln des revolutionären Denkens und der amerikanischen "new science of politics" (Gordon Wood) gestritten wurde. Es liegt freilich einige Zeit zurück, daß die Forschung dabei zum letzten Mal wirklich neue Horizonte erschlossen hat: nämlich mit dem Streit zwischen der "republikanischen" und der "liberalen" Deutung der Revolution in den siebziger und achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Im Moment herrscht eine Phase vor, die der Wissenschaftsphilosoph Thomas Kuhn als "Normalwissenschaft" kennzeichnen würde. Man wartet gespannt darauf, welchem Autor, welchem Buch es gelingt, diese Innovationsschwelle zu überschreiten und eine neue Deutung der revolutionären Politik und Ideologie im späten achtzehnten Jahrhundert vorzulegen, die produktiv und spannungsreich auf die Krise und die Neudefinition Amerikas am Beginn unseres Jahrhunderts bezogen ist.
Vielleicht als eine Rekonstruktion der kulturellen Rationalität Amerikas im Zeichen der gegenwärtigen Verunsicherung? Frank Kelleter jedenfalls hat sich für seine Untersuchung der amerikanischen Aufklärung ein anspruchsvolles Ziel gesetzt. In seiner Mainzer Habilitationsschrift versucht der Literaturwissenschaftler und Amerikanist eine umfassende Neuinterpretation politischer Diskurse im neunzehnten Jahrhundert, die um die Leitidee einer "amerikanischen Aufklärung" herum organisiert ist. Damit ist nicht nur eine spezifische Ausprägung der Aufklärung als einer von Europa übernommenen kulturell-politischen Bewegung gemeint, sondern zugleich die systematische Frage nach der Entfaltung von Vernunftpotentialen in der politischen Rede, in der kommunikativen Praxis der britischen Kolonien und der jungen Vereinigten Staaten. Kelleter verknüpft historische, textkritische und systematische Erklärungsansprüche; auf ungewöhnlich breite Weise legt er seine Studie als interdisziplinäre Synthese im Schnittfeld von Literaturwissenschaft, Philosophie und Geschichte an. Er will das achtzehnte Jahrhundert erklären und daraus Material für eine Theorie der Rationalität ebenso wie für eine "Theorie der Moderne" gewinnen.
In vier Teilen nähert sich Kelleter seiner großen Aufgabe an. Die ersten Kapitel, knapp zweihundert Seiten, entwickeln einen systematischen Vorgriff auf das "Projekt der Aufklärung" und auf philosophische Theorien der Vernunft zwischen Locke und Hume einerseits, Habermas und Foucault andererseits. Die sensualistische Begründung der Vernunft in der angelsächsischen Tradition wird dabei hervorgehoben; Aufklärung rehabilitiert die Sinnlichkeit und rationalisiert das Wunderbare, schafft es aber nicht ab. Dieser Begriff einer sinnlich-religiösen Aufklärung wird mit der Habermasschen Kommunikationstheorie der Vernunft zu amalgamieren versucht: Die amerikanische Aufklärung im achtzehnten Jahrhundert zeichnete sich demnach durch spezifische Sprachpraktiken aus, die einer diskursiven Entfaltung von Rationalitäten im Vollzug von Politik, Religion oder Literatur Raum gaben.
Die sinnliche Dimension der Aufklärung greift der zweite, in vieler Hinsicht originellste Teil des Buches auf, der die protestantische Erweckungstheologie des frühen und mittleren achtzehnten Jahrhunderts in den britischen Kolonien analysiert. Dieses "Great Awakening" war zugleich eine dynamische soziale Bewegung, die den erstarrten neuenglischen Calvinismus ebenso wie (etwas später) die anglikanische Kirche in den südlichen Kolonien durcheinanderwirbelte und dabei Hierarchien aufbrach, so daß die neue Frömmigkeitskultur zugleich zur Vorbotin revolutionärer Mobilisierung werden konnte.
Jonathan Edwards, den berühmten theologischen Protagonisten dieser Bewegung in Neuengland, rückt Kelleter in den Mittelpunkt; er wird gewissermaßen zum Ur-Helden der amerikanischen Aufklärung, was wiederum nur unter der Prämisse funktioniert, daß die Aufklärung (mit Panajotis Kondylis) als Abkehr vom "cartesianischen Rationalismus" zu verstehen sei. Mystik und Pietismus, der Appell der Erwecker an sinnliche Erfahrung, werden dann zu Wurzeln einer neuen Rationalität. Diese These freilich scheint überzogen, auch wenn sich Elemente des "Great Awakening" ein Jahrhundert später im amerikanischen Transzendentalismus eines Emerson oder Thoreau durchaus wiederfanden. Unbestreitbar dagegen ist, daß das "Great Awakening" neue Kommunikationsräume eröffnete und weitere soziale Schichten in eine Sphäre der praktischen Öffentlichkeit einbezog.
Der dritte und umfangreichste Teil ist weitaus konventioneller geraten. Hier arbeitet sich Kelleter noch einmal durch die Stufen der Amerikanischen Revolution und ihrer politischen Debatten zwischen den sechziger und neunziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts hindurch: Locke und die "Commonwealthmen", Föderalisten und Antiföderalisten, schließlich die frühe Republik zwischen Französischer Revolution und neuem amerikanischen Nationalismus. Zu ausgedehnt sind die "Forschungsberichte" und Selbstvergewisserungen des Autors, zu unscharf ist die Richtung der Argumentation. Der Zusammenhalt mit den beiden ersten Teilen geht über weite Strecken verloren.
Im Zeitalter "postkolonialer" Historiographie konnte das Buch mit der Untersuchung jener herrschenden Diskurse nicht enden, die im Laufe von drei Jahrzehnten von der kolonialen Peripherie Britanniens in das nationale Zentrum Amerikas gerückt waren. Im vierten und letzten Teil des Buches widmet sich Kelleter daher den "differenten Rationalitäten" im Diskurs jener Gruppen, denen von den Verfassungsvätern höchstens ein marginaler Platz in der Republik zuerkannt worden war: der Indianer, der afroamerikanischen Sklaven und der Frauen. Der identitätspolitische Widerstand dieser Gruppen, so Kelleter, wurde jedoch erfolgreich "amerikanisiert", indem sich auch die Ausgegrenzten auf den versprochenen Universalismus Amerikas berufen konnten. So führt Kelleter am Ende die Vielheit der Stimmen wieder auf die Einheit der Vernunft zurück.
Nicht erst am Ende des Buches findet sich der Rezensent ein wenig ratlos wieder. Kaum vermeidbar ist das Fazit: Der Autor ist an der übergroßen Bürde des Stoffes und der Erklärungsansprüche, die er sich aufgeladen hat, gescheitert. Er wollte zuviel auf einmal, und auf eine fatale Weise wollte er sich nicht festlegen: Die Position Kelleters nämlich in der Debatte um Aufklärung und Vernunft bleibt bis zum Schluß rätselhaft. Wenn amerikanische Aufklärung - so die Bilanz des letzten Teils - "vor allem (!) in den Lebenserzählungen von Sklaven oder den romantischen Fiktionen bürgerlicher Hausfrauen" stattfand, wozu dann sechshundert Seiten über Jonathan Edwards und die "Founding Fathers"? Und wie paßt dazu die These vom antiintellektualistischen, pietistisch-religiösen Charakter amerikanischer Rationalität?
Eine zweite Brücke, die sich als nicht tragfähig erweist, ist die vom achtzehnten Jahrhundert in die Gegenwart. Solche Brücken sind nicht prinzipiell unmöglich, aber anders als Habermas oder Foucault, die Kelleter mit seiner eigenen "Theorie der Moderne" noch überbieten will, gelingt es ihm nicht, historisches Material in systematische Erkenntnisse zu übersetzen. Die Gegenwartsanalyse bleibt bestenfalls blaß, zum gegenwärtigen Amerika hat sie nichts zu sagen. Auf eine innovative und zeitgemäße Deutung der Revolution müssen wir deshalb weiter warten.
PAUL NOLTE
Frank Kelleter: "Amerikanische Aufklärung". Sprachen der Rationalität im Zeitalter der Revolution. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2002. 852 S., geb., 116,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche ZeitungSo einfach ist das mit dem zwanglosen Zwang!
Wir müssen alle zusammen hängen: Frank Kelleter packt die amerikanische Aufklärung in deutsche Wissenschaftsprosa
Der Autor ist Amerikanist in Göttingen und ein deutsches Unikum insofern, als er sich mit diesem Werk über die amerikanische Aufklärung habilitiert hat, noch ehe er vierzig Jahre alt geworden war. Untersucht wurden britische und amerikanische Quellen vor, während und nach der amerikanischen Revolution. Die Leseanstrengung muss gewaltig gewesen sein, Kelleters Detailkenntnisse sind respekteinflößend. Mit seiner geistesgeschichtlichen Methode kann er belegen, dass Thomas Jefferson, John Adams und andere Gründerväter jenseits republikanischer oder liberalistischer Etikettierungen eine „prozeduralistische Vernunftpolitik” anstrebten. Die rationalen Prozeduren zur Wahrheitsfindung lieferte die U.S.-Verfassung.
Ehe Kelleter zu diesem Ergebnis kommt, rechnet er ab mit postmodernen und postkolonialen Denkern und deren „Glauben an die Wahrheit der Unterdrückten”. Außerdem erfahren wir in den ersten Kapiteln, was es mit Baudelaires Dandy auf sich hat und warum Horkheimer und Adorno die Sirenenepisode in der Odyssee vermutlich falsch ausgelegt haben. (Statt des Vorgeplänkels in Taschenbuchlänge wäre mir ein Namen- und Sachregister für das mehr als 800 Seiten dicke Trumm von einem Buch lieber gewesen.) Dann wühlt der Autor sich ein in den religiösen Diskurs der beiden Theologen Jonathan Edwards und Charles Chauncy.
In der Mitte des Bandes erreichen wir die vorrevolutionäre Zeit und das eigentliche Thema. Vor dem Hintergrund der Philosophie des John Locke unterzieht der Autor das naturrechtlich geprägte Schrifttum des 18. Jahrhunderts einer mikrotextuell genannten Analyse. Thomas Paine und andere Pamphletisten werden ausführlich gewürdigt. Der Erkenntnisgewinn ist beachtlich oder wer hätte schon parat, dass John Adams das Wage-zu-wissen schon vor Kant formuliert hat? Meisterhaft wird das Entstehen einer amerikanischen Sprache resümiert, der Konflikt zwischen der Statik des Lexikographen Noah Webster und der dynamischen Auffassung eines Jefferson. Ketteler hat, wie andere vor ihm, ganz richtig gesehen, „dass die Art und Weise, in der ein amerikanischer Historiker die Revolution deutet, immer etwas darüber aussagt, in welchem Land dieser Historiker zu leben glaubt – und in welchem Land er leben möchte”. Er selbst vertritt einen Standpunkt, den man fast wörtlich bei Robert E. Brown, einem Historiker der Eisenhowerzeit, finden kann: „Amerikaner sahen sich nicht als Rebellen, sondern als Verteidiger des bestehenden Systems.”
Hemingways 10-Dollar-Wörter
Falls Jonathan Franzens Einteilung in Status- und Kontraktromane sich auf wissenschaftliche Literatur übertragen lässt, ist dies ein Statusbuch. Der Autor will einen kleinen, erlesenen Kreis überzeugen und in ihn aufgenommen werden, nicht aber einen Vertrag mit der allgemeinen Leserschaft schließen, sich auf einer Verständnisebene zu treffen. Der Text wimmelt von Vokabeln, die Ernest Hemingway einst als Ten-Dollar-Words verächtlich gemacht hat. Neben Distinktivität, Positivität und Positionalität finden sich spaßige Neuprägungen wie Amerikanität und Afrikanität. Wir werden herausgefordert mit einer soteriologischen Zeichenlehre, mit elokutionistischen Implikationen und einer metasubjektiven Normrationalität in sublimierter Form. So angetan ist der Verfasser von dem Wort metasubjektiv, dass er damit die Grenze zur Selbstparodie überschreitet. Da sucht ein pennsylvanischer Farmer seine Bibliothek nicht etwa zum Lesen auf, sondern „um an der öffentlichen Kommunikation in sozusagen metasubjektiv geläuterter Weise teilzuhaben”.
Wo kraftvolles Englisch gegen Fremdwörterdeutsch steht, wird aus dem schönsten Zitat eine akademische Scheußlichkeit. Benjamin Franklin, eine Anklage wegen Hochverrats fürchtend, hatte zur Geschlossenheit mit dem Wortspiel aufgerufen: „We must all hang together, or most assuredly we shall all hang separately.” Der Autor zerrupft die Pointe mit der Erklärung, dass „für die Revolutionäre der Glaube an die transzendente Rechtmässigkeit der eigenen Taten zur Überlebensnotwendigkeit wurde”. Das beeindruckte vielleicht die Gutachter des Habilitanden; mich nicht. Um auszudrücken, dass sich in Franklins Lebensbeschreibung Vernunft und Phantasie nicht ausschließen, sagt er: „Die kalkulierten Ironien der Autobiography klagen ein imaginatives Vernunftpotenzial ein, das sich jeder nur nutzenkalkulatorischen Rationalität entzieht.”
Streckenweise schreibt der Autor klare wissenschaftliche Prosa, dann wieder spickt er seinen Text mit Gespreiztheiten wie dieser: „Postkoloniale Theoretiker neigen dazu, das Oppositionspotenzial hybrider Subjektpositionen auf deren angebliche Antinormativität zurückzuführen.” Aufgrund jahrzehntelanger Erfahrung mit solchen Satzgebilden konnte ich mir ungefähr herausbuchstabieren, was damit gemeint ist, muss aber zu Protokoll geben, dass mir folgender Passus wirkliche Schwierigkeiten bereitet hat: „Gegen transsubjektive und antiindividualistische Solidaritätsimperative gilt deshalb festzuhalten, dass die negative Bestätigung dominanter Zuschreibungen die (nun oppositionell inkorporierten) Subjekte nicht minder – und eher mehr – unterwirft als der prätendiert zwanglose Zwang der deliberativen Vernunft.” So einfach, hätte Karl Valentin ausgerufen, und man kann sich’s doch nicht merken!
Das letzte Siebtel des Werkes ist Indianern, Afro-Amerikanern und Frauen gewidmet. Sie durften, weil sie nicht als vernunftbegabte Wesen galten, nicht an der Aufklärung teilhaben. Frank Kelleter schildert überzeugend, wie als Ratio hinter dem Landraub die Entamerikanisierung der Indianer steht und wie es zur Selbstindianisierung der Anglo-Amerikaner kam. Er veranschaulicht, wie weiße Siedler unbestelltes Land als leer ansahen und deshalb in Beschlag nahmen und wie sie Indianern einredeten, Bevormundung sei gut für sie. Ähnliches trifft auf die Sklaven zu, weil die weißen Herren ihre Leibeigenen nicht als Unterdrückungs-, sondern als Erziehungsobjekte hinstellten. An diesem Punkt wird freilich der Hang des Autors zur Reinwaschung der Mächtigen deutlich. Dass die Verfassungsväter von den Sklaven schamhaft als den „other persons” sprachen, wertet er positiv. Dass der Sklavereigegner William Lloyd Garrison in der Verfassung einen „Bund mit dem Tod und eine Vereinbarung mit der Hölle” sah, wird von Kelleter abgemildert, indem er hinzusetzt, Garrison hätte nichts gegen die Unabhängigkeitserklärung gehabt. Kelleter leugnet die imperialen Gelüste der Vereinigten Staaten und bescheinigt den Pionieren eine Eroberung ohne Eroberungsabsicht. Das Schönrednerische schmälert seine in anderer Hinsicht vortreffliche wissenschaftliche Leistung. Ob der Autor einer Selbstamerikaniserung erlegen ist?
Alles in allem, so könnte die Bilanz lauten, lässt die amerikanische Aufklärung der Metaphysik ihren Raum. Der Autor selbst versagt sich ein Schlusswort. Auf der letzten Seite überrascht er uns mit der Mitteilung, Aufklärung finde man im 18. Jahrhundert vor allem „in den Lebenserzählungen von Sklaven oder den romantischen Fiktionen bürgerlicher Hausfrauen”. Warum dann aber der ganze Aufwand für die Schriften weißer Männer?
GERT RAEITHEL
FRANK KELLETER: Amerikanische Aufklärung. Sprachen der Rationalität im Zeitalter der Revolution. Schöningh, Paderborn 2002. 852 Seiten, 116.60 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Wir müssen alle zusammen hängen: Frank Kelleter packt die amerikanische Aufklärung in deutsche Wissenschaftsprosa
Der Autor ist Amerikanist in Göttingen und ein deutsches Unikum insofern, als er sich mit diesem Werk über die amerikanische Aufklärung habilitiert hat, noch ehe er vierzig Jahre alt geworden war. Untersucht wurden britische und amerikanische Quellen vor, während und nach der amerikanischen Revolution. Die Leseanstrengung muss gewaltig gewesen sein, Kelleters Detailkenntnisse sind respekteinflößend. Mit seiner geistesgeschichtlichen Methode kann er belegen, dass Thomas Jefferson, John Adams und andere Gründerväter jenseits republikanischer oder liberalistischer Etikettierungen eine „prozeduralistische Vernunftpolitik” anstrebten. Die rationalen Prozeduren zur Wahrheitsfindung lieferte die U.S.-Verfassung.
Ehe Kelleter zu diesem Ergebnis kommt, rechnet er ab mit postmodernen und postkolonialen Denkern und deren „Glauben an die Wahrheit der Unterdrückten”. Außerdem erfahren wir in den ersten Kapiteln, was es mit Baudelaires Dandy auf sich hat und warum Horkheimer und Adorno die Sirenenepisode in der Odyssee vermutlich falsch ausgelegt haben. (Statt des Vorgeplänkels in Taschenbuchlänge wäre mir ein Namen- und Sachregister für das mehr als 800 Seiten dicke Trumm von einem Buch lieber gewesen.) Dann wühlt der Autor sich ein in den religiösen Diskurs der beiden Theologen Jonathan Edwards und Charles Chauncy.
In der Mitte des Bandes erreichen wir die vorrevolutionäre Zeit und das eigentliche Thema. Vor dem Hintergrund der Philosophie des John Locke unterzieht der Autor das naturrechtlich geprägte Schrifttum des 18. Jahrhunderts einer mikrotextuell genannten Analyse. Thomas Paine und andere Pamphletisten werden ausführlich gewürdigt. Der Erkenntnisgewinn ist beachtlich oder wer hätte schon parat, dass John Adams das Wage-zu-wissen schon vor Kant formuliert hat? Meisterhaft wird das Entstehen einer amerikanischen Sprache resümiert, der Konflikt zwischen der Statik des Lexikographen Noah Webster und der dynamischen Auffassung eines Jefferson. Ketteler hat, wie andere vor ihm, ganz richtig gesehen, „dass die Art und Weise, in der ein amerikanischer Historiker die Revolution deutet, immer etwas darüber aussagt, in welchem Land dieser Historiker zu leben glaubt – und in welchem Land er leben möchte”. Er selbst vertritt einen Standpunkt, den man fast wörtlich bei Robert E. Brown, einem Historiker der Eisenhowerzeit, finden kann: „Amerikaner sahen sich nicht als Rebellen, sondern als Verteidiger des bestehenden Systems.”
Hemingways 10-Dollar-Wörter
Falls Jonathan Franzens Einteilung in Status- und Kontraktromane sich auf wissenschaftliche Literatur übertragen lässt, ist dies ein Statusbuch. Der Autor will einen kleinen, erlesenen Kreis überzeugen und in ihn aufgenommen werden, nicht aber einen Vertrag mit der allgemeinen Leserschaft schließen, sich auf einer Verständnisebene zu treffen. Der Text wimmelt von Vokabeln, die Ernest Hemingway einst als Ten-Dollar-Words verächtlich gemacht hat. Neben Distinktivität, Positivität und Positionalität finden sich spaßige Neuprägungen wie Amerikanität und Afrikanität. Wir werden herausgefordert mit einer soteriologischen Zeichenlehre, mit elokutionistischen Implikationen und einer metasubjektiven Normrationalität in sublimierter Form. So angetan ist der Verfasser von dem Wort metasubjektiv, dass er damit die Grenze zur Selbstparodie überschreitet. Da sucht ein pennsylvanischer Farmer seine Bibliothek nicht etwa zum Lesen auf, sondern „um an der öffentlichen Kommunikation in sozusagen metasubjektiv geläuterter Weise teilzuhaben”.
Wo kraftvolles Englisch gegen Fremdwörterdeutsch steht, wird aus dem schönsten Zitat eine akademische Scheußlichkeit. Benjamin Franklin, eine Anklage wegen Hochverrats fürchtend, hatte zur Geschlossenheit mit dem Wortspiel aufgerufen: „We must all hang together, or most assuredly we shall all hang separately.” Der Autor zerrupft die Pointe mit der Erklärung, dass „für die Revolutionäre der Glaube an die transzendente Rechtmässigkeit der eigenen Taten zur Überlebensnotwendigkeit wurde”. Das beeindruckte vielleicht die Gutachter des Habilitanden; mich nicht. Um auszudrücken, dass sich in Franklins Lebensbeschreibung Vernunft und Phantasie nicht ausschließen, sagt er: „Die kalkulierten Ironien der Autobiography klagen ein imaginatives Vernunftpotenzial ein, das sich jeder nur nutzenkalkulatorischen Rationalität entzieht.”
Streckenweise schreibt der Autor klare wissenschaftliche Prosa, dann wieder spickt er seinen Text mit Gespreiztheiten wie dieser: „Postkoloniale Theoretiker neigen dazu, das Oppositionspotenzial hybrider Subjektpositionen auf deren angebliche Antinormativität zurückzuführen.” Aufgrund jahrzehntelanger Erfahrung mit solchen Satzgebilden konnte ich mir ungefähr herausbuchstabieren, was damit gemeint ist, muss aber zu Protokoll geben, dass mir folgender Passus wirkliche Schwierigkeiten bereitet hat: „Gegen transsubjektive und antiindividualistische Solidaritätsimperative gilt deshalb festzuhalten, dass die negative Bestätigung dominanter Zuschreibungen die (nun oppositionell inkorporierten) Subjekte nicht minder – und eher mehr – unterwirft als der prätendiert zwanglose Zwang der deliberativen Vernunft.” So einfach, hätte Karl Valentin ausgerufen, und man kann sich’s doch nicht merken!
Das letzte Siebtel des Werkes ist Indianern, Afro-Amerikanern und Frauen gewidmet. Sie durften, weil sie nicht als vernunftbegabte Wesen galten, nicht an der Aufklärung teilhaben. Frank Kelleter schildert überzeugend, wie als Ratio hinter dem Landraub die Entamerikanisierung der Indianer steht und wie es zur Selbstindianisierung der Anglo-Amerikaner kam. Er veranschaulicht, wie weiße Siedler unbestelltes Land als leer ansahen und deshalb in Beschlag nahmen und wie sie Indianern einredeten, Bevormundung sei gut für sie. Ähnliches trifft auf die Sklaven zu, weil die weißen Herren ihre Leibeigenen nicht als Unterdrückungs-, sondern als Erziehungsobjekte hinstellten. An diesem Punkt wird freilich der Hang des Autors zur Reinwaschung der Mächtigen deutlich. Dass die Verfassungsväter von den Sklaven schamhaft als den „other persons” sprachen, wertet er positiv. Dass der Sklavereigegner William Lloyd Garrison in der Verfassung einen „Bund mit dem Tod und eine Vereinbarung mit der Hölle” sah, wird von Kelleter abgemildert, indem er hinzusetzt, Garrison hätte nichts gegen die Unabhängigkeitserklärung gehabt. Kelleter leugnet die imperialen Gelüste der Vereinigten Staaten und bescheinigt den Pionieren eine Eroberung ohne Eroberungsabsicht. Das Schönrednerische schmälert seine in anderer Hinsicht vortreffliche wissenschaftliche Leistung. Ob der Autor einer Selbstamerikaniserung erlegen ist?
Alles in allem, so könnte die Bilanz lauten, lässt die amerikanische Aufklärung der Metaphysik ihren Raum. Der Autor selbst versagt sich ein Schlusswort. Auf der letzten Seite überrascht er uns mit der Mitteilung, Aufklärung finde man im 18. Jahrhundert vor allem „in den Lebenserzählungen von Sklaven oder den romantischen Fiktionen bürgerlicher Hausfrauen”. Warum dann aber der ganze Aufwand für die Schriften weißer Männer?
GERT RAEITHEL
FRANK KELLETER: Amerikanische Aufklärung. Sprachen der Rationalität im Zeitalter der Revolution. Schöningh, Paderborn 2002. 852 Seiten, 116.60 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Einen etwas zwiespältigen Eindruck hat die mehr als 800 Seiten umfassende Habilschrift des Amerikanisten Frank Kelleter über die amerikanische Aufklärung bei Rezensent Gert Raeithel hinterlassen. Respekteinflößend findet er Kelleters Untersuchung der britischen und amerikanischen Quellen vor, während und nach der amerikanischen Revolution. So könne der Autor belegen, dass Thomas Jefferson, John Adams und andere Gründerväter jenseits republikanischer oder liberalistischer Etikettierungen eine "prozeduralistische Vernunftpolitik" anstrebten, wobei die U.S.-Verfassung die rationalen Prozeduren zur Wahrheitsfindung lieferte. Was dem Rezensenten indes mächtig auf den Geist geht, ist Kelleters Stil. "Der Autor will einen kleinen, erlesenen Kreis überzeugen und in ihn aufgenommen werden, nicht aber einen Vertrag mit der allgemeinen Leserschaft schließen, sich auf einer Verständnisebene zu treffen", tadelt Raeithel. Der Text wimmele nur so von akademisch-hässlichen Wortungetümen. Damit kann Kelleter den Rezensenten allerdings nun überhaupt nicht beeindrucken. Bisweilen wird der Inhalt zum Ärgernis des Rezensenten durch den unschönen, verqueren Stil Kelleters allerdings nahezu unverständlich, etwa wenn der Autor erklärt: 'Gegen transsubjektive und antiindividualistische Solidaritätsimperative gilt deshalb festzuhalten, dass die negative Bestätigung dominanter Zuschreibungen die (nun oppositionell inkorporierten) Subjekte nicht minder - und eher mehr - unterwirft als der prätendiert zwanglose Zwang der deliberativen Vernunft'. Inhaltlich stößt sich Raeithel am Hang des Autors, die Mächtigen reinzuwaschen. So leugne Kelleter die imperialen Gelüste der Vereinigten Staaten und bescheinige den Pionieren eine Eroberung ohne Eroberungsabsicht. "Das Schönrednerische", Raeithel abschließend, "schmälert seine in anderer Hinsicht vortreffliche wissenschaftliche Leistung."
© Perlentaucher Medien GmbH
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