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Produktdetails
  • Verlag: FinanzBuch
  • ISBN-13: 9783898790512
  • ISBN-10: 3898790517
  • Artikelnr.: 25180641
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.12.2003

Der fatale Triumph guter Absichten

Ist soziale Gerechtigkeit wünschenswert? Schon vor fünfzig, hundert oder hundertfünfzig Jahren haben Volkswirtschaftler denselben Aberglauben beklagt, der auch heute verbreitet ist: Technisierung und Produktivitätssteigerung führten zu Arbeitslosigkeit und Verarmung, die Reichen würden immer reicher, die Armen ärmer. Die Gegner des Kapitalismus oder heute der Globalisierung, die so argumentieren, halten das Argument vom langsamen Durchsickern des materiellen Wohlstands in die unteren Einkommensschichten für einen Mythos. Sie verweisen heute vor allem auf Amerika. Die Wirtschaft dort sei zwar dynamischer als in Europa, doch man zahle dafür den Preis schreiender sozialer Ungerechtigkeit. Einen komprimierten Beitrag zu dieser Diskussion leistet Olaf Gersemann, Korrespondent der "Wirtschaftswoche" in Washington. In der klassischen Weise eines Aufklärers will er unsere Vorurteile vom entfesselten amerikanischen Kapitalismus zerstören ("Amerikanische Verhältnisse". Die falsche Angst der Deutschen vor dem Cowboy-Kapitalismus. Finanzbuch Verlag, München 2003. 304 S., geb., 34,90 [Euro]). Sein informatives Buch trifft ins Herz der aktuellen Debatten über die angemessene Form des Wirtschaftens. Es hat drei Teile: Zunächst zeigt Gersemann in einem Rückblick auf die vergangenen fünfundzwanzig Jahre, wie der deutsche "Kuschelkapitalismus" gegenüber dem amerikanischen Modell immer zurückbleibt: bei der Erhöhung der Produktivität, dem Senken der Arbeitslosigkeit oder der Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens. Gersemann unterfüttert die These von der Überlegenheit des weitgehend "entfesselten" Kapitalismus gegenüber seiner staatlich stärker regulierten Variante mit zahlreichen Daten, Statistiken und Tabellen. Die beiden folgenden Teile behandeln jeweils Amerika und Deutschland gesondert. Zunächst nimmt Gersemann die "Mythen" und "Halbwahrheiten" auseinander, die unser Bild vom unsozialen amerikanischen Raubtierkapitalismus prägen. Statistiken über scheinbar sinkende Einkommen beispielsweise vernachlässigten freiwillige Sozialleistungen der Arbeitgeber sowie das Einkommen durch Kapitalerträge. Die Zunahme der Armen relativiere sich schon im Hinblick auf die Einwanderung und die relativ kurzen Zeiten der Armut. Und so geht das weiter mit den Mythen von den "McJobs", vom Zwang zur Mitarbeit der Frauen und zu Zweit- und Drittjobs, von der Aufbesserung der Arbeitslosenstatistik durch die hohe Zahl Inhaftierter oder von der fehlenden Krankenversicherung. Lehrreich für den volkswirtschaftlichen Laien ist es, wie Gersemann die Mechanismen der marktgesteuerten Wirtschaft auch auf deren Schattenseiten ausleuchtet. Er errechnet die "soziale Rendite" hoher, durch keine Preiskontrollen regulierte Arzneimittelpreise. Ein zusätzliches Jahr Lebenserwartung kostet danach nur viertausendfünfhundert Dollar, hat aber einen Wert von über hundertfünfzigtausend Dollar. Dafür entrichten die Amerikaner allerdings den sozialen Preis, "daß einer Minderheit aus Kostengründen der Zugang zum Versicherungsschutz verwehrt bleibt". Aus diesem prinzipiellen Grund wird verständlich, das zeigt Gersemann im dritten Teil seines Buchs, warum besonders die Deutschen der Ungerechtigkeit auf hohem durchschnittlichen Niveau eine scheinbare "soziale Gerechtigkeit" auf niedrigem materiellen Gesamtniveau vorziehen. Absurderweise schneidet das Modell jedoch selbst nach seinen eigenen Maßstäben schlechter ab als das amerikanische: In Amerika tragen die Armen eine relativ gesehen niedrigere Steuerlast als die Reichen; trotz fehlender Studiengebühren in Deutschland sind die Bildungschancen hierzulande vor allem vom sozialen Hintergrund der Eltern abhängig. Dieser fatale Triumph guter Absichten ist im einzelnen nicht neu, aber man kann es, so systematisch wie es Gersemann tut, auch nicht oft genug wiederholen. So klar und schlagend sein Debattenbeitrag indes auch sein mag - wird er mit seinen Entmythologisierungen durchdringen können? Denn seine pragmatische Argumentation atmet ja selbst jenen egalitären Materialismus, den die Eliten als so abstoßend empfinden: Soll sich denn alles nur um Wachstum, Profit, Produktivität und - Konsum drehen?

CHRISTOPH ALBRECHT

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Olaf Gersemann hat es sich bei diesem Buch über die amerikanische Wirtschaft auf die Fahnen geschrieben, den "Mythos Raubtierkapitalismus" zu zerstören, meint Christoph Albrecht, der sich von den Argumenten des Autors insgesamt recht überzeugt zeigt. Gersemann unternehme es in drei Kapiteln, in denen er dem amerikanischen "Cowboy-Kapitalismus" den deutschen "Kuschel-Kapitalismus" gegenüberstellt, gängige "Vorurteile" - etwa der amerikanische Kapitalismus führe zu wachsender Armut oder fehlender Krankenversicherung - zu widerlegen, fasst der Rezensent zusammen. Er meint, man könne die Einsichten, die Gersemann in seinem Buch versammelt "gar nicht oft genug wiederholen", auch wenn sie im Einzelnen nicht neu seien. Ein "informatives Buch", lobt Albrecht, der dennoch bezweifelt, ob sich der Autor mit seiner Sicht der Dinge Gehör verschaffen kann. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sich in diesem Buch alles um "Wachstum, Profit, Produktivität und - Konsum" dreht, und das wollen insbesondere die "Eliten" in diesem Land nicht hören, meint Albrecht.

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