Produktdetails
- Verlag: Arnoldsche
- Seitenzahl: 663
- Deutsch, Englisch
- Abmessung: 342mm x 266mm x 63mm
- Gewicht: 4918g
- ISBN-13: 9783897901674
- ISBN-10: 3897901676
- Artikelnr.: 10053764
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.08.2002Spät kam die Gabel ins Spiel
Auch Bestecke sind Geschmacksache
VON CARINA VILLINGER
Martin Luther stand ihr äußerst kritisch gegenüber: "Gott behüte mich vor Gäbelchen", schrieb er 1518. Der päpstlichen Kirche war sie verhaßt als "Teufelsklaue", und die britische Marine verbot ihren Matrosen sogar noch 1897 den Gebrauch dieses unmännlichen Eßwerkzeugs. Diese und ähnliche Geschichten berichtet Jochen Amme in seinem Buch über historische Bestecke.
Die Obsession des Hamburger Juristen hat dazu geführt, daß er in jahrzehntelanger Sammelarbeit eine Besteckkollektion zusammengetragen hat, die ihresgleichen sucht. Von der Steinzeit bis zur Neuen Sachlichkeit umfaßt sie mehr als 3500 Einzelteile, die er jetzt in dem Band "Historische Bestecke" präsentiert. Dies tut er nach allen Regeln der Kunst: 450 oft ganzseitige Abbildungen umfaßt der Katalog, die meisten in Originalgröße der Messer, Gabeln und Löffel.
Geordnet ist die spitze und runde Pracht in drei Haupteile mit insgesamt fünfzehn Kapiteln: Teil eins widmet sich der Frühzeit bis zum 18. Jahrhundert, daran schließen die Tafelbestecke des 18. und 19. Jahrhunderts an und zuletzt der Historismus, Jugendstil und die Neue Sachlichkeit. Visuelle Opulenz überstrahlt den Text, der sich auf eine Einleitung und kleinere Bemerkungen zu einigen wenigen Kapiteln beschränkt. Immerhin gewinnt man einen unterhaltsamen Einblick in die Entwicklung der einzelnen Besteckteile und ihrer Kulturgeschichte, die wiederum wichtige Erläuterungen über den Aufbau der Sammlung liefert: So gab es zum Beispiel zwischen den Jahren 400 und 1200 nach Christus fast keine Messerfunde. Nur insgesamt 28 Stück sind in der Literatur dokumentiert, darunter auch solche Messer, die man nur von mittelalterlichen Gemälden und Darstellungen kennt. Jochen Amme hat es trotzdem geschafft, drei Messer und drei Klingen aus dieser Zeit aufzutreiben. Möglicherweise sind an dieser spärlichen Ausbeute die veränderten Bräuche der Grabbeigaben schuld, und die Verbreitung des Christentums, dem diese Gaben nicht geläufig sind, mag dazu beigetragen haben.
Die Gabel trat ihren Triumphzug auf den Tafeln erst spät an: Zwar war sie bereits im 16. Jahrhundert bekannt, aber nur sehr vereinzelt in Gebrauch und dann meist als Teil eines Spießbestecks. Die Fotografien der Besteckteile im Katalog sind deshalb so arrangiert, daß sie im ersten Teil von oben nach unten abgebildet sind - gemäß der Spießfunktion; der zweite Teil geht zum heute üblichen Tafelbesteck über, das von unten nach oben gelegt wird.
Solch eine umfangreiche Kollektion setzt ihre Akzente durch die Klassifizierung ihrer Objekte in bestimmte Kategorien. Amme hat sich dafür entschieden, eine Einteilung nach zeitlichen und funktionalen Kriterien vorzunehmen und auch die Materialien der Griffe zu berücksichtigen. Eine Aufstellung nach Herstellern, Entwerfern oder Ländern wird man im Inhaltsverzeichnis vergeblich suchen. Besondere Sorgfalt hat er auf die Einteilung der Jugendstil-Objekte verwandt: Sie sind geordnet vor allem nach ästhetischen Kriterien. Das Neuartige im Design soll besonders herausgestellt und die moderne Formenvielfalt des oft geschmähten Stils aufgezeigt werden. Entscheidend war dabei, was den Entwurf am stärksten prägte: Form oder Dekor. Die so entstandenen Unterabteilungen sind zwar nicht unanfechtbar, eröffnen aber doch dank der enormen Zahl von Beispielen - von den etwa hundert Firmen, die Jugendstil-Bestecke produzierten, sind 72 hier vertreten - interessante Vergleichsmöglichkeiten. Die Abteilung "Neue Sachlichkeit" ist dagegen durch die fast vollständige Abwesenheit des französischen Art déco unterrepräsentiert. Mit relativ wenigen Exemplaren ist auch der Historismus vertreten, dem Amme in dessen Neigung, Geschichte als Konsumgut zu betrachten, nicht unkritisch gegenübersteht. Ergänzt wird der optische Teil durch einen Sammlungskatalog mit Beschreibung der Stücke. Beigegeben sind Markentafeln, Register der Hersteller, Entwerfer und Produktionsorte sowie ein umfangreiches Literaturverzeichnis.
Wer dieser Sammlung nacheifern will, sei es auch nur im kleinen Rahmen, der hat im Kunsthandel reichlich Auswahl. Die Schwierigkeiten, eine Kollektion aufzubauen, die von einem breiten Überblick ihrer Beispiele lebt, sind jedoch mannigfaltig: Denn viele Angebote bestehen aus Bestecksätzen für mehrere Personen; doch oft wird der Sammler nur einen einzigen vollständigen Satz erwerben wollen. Den Rest muß er damit wieder in den Verkaufskreislauf zurückgeben. Bestecke ohne Monogramme sind im allgemeinen die begehrteren, besonders, wenn sie für den Gebrauch gekauft werden. Die Initialen des Vorbesitzers werden als Makel gesehen, der den Preis deutlich nach unten korrigieren kann.
Ein ungraviertes Set von je zwei Gabeln, Messern und Löffeln, Henry van de Velde zugeschrieben und hergestellt von Koch & Bergfeld in Bremen, kostete auf einer Londoner Auktion vor zwei Jahren 4000 Pfund; ein seltenes und mit 253 Teilen außergewöhnlich großes Set der Serie Nummer 8200 von Peter Behrens war, ebenfalls bei einem Londoner Haus, taxiert auf 25 000 bis 35 000 Pfund, blieb aber unverkauft. 2400 Pfund kostete dieses Jahr bei einer Versteigerung ein elisabethanischer Silberlöffel von 1598, während ein achtzigteiliger Satz viktorianischen Tafelsilbers von Marin, Hall & Co. aus London 2500 bis 3500 Pfund einspielen sollte, seinem Käufer aber nur 2100 Pfund wert war.
Jochen Amme: "Historische Bestecke. Formenwandel von der Altsteinzeit bis zur Moderne". Dt./engl. Text. Arnoldsche Publishers, Stuttgart 2002. 672 S., 450 Farbtafeln, geb., 124,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auch Bestecke sind Geschmacksache
VON CARINA VILLINGER
Martin Luther stand ihr äußerst kritisch gegenüber: "Gott behüte mich vor Gäbelchen", schrieb er 1518. Der päpstlichen Kirche war sie verhaßt als "Teufelsklaue", und die britische Marine verbot ihren Matrosen sogar noch 1897 den Gebrauch dieses unmännlichen Eßwerkzeugs. Diese und ähnliche Geschichten berichtet Jochen Amme in seinem Buch über historische Bestecke.
Die Obsession des Hamburger Juristen hat dazu geführt, daß er in jahrzehntelanger Sammelarbeit eine Besteckkollektion zusammengetragen hat, die ihresgleichen sucht. Von der Steinzeit bis zur Neuen Sachlichkeit umfaßt sie mehr als 3500 Einzelteile, die er jetzt in dem Band "Historische Bestecke" präsentiert. Dies tut er nach allen Regeln der Kunst: 450 oft ganzseitige Abbildungen umfaßt der Katalog, die meisten in Originalgröße der Messer, Gabeln und Löffel.
Geordnet ist die spitze und runde Pracht in drei Haupteile mit insgesamt fünfzehn Kapiteln: Teil eins widmet sich der Frühzeit bis zum 18. Jahrhundert, daran schließen die Tafelbestecke des 18. und 19. Jahrhunderts an und zuletzt der Historismus, Jugendstil und die Neue Sachlichkeit. Visuelle Opulenz überstrahlt den Text, der sich auf eine Einleitung und kleinere Bemerkungen zu einigen wenigen Kapiteln beschränkt. Immerhin gewinnt man einen unterhaltsamen Einblick in die Entwicklung der einzelnen Besteckteile und ihrer Kulturgeschichte, die wiederum wichtige Erläuterungen über den Aufbau der Sammlung liefert: So gab es zum Beispiel zwischen den Jahren 400 und 1200 nach Christus fast keine Messerfunde. Nur insgesamt 28 Stück sind in der Literatur dokumentiert, darunter auch solche Messer, die man nur von mittelalterlichen Gemälden und Darstellungen kennt. Jochen Amme hat es trotzdem geschafft, drei Messer und drei Klingen aus dieser Zeit aufzutreiben. Möglicherweise sind an dieser spärlichen Ausbeute die veränderten Bräuche der Grabbeigaben schuld, und die Verbreitung des Christentums, dem diese Gaben nicht geläufig sind, mag dazu beigetragen haben.
Die Gabel trat ihren Triumphzug auf den Tafeln erst spät an: Zwar war sie bereits im 16. Jahrhundert bekannt, aber nur sehr vereinzelt in Gebrauch und dann meist als Teil eines Spießbestecks. Die Fotografien der Besteckteile im Katalog sind deshalb so arrangiert, daß sie im ersten Teil von oben nach unten abgebildet sind - gemäß der Spießfunktion; der zweite Teil geht zum heute üblichen Tafelbesteck über, das von unten nach oben gelegt wird.
Solch eine umfangreiche Kollektion setzt ihre Akzente durch die Klassifizierung ihrer Objekte in bestimmte Kategorien. Amme hat sich dafür entschieden, eine Einteilung nach zeitlichen und funktionalen Kriterien vorzunehmen und auch die Materialien der Griffe zu berücksichtigen. Eine Aufstellung nach Herstellern, Entwerfern oder Ländern wird man im Inhaltsverzeichnis vergeblich suchen. Besondere Sorgfalt hat er auf die Einteilung der Jugendstil-Objekte verwandt: Sie sind geordnet vor allem nach ästhetischen Kriterien. Das Neuartige im Design soll besonders herausgestellt und die moderne Formenvielfalt des oft geschmähten Stils aufgezeigt werden. Entscheidend war dabei, was den Entwurf am stärksten prägte: Form oder Dekor. Die so entstandenen Unterabteilungen sind zwar nicht unanfechtbar, eröffnen aber doch dank der enormen Zahl von Beispielen - von den etwa hundert Firmen, die Jugendstil-Bestecke produzierten, sind 72 hier vertreten - interessante Vergleichsmöglichkeiten. Die Abteilung "Neue Sachlichkeit" ist dagegen durch die fast vollständige Abwesenheit des französischen Art déco unterrepräsentiert. Mit relativ wenigen Exemplaren ist auch der Historismus vertreten, dem Amme in dessen Neigung, Geschichte als Konsumgut zu betrachten, nicht unkritisch gegenübersteht. Ergänzt wird der optische Teil durch einen Sammlungskatalog mit Beschreibung der Stücke. Beigegeben sind Markentafeln, Register der Hersteller, Entwerfer und Produktionsorte sowie ein umfangreiches Literaturverzeichnis.
Wer dieser Sammlung nacheifern will, sei es auch nur im kleinen Rahmen, der hat im Kunsthandel reichlich Auswahl. Die Schwierigkeiten, eine Kollektion aufzubauen, die von einem breiten Überblick ihrer Beispiele lebt, sind jedoch mannigfaltig: Denn viele Angebote bestehen aus Bestecksätzen für mehrere Personen; doch oft wird der Sammler nur einen einzigen vollständigen Satz erwerben wollen. Den Rest muß er damit wieder in den Verkaufskreislauf zurückgeben. Bestecke ohne Monogramme sind im allgemeinen die begehrteren, besonders, wenn sie für den Gebrauch gekauft werden. Die Initialen des Vorbesitzers werden als Makel gesehen, der den Preis deutlich nach unten korrigieren kann.
Ein ungraviertes Set von je zwei Gabeln, Messern und Löffeln, Henry van de Velde zugeschrieben und hergestellt von Koch & Bergfeld in Bremen, kostete auf einer Londoner Auktion vor zwei Jahren 4000 Pfund; ein seltenes und mit 253 Teilen außergewöhnlich großes Set der Serie Nummer 8200 von Peter Behrens war, ebenfalls bei einem Londoner Haus, taxiert auf 25 000 bis 35 000 Pfund, blieb aber unverkauft. 2400 Pfund kostete dieses Jahr bei einer Versteigerung ein elisabethanischer Silberlöffel von 1598, während ein achtzigteiliger Satz viktorianischen Tafelsilbers von Marin, Hall & Co. aus London 2500 bis 3500 Pfund einspielen sollte, seinem Käufer aber nur 2100 Pfund wert war.
Jochen Amme: "Historische Bestecke. Formenwandel von der Altsteinzeit bis zur Moderne". Dt./engl. Text. Arnoldsche Publishers, Stuttgart 2002. 672 S., 450 Farbtafeln, geb., 124,80 [Euro].
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