Der Transzendentalismus ist eine philosophisch-religiös-literarische Bewegung. Entstanden in den 1830er Jahren in den intellektuellen Zirkeln von Boston, hat er eine weit über Neuengland hinausgehende Ausstrahlung entfaltet, die bis in unsere Tage anhält. In diesem Buch werden zum ersten Mal die wichtigsten Vertreter des Transzendentalismus - das Dreigestirn Emerson, Thoreau und Fuller - in einer Zusammenschau vorgestellt. Emerson besitzt eine zentrale Stellung in der amerikanischen Ideengeschichte und zählt zu den Schlüsselfiguren der frühen Moderne. Thoreau gewann schon im 19. Jh. einen internationalen Ruf als Propagandist des gewaltfreien Widerstands. Margaret Fuller wird heute vom Feminismus wiederentdeckt und ihr Hauptwerk als wichtiger Beitrag zur Theoriebildung der Gender studies verstanden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.03.1998Der Wettermacher
Gehirnsturm mit allen Schikanen: Seine Deuter läßt Ralph Waldo Emerson gerne im Regen stehen
Emerson hat in Europa immer seine Bewunderer gehabt. Matthew Arnold zum Beispiel, der die klassische europäische Kultur so heftig verehrte, wie er das amerikanische "Philistertum" verachtete, stellte Emerson kurz nach dessen Tod im Jahre 1882 neben Mark Aurel und nannte ihn den einzigen, der dem großen römischen Stoiker als "Freund und Beistand derer, die im Geiste leben", ebenbürtig sei. Solche Wertschätzung wurde Emerson diesseits des Atlantiks allerdings nicht oft zuteil. Dagegen ist er in den Vereinigten Staaten längst zur Ikone geworden - zum Inbegriff des gelehrten amerikanischen Literaten.
Es war Emersons Schicksal, daß er immer wieder als literarische Verkörperung der Ausnahmestellung Amerikas herhalten mußte. Solange der Glaube an die Möglichkeit einer Flucht aus der Geschichte, aus den Zwängen und Ungerechtigkeiten, die das Leben in der Alten Welt beherrschten, zu den Gründerträumen der Vereinigten Staaten gehörte, so lange lag es nahe, Emerson als den ersten "eingeborenen" Weisen dieser Neuen Welt zu feiern, der ein Land der unbegrenzten geistigen Möglichkeiten besang, in dem unverfälschte Einigkeit mit der Natur zur Grundlage einer kraftvollen und kräftigenden moralischen Autonomie werden konnte. Seine Schriften waren, wie es der ebenfalls aus Neuengland stammende Arzt und Schriftsteller Oliver Wendell Holmes formulierte, "eine geistige Unabhängigkeitserklärung".
Emerson zeichnete sich durch große Vielseitigkeit aus. Zu immer wieder neuen Deutungen innerhalb der amerikanischen Kultur eignete er sich nicht zuletzt wegen seiner Vorliebe für literarische Mischgattungen - für den Essay, der zugleich weltliche Predigt ist, für den philosophischen Traktat, in dem sich zugleich eine geistige Autobiographie verbirgt, und schließlich für Mitteilungen über seine ausgedehnte Lektüre, die zugleich von seinen ausgedehnten Wanderungen berichten. Für Kalendermacher und Anthologen ist er eine Fundgrube voll weltkluger Sentenzen: "Die Jahre lehren viel, was die Tage niemals wissen", "Brave Menschen dürfen die Gesetze nicht allzu brav befolgen", "Wer ein Mann sein will, muß Nonkonformist sein". Dieses letzte Zitat deutet an, daß Emersons Ethik in einem säkularisierten protestantischen Individualismus wurzelt, in seinem Fall vermittelt durch die unitarische Kirche, in der er aufwuchs und für die er als Geistlicher eine Zeitlang tätig war, ehe er in eine Glaubenskrise geriet und seine Hoffnungen von Gott auf die Natur verlagerte.
In den dreißiger und vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts bildeten er und H. D. Thoreau den Mittelpunkt der "Transzendentalisten", einer Gruppe von Schriftstellern und Denkern in Neuengland, die die offenbarte Religion zugunsten einer sehr viel stärker persönlich und durch den Alltag geprägten Gotteserfahrung verwarfen. Für deutsche Leser sind die Umrisse ihrer Philosophie unlängst in dem Band "Amerikanischer Transzendentalismus" dargestellt worden: Anhand der Metaphern vom Bauen und vom Sehen hat Dieter Schulz das Denken von Emerson, Henry David Thoreau und Margaret Fuller geschildert und in den philosophiegeschichtlichen Kontext eingebettet. Unter den dreien hat Emerson wohl die größte rhetorische Wucht gehabt. Seine "Essays" wurden zum Brevier derer, die in der Ordnung der Natur nach jenem Sinn und Grund zum Optimismus suchten, den sie in den traditionellen Glaubensbekenntnissen nicht mehr finden konnten.
Auf den ersten Blick könnte man meinen, es sollte nicht schwierig sein, aus solchen Zusammenhängen einen "grünen" Emerson zu konstruieren und ihm einen Ehrenplatz im Pantheon der "Proto-Ökologen" zu geben. Eine solche vorschnell aktualisierende Vereinnahmung würde allerdings wohl fehlschlagen, denn bei Emerson ist die Natur eine durch und durch moralische Instanz - eine Lehrmeisterin, die den orientierungslosen Menschen immer wieder an die Grundsätze ethischer Selbstveredelung erinnert.
Einen weniger direkten, dafür aber interessanteren Zugang zu Emersons vielschichtigem Interesse an der Natur verheißt das Buch "Emerson and the Climates of History", das mit der verblüffenden Feststellung beginnt: "Es gibt bei Emerson keinen Satz, der nicht mit dem Wetter zu tun hat." Allerdings wird schon bald klar, daß sich Eduardo Cadava, Assistant Professor für englische Literatur in Princeton, weniger für Emersons Verhältnis zur wirklichen Natur interessiert als für die "klimabezogenen und meteorologischen Metaphern", die Emersons Verständnis von Geschichte und seine Auseinandersetzung mit ihr strukturieren. Zu diesem Zweck entwirft Cadava in seinem Buch "ein textuelles Modell für eine Emerson-Lektüre". Wer sich in der literaturwissenschaftlichen Szene Amerikas ein wenig auskennt, weiß, daß sich in einer solchen Formulierung eine Verschiebung des Augenmerks ankündigt - weg von dem, was man gewöhnlich den "Inhalt" eines Werkes nennt, hin zu einer theoretisch ambitionierten Beschäftigung mit dem, was sich in der Bildhaftigkeit seiner Sprache offenbart oder auch verbirgt.
Diese Art der Auseinandersetzung mit Literatur hegt nun eine ausgeprägte Vorliebe für das, was man in einer weniger hochtönenden Sprache als Wortspiele bezeichnen würde. So behauptet Cadava, das, was oft als Emersons "Rückzug aus der Arena des Politischen" bezeichnet werde, sei in Wirklichkeit ein Versuch, "das Wesen des Politischen unter dem Aspekt der Repräsentation neu zu fassen oder zu überdenken". "Repräsentation" ist natürlich ein bevorzugtes Motiv dieser Art von Literaturtheorie, die viel Scharfsinn darauf verwendet, die "Verschachtelung" der politischen und der linguistischen Bedeutung dieses Begriffs aufzudecken und zu zeigen, wie politische Fragen immer schon der Sprache "eingeschrieben" sind.
Dem uneingeweihten oder nicht von vornherein zum Einverständnis geneigten Leser, der etwas über Emerson erfahren will, ist dieser literaturtheoretische Jargon eher hinderlich als hilfreich. Dennoch hat das Buch von Cadava etwas Interessantes mitzuteilen - und zwar im Hinblick auf die Frage, ob Emerson als Verkörperung oder Sinnbild für die Flucht Amerikas aus der Geschichte tatsächlich taugt. Cadavas Analyse von Emersons Sprache zeigt, daß sich der "Weise von Concord" nicht nur auf zeitlose Fragen nach dem Platz der Politik im menschlichen Leben, sondern mit großem Ernst auch auf politische Tagesfragen wie das Problem der Sklaverei und den Bürgerkrieg eingelassen hat. Die Kräfte der Revolution und der Emanzipation, die Amerika in Unruhe stürzten, waren, wenn auch mitunter verschlüsselt, in dem Bemühen Emersons um eine Neubestimmung und Wiederaneignung seines puritanischen Erbes stets gegenwärtig. Den Moralisten, den es in die Einsamkeit der Wälder von Massachusetts zog, begleitete die Geschichte als Gesprächspartnerin auf allen seinen Wegen.
Für die meisten Leser dürfte diese Erkenntnis ein lohnenderer Ertrag sein als die manchmal etwas prätentiöse Art, in der sich dieses Buch um Emersons meteorologische Metaphern bemüht. In vieler Hinsicht bietet es sogar mehr Aufschlüsse darüber, wie es um die Idee der "Repräsentation" im akademischen Betrieb des heutigen Amerika steht, als über den historischen Emerson. Und das ist schade, denn trotz all seiner markigen Sentenzen hat Emerson etwas Besseres verdient - und seine europäischen Leser ebenfalls.
STEFAN COLLINI
Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser
Eduardo Cadava: "Emerson and the Climates of History." Stanford University Press, Stanford 1997. 256 S., br., 16.95 US-Dollar; geb., 45,- US-Dollar.
Dieter Schulz: "Amerikanischer Transzendentalismus". Ralph Waldo Emerson, Henrz David Thoreau, Margaret Fuller. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1997. 230 S., br., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gehirnsturm mit allen Schikanen: Seine Deuter läßt Ralph Waldo Emerson gerne im Regen stehen
Emerson hat in Europa immer seine Bewunderer gehabt. Matthew Arnold zum Beispiel, der die klassische europäische Kultur so heftig verehrte, wie er das amerikanische "Philistertum" verachtete, stellte Emerson kurz nach dessen Tod im Jahre 1882 neben Mark Aurel und nannte ihn den einzigen, der dem großen römischen Stoiker als "Freund und Beistand derer, die im Geiste leben", ebenbürtig sei. Solche Wertschätzung wurde Emerson diesseits des Atlantiks allerdings nicht oft zuteil. Dagegen ist er in den Vereinigten Staaten längst zur Ikone geworden - zum Inbegriff des gelehrten amerikanischen Literaten.
Es war Emersons Schicksal, daß er immer wieder als literarische Verkörperung der Ausnahmestellung Amerikas herhalten mußte. Solange der Glaube an die Möglichkeit einer Flucht aus der Geschichte, aus den Zwängen und Ungerechtigkeiten, die das Leben in der Alten Welt beherrschten, zu den Gründerträumen der Vereinigten Staaten gehörte, so lange lag es nahe, Emerson als den ersten "eingeborenen" Weisen dieser Neuen Welt zu feiern, der ein Land der unbegrenzten geistigen Möglichkeiten besang, in dem unverfälschte Einigkeit mit der Natur zur Grundlage einer kraftvollen und kräftigenden moralischen Autonomie werden konnte. Seine Schriften waren, wie es der ebenfalls aus Neuengland stammende Arzt und Schriftsteller Oliver Wendell Holmes formulierte, "eine geistige Unabhängigkeitserklärung".
Emerson zeichnete sich durch große Vielseitigkeit aus. Zu immer wieder neuen Deutungen innerhalb der amerikanischen Kultur eignete er sich nicht zuletzt wegen seiner Vorliebe für literarische Mischgattungen - für den Essay, der zugleich weltliche Predigt ist, für den philosophischen Traktat, in dem sich zugleich eine geistige Autobiographie verbirgt, und schließlich für Mitteilungen über seine ausgedehnte Lektüre, die zugleich von seinen ausgedehnten Wanderungen berichten. Für Kalendermacher und Anthologen ist er eine Fundgrube voll weltkluger Sentenzen: "Die Jahre lehren viel, was die Tage niemals wissen", "Brave Menschen dürfen die Gesetze nicht allzu brav befolgen", "Wer ein Mann sein will, muß Nonkonformist sein". Dieses letzte Zitat deutet an, daß Emersons Ethik in einem säkularisierten protestantischen Individualismus wurzelt, in seinem Fall vermittelt durch die unitarische Kirche, in der er aufwuchs und für die er als Geistlicher eine Zeitlang tätig war, ehe er in eine Glaubenskrise geriet und seine Hoffnungen von Gott auf die Natur verlagerte.
In den dreißiger und vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts bildeten er und H. D. Thoreau den Mittelpunkt der "Transzendentalisten", einer Gruppe von Schriftstellern und Denkern in Neuengland, die die offenbarte Religion zugunsten einer sehr viel stärker persönlich und durch den Alltag geprägten Gotteserfahrung verwarfen. Für deutsche Leser sind die Umrisse ihrer Philosophie unlängst in dem Band "Amerikanischer Transzendentalismus" dargestellt worden: Anhand der Metaphern vom Bauen und vom Sehen hat Dieter Schulz das Denken von Emerson, Henry David Thoreau und Margaret Fuller geschildert und in den philosophiegeschichtlichen Kontext eingebettet. Unter den dreien hat Emerson wohl die größte rhetorische Wucht gehabt. Seine "Essays" wurden zum Brevier derer, die in der Ordnung der Natur nach jenem Sinn und Grund zum Optimismus suchten, den sie in den traditionellen Glaubensbekenntnissen nicht mehr finden konnten.
Auf den ersten Blick könnte man meinen, es sollte nicht schwierig sein, aus solchen Zusammenhängen einen "grünen" Emerson zu konstruieren und ihm einen Ehrenplatz im Pantheon der "Proto-Ökologen" zu geben. Eine solche vorschnell aktualisierende Vereinnahmung würde allerdings wohl fehlschlagen, denn bei Emerson ist die Natur eine durch und durch moralische Instanz - eine Lehrmeisterin, die den orientierungslosen Menschen immer wieder an die Grundsätze ethischer Selbstveredelung erinnert.
Einen weniger direkten, dafür aber interessanteren Zugang zu Emersons vielschichtigem Interesse an der Natur verheißt das Buch "Emerson and the Climates of History", das mit der verblüffenden Feststellung beginnt: "Es gibt bei Emerson keinen Satz, der nicht mit dem Wetter zu tun hat." Allerdings wird schon bald klar, daß sich Eduardo Cadava, Assistant Professor für englische Literatur in Princeton, weniger für Emersons Verhältnis zur wirklichen Natur interessiert als für die "klimabezogenen und meteorologischen Metaphern", die Emersons Verständnis von Geschichte und seine Auseinandersetzung mit ihr strukturieren. Zu diesem Zweck entwirft Cadava in seinem Buch "ein textuelles Modell für eine Emerson-Lektüre". Wer sich in der literaturwissenschaftlichen Szene Amerikas ein wenig auskennt, weiß, daß sich in einer solchen Formulierung eine Verschiebung des Augenmerks ankündigt - weg von dem, was man gewöhnlich den "Inhalt" eines Werkes nennt, hin zu einer theoretisch ambitionierten Beschäftigung mit dem, was sich in der Bildhaftigkeit seiner Sprache offenbart oder auch verbirgt.
Diese Art der Auseinandersetzung mit Literatur hegt nun eine ausgeprägte Vorliebe für das, was man in einer weniger hochtönenden Sprache als Wortspiele bezeichnen würde. So behauptet Cadava, das, was oft als Emersons "Rückzug aus der Arena des Politischen" bezeichnet werde, sei in Wirklichkeit ein Versuch, "das Wesen des Politischen unter dem Aspekt der Repräsentation neu zu fassen oder zu überdenken". "Repräsentation" ist natürlich ein bevorzugtes Motiv dieser Art von Literaturtheorie, die viel Scharfsinn darauf verwendet, die "Verschachtelung" der politischen und der linguistischen Bedeutung dieses Begriffs aufzudecken und zu zeigen, wie politische Fragen immer schon der Sprache "eingeschrieben" sind.
Dem uneingeweihten oder nicht von vornherein zum Einverständnis geneigten Leser, der etwas über Emerson erfahren will, ist dieser literaturtheoretische Jargon eher hinderlich als hilfreich. Dennoch hat das Buch von Cadava etwas Interessantes mitzuteilen - und zwar im Hinblick auf die Frage, ob Emerson als Verkörperung oder Sinnbild für die Flucht Amerikas aus der Geschichte tatsächlich taugt. Cadavas Analyse von Emersons Sprache zeigt, daß sich der "Weise von Concord" nicht nur auf zeitlose Fragen nach dem Platz der Politik im menschlichen Leben, sondern mit großem Ernst auch auf politische Tagesfragen wie das Problem der Sklaverei und den Bürgerkrieg eingelassen hat. Die Kräfte der Revolution und der Emanzipation, die Amerika in Unruhe stürzten, waren, wenn auch mitunter verschlüsselt, in dem Bemühen Emersons um eine Neubestimmung und Wiederaneignung seines puritanischen Erbes stets gegenwärtig. Den Moralisten, den es in die Einsamkeit der Wälder von Massachusetts zog, begleitete die Geschichte als Gesprächspartnerin auf allen seinen Wegen.
Für die meisten Leser dürfte diese Erkenntnis ein lohnenderer Ertrag sein als die manchmal etwas prätentiöse Art, in der sich dieses Buch um Emersons meteorologische Metaphern bemüht. In vieler Hinsicht bietet es sogar mehr Aufschlüsse darüber, wie es um die Idee der "Repräsentation" im akademischen Betrieb des heutigen Amerika steht, als über den historischen Emerson. Und das ist schade, denn trotz all seiner markigen Sentenzen hat Emerson etwas Besseres verdient - und seine europäischen Leser ebenfalls.
STEFAN COLLINI
Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser
Eduardo Cadava: "Emerson and the Climates of History." Stanford University Press, Stanford 1997. 256 S., br., 16.95 US-Dollar; geb., 45,- US-Dollar.
Dieter Schulz: "Amerikanischer Transzendentalismus". Ralph Waldo Emerson, Henrz David Thoreau, Margaret Fuller. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1997. 230 S., br., 39,80 DM.
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