Danny, eigentlich Dhananjaya Rajaratnam und ursprünglich aus Sri Lanka, ist der Status als Flüchtling in Australien verwehrt worden. Nun wohnt er als Illegaler im Lagerraum eines Supermarkts in Sydney und schlägt sich seit drei Jahren als Putzkraft durch. Er ist nahe dran, ein beinahe normales Leben führen zu können. Aber dann erfährt er, dass eine seiner Kundinnen ermordet wurde.
Details vom Tatort lassen ihn vermuten, der Liebhaber der Frau, ein Arzt und ebenfalls ein Kunde, könnte in den Mord verstrickt sein. Die beiden hatten die Angewohnheit, Danny bei ihren Rendezvous wie ein Maskottchen in der Nähe haben zu wollen. Er zögert, die Polizei zu informieren, denn als entdeckter illegaler Einwanderer würde Danny auf eine abgelegene Insel vor Australien deportiert. Dann bestellt der verdächtige Arzt Danny wieder zu sich...
«Amnestie» ist ein typischer, vom Schauplatz her aber ungewöhnlicher Adiga-Roman: die spannende, heftige Erzählung von besonderer heutiger Dringlichkeit über ein moralisches Dilemma und Machtverhältnisse, Liebe und Gewalt.
Details vom Tatort lassen ihn vermuten, der Liebhaber der Frau, ein Arzt und ebenfalls ein Kunde, könnte in den Mord verstrickt sein. Die beiden hatten die Angewohnheit, Danny bei ihren Rendezvous wie ein Maskottchen in der Nähe haben zu wollen. Er zögert, die Polizei zu informieren, denn als entdeckter illegaler Einwanderer würde Danny auf eine abgelegene Insel vor Australien deportiert. Dann bestellt der verdächtige Arzt Danny wieder zu sich...
«Amnestie» ist ein typischer, vom Schauplatz her aber ungewöhnlicher Adiga-Roman: die spannende, heftige Erzählung von besonderer heutiger Dringlichkeit über ein moralisches Dilemma und Machtverhältnisse, Liebe und Gewalt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.10.2020Der Mann ohne Aufenthaltsgenehmigung
Als Alien in Sydney: Aravind Adiga macht seinen Helden auf Kosten des Krimiplots zum modernen Flaneur
Krimi oder Roman? An der Gattungsfrage des Werks hängen auch die Kriterien seiner Beurteilung. Ein Krimi hat zu funktionieren, er sollte nach bestimmten Regeln ablaufen, sie bewusst unterwandern oder verdrehen. Gelingt das nicht, könnte die Lektüre beschwerlich ausfallen. Im weiten Raum belletristischer Literatur hingegen darf nach Belieben experimentiert und bis zum Punkt annähernder Unlesbarkeit herumgekünstelt werden. Kreuzungen beider Genres wiederum sind auf das Fingerspitzengefühl des Autors angewiesen, weil überall im Plot Kippmomente lauern, die zu einer ästhetischen Unwucht führen könnten.
Aravind Adiga, 1974 im indischen Chennai geboren, hat sich mit "Amnestie" einen Krimi ausgedacht, auf dessen Cover "Roman" steht. Falsch ist das nicht, denn zunächst erinnert die Handlung an jene häufig hochgelobten Schmöker der vergangenen Jahre, in denen der Leser die Welt mit den Augen des staunenden Migranten wahrnimmt. Seit Teju Coles 2011 erschienenem Buch "Open City" ist gleichsam belegt, dass die Figur des Flaneurs noch nicht ausgedient hat. Im Gegenteil, solange er als Gedanken wälzendes Alien durch eine Metropole streift, die er begreifen und sich zu eigen machen möchte, sind die Voraussetzungen für Größeres geschaffen.
Bei Adiga heißt das Alien Dhananjaya Rajaratnam und stammt aus Sri Lanka. Danny, so sein Nom de Guerre, ist als Student nach Sydney gekommen, hat einen Status als Flüchtling beantragt und lebt nun, weil daraus nichts geworden ist, illegal in der Stadt. Sein Domizil befindet sich im Lagerraum eines Supermarkts, Geld verdient er als Putzkraft. Eines Tages erfährt er, dass eine Frau, deren Wohnung er regelmäßig reinigt, ermordet wurde. Die in den Nachrichten durchgegebenen Details vom Tatort kommen Danny bekannt genug vor, um Dr. Prakash, den Liebhaber der Toten, zu verdächtigen. Auch er ist Dannys Kunde. Und er weiß, dass sein "Putzmann" gar nicht im Land sein dürfte.
Als Nächstes führen beide ein Telefonat, in dem sie säuberlich am Mord vorbeiformulieren - was die Lage nicht ent-, sondern verschärft. Fortan schreiben sie sich Textnachrichten, Prakash will Danny treffen, Danny will Prakash bei der Polizei melden, Prakash scheint zu ahnen, dass Danny ihn für den Täter hält, Danny scheint zu ahnen, dass Prakash bereit ist, ihn bei den Behörden zu verpfeifen. Insofern handelt es sich um ein klassisches "Mexican Standoff", bei dem keine Partei gewinnen oder die schwelende Konfrontation ohne weiteres beenden kann.
Der Leser begleitet den Protagonisten dabei durch Sydney und lernt, wie es ist, wenn man sich laufend umschauen und in Deckung gehen muss. Danny ist in diesem Roman zwar nicht der Killer, aber trotzdem auf der Flucht. Sein größter Trumpf ist die Fähigkeit zur Mimikry. Er beobachtet, wie sich Australier verhalten, wie sie reden und sich bewegen, um all dies formvollendet zu kopieren: "Ein Kinderspiel, unsichtbar für die Weißen zu werden, die einen sowieso nicht ansehen, aber richtig schwierig, unsichtbar für die braunen Menschen zu werden, die dich immer sehen, egal, was du machst." Die akuteste Gefahr für einen Mann ohne Aufenthaltsgenehmigung sind die längst eingebürgerten Migranten.
Mit Sensibilität und einem sezierenden Blick versucht sich Danny als Semiotiker, der die Zeichen seiner Lebenswelt in unterschiedliche Kategorien einteilt. So schreibt er Sydney zwei Sorten von Vororten zu: "dicker Hintern, wo die Arbeiterklasse wohnte, schlecht aß und selber putzte; und dünner Hintern, wo die fitten und jungen Leute Salat aßen und viel joggten, aber ihre Wohnungen praktisch nie selbst putzten." Leider verdrängen die politischen Implikationen solcher Diagnosen zusehends die Möglichkeiten des Krimiplots. Adiga hat nicht nur den Man Booker Prize für sein Debüt "Der weiße Tiger" (2008) erhalten, er war auch Korrespondent für die Zeitschrift "Time" und die "Financial Times". Das merkt man, denn fortwährend wird die Tiefe der Figuren der soziologischen Problemanalyse geopfert: "Weiße klärten dich über deine Rechte auf, während du zum Abschiebefahrzeug geführt wurdest."
Obendrein gerät im Laufe des Geschehens das sich anbahnende Treffen zwischen Danny und Prakash zugunsten einer immer ausführlicheren Introspektion aus dem Fokus. Mit anderen Worten: Der Roman verdrängt den Krimi. Insgesamt erfährt der Leser manches über den indischen Subkontinent, die Macht chinesischen Kapitals, die Vorteile von Veganismus und die Mentalität der Australier. Hätte Adiga sorgfältiger auf die vielen Kippmomente geachtet, die seinem Buch letztlich die Balance rauben, wäre ihm gewiss ein guter Mix aus Roman und Thriller gelungen.
KAI SPANKE
Aravind Adiga: "Amnestie". Roman.
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.
C. H. Beck Verlag,
München 2020.
286 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als Alien in Sydney: Aravind Adiga macht seinen Helden auf Kosten des Krimiplots zum modernen Flaneur
Krimi oder Roman? An der Gattungsfrage des Werks hängen auch die Kriterien seiner Beurteilung. Ein Krimi hat zu funktionieren, er sollte nach bestimmten Regeln ablaufen, sie bewusst unterwandern oder verdrehen. Gelingt das nicht, könnte die Lektüre beschwerlich ausfallen. Im weiten Raum belletristischer Literatur hingegen darf nach Belieben experimentiert und bis zum Punkt annähernder Unlesbarkeit herumgekünstelt werden. Kreuzungen beider Genres wiederum sind auf das Fingerspitzengefühl des Autors angewiesen, weil überall im Plot Kippmomente lauern, die zu einer ästhetischen Unwucht führen könnten.
Aravind Adiga, 1974 im indischen Chennai geboren, hat sich mit "Amnestie" einen Krimi ausgedacht, auf dessen Cover "Roman" steht. Falsch ist das nicht, denn zunächst erinnert die Handlung an jene häufig hochgelobten Schmöker der vergangenen Jahre, in denen der Leser die Welt mit den Augen des staunenden Migranten wahrnimmt. Seit Teju Coles 2011 erschienenem Buch "Open City" ist gleichsam belegt, dass die Figur des Flaneurs noch nicht ausgedient hat. Im Gegenteil, solange er als Gedanken wälzendes Alien durch eine Metropole streift, die er begreifen und sich zu eigen machen möchte, sind die Voraussetzungen für Größeres geschaffen.
Bei Adiga heißt das Alien Dhananjaya Rajaratnam und stammt aus Sri Lanka. Danny, so sein Nom de Guerre, ist als Student nach Sydney gekommen, hat einen Status als Flüchtling beantragt und lebt nun, weil daraus nichts geworden ist, illegal in der Stadt. Sein Domizil befindet sich im Lagerraum eines Supermarkts, Geld verdient er als Putzkraft. Eines Tages erfährt er, dass eine Frau, deren Wohnung er regelmäßig reinigt, ermordet wurde. Die in den Nachrichten durchgegebenen Details vom Tatort kommen Danny bekannt genug vor, um Dr. Prakash, den Liebhaber der Toten, zu verdächtigen. Auch er ist Dannys Kunde. Und er weiß, dass sein "Putzmann" gar nicht im Land sein dürfte.
Als Nächstes führen beide ein Telefonat, in dem sie säuberlich am Mord vorbeiformulieren - was die Lage nicht ent-, sondern verschärft. Fortan schreiben sie sich Textnachrichten, Prakash will Danny treffen, Danny will Prakash bei der Polizei melden, Prakash scheint zu ahnen, dass Danny ihn für den Täter hält, Danny scheint zu ahnen, dass Prakash bereit ist, ihn bei den Behörden zu verpfeifen. Insofern handelt es sich um ein klassisches "Mexican Standoff", bei dem keine Partei gewinnen oder die schwelende Konfrontation ohne weiteres beenden kann.
Der Leser begleitet den Protagonisten dabei durch Sydney und lernt, wie es ist, wenn man sich laufend umschauen und in Deckung gehen muss. Danny ist in diesem Roman zwar nicht der Killer, aber trotzdem auf der Flucht. Sein größter Trumpf ist die Fähigkeit zur Mimikry. Er beobachtet, wie sich Australier verhalten, wie sie reden und sich bewegen, um all dies formvollendet zu kopieren: "Ein Kinderspiel, unsichtbar für die Weißen zu werden, die einen sowieso nicht ansehen, aber richtig schwierig, unsichtbar für die braunen Menschen zu werden, die dich immer sehen, egal, was du machst." Die akuteste Gefahr für einen Mann ohne Aufenthaltsgenehmigung sind die längst eingebürgerten Migranten.
Mit Sensibilität und einem sezierenden Blick versucht sich Danny als Semiotiker, der die Zeichen seiner Lebenswelt in unterschiedliche Kategorien einteilt. So schreibt er Sydney zwei Sorten von Vororten zu: "dicker Hintern, wo die Arbeiterklasse wohnte, schlecht aß und selber putzte; und dünner Hintern, wo die fitten und jungen Leute Salat aßen und viel joggten, aber ihre Wohnungen praktisch nie selbst putzten." Leider verdrängen die politischen Implikationen solcher Diagnosen zusehends die Möglichkeiten des Krimiplots. Adiga hat nicht nur den Man Booker Prize für sein Debüt "Der weiße Tiger" (2008) erhalten, er war auch Korrespondent für die Zeitschrift "Time" und die "Financial Times". Das merkt man, denn fortwährend wird die Tiefe der Figuren der soziologischen Problemanalyse geopfert: "Weiße klärten dich über deine Rechte auf, während du zum Abschiebefahrzeug geführt wurdest."
Obendrein gerät im Laufe des Geschehens das sich anbahnende Treffen zwischen Danny und Prakash zugunsten einer immer ausführlicheren Introspektion aus dem Fokus. Mit anderen Worten: Der Roman verdrängt den Krimi. Insgesamt erfährt der Leser manches über den indischen Subkontinent, die Macht chinesischen Kapitals, die Vorteile von Veganismus und die Mentalität der Australier. Hätte Adiga sorgfältiger auf die vielen Kippmomente geachtet, die seinem Buch letztlich die Balance rauben, wäre ihm gewiss ein guter Mix aus Roman und Thriller gelungen.
KAI SPANKE
Aravind Adiga: "Amnestie". Roman.
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.
C. H. Beck Verlag,
München 2020.
286 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensentin Judith von Sternburg liest den neuen Roman von Aravind Adiga zunächst mit großem Vergnügen: "Amnestie" erzählt von einem Tag im Leben des Tamilen Dhananjaya Rajaratnam, der sich ohne Papiere in Sidney durchschlägt. Sternburg kann ihn gut leiden, wie alle Protagnisten Adigas nimmt er sie mit seinen aufgeweckten Plappereien ein. Doch im Laufe des Romans trüben sich Dhananjayas originelle Gedanken über die "Internationalen Weltmeisterschaften" in Flucht und Migration merklich ein, bemerkt Sternburg, findet dies aber nicht minder beeindruckend. Was als schillernde Erzählung begann, endet als düstere Geschichte über die "Zermahlung des Menschen" in der globalisierten Welt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Mit Sensibilität und einem sezierenden Blick versucht sich Danny als Semiotiker, der die Zeichen seiner Lebenswelt in unterschiedliche Kategorien einteilt."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Kai Spanke
"Spannende, heftige Erzählung über ein moralisches Dilemma, Machtverhältnisse, Liebe und Gewalt."
BR Bayern2 kulturWelt, Cornelia Zetzsche
"Eine so humorvolle wie zutiefst menschliche Geschichte über das Schicksal von Illegalen, verpackt in eine Krimisatire."
SRF 1
"Ein durch und durch politischer Roman. Sprich: "Amnestie" will nicht betören, sondern verstören. Das gelingt dem Roman, durch und durch."
SWR2, Claudia Kramatschek
"Ungemein lesbar und transparent. Die Geschichte des scheiternden Danny Dhananjayas ist das spannendste und engagierteste Buch der Saison."
Die Presse
"Rasant, lebendig und reißt mit den humorvollen, pointierten Bemerkungen und Beobachtungen des tamilischen Protagonistenwirklich mit."
literaturkritik.de, Frank Riedel
"Ein psychologisch und politisch kluger Roman, der eine müde gewordene und doch überhaupt nicht triviale Maxime erfrischt: Kein Mensch ist illegal"
Der Tagesspiegel, Cornelius Dieckmann
"Pechschwarz grundiert, aber höchst fidel und spannend."
Frankfurter Rundschau, Judith von Sternburg
"Ein sehr dringliches Buch (...) mit Einsprengseln eines verzweifelten Humor, dabei spannend und von hoher erzählerischer Finesse".
Xing, Oliver Herzig
"'Amnestie' ist Adigas bislang gelungenster Roman, grandios gebaut, voll Herz und Verstand."
Hamilton Cain, Star Tribune
"Das Thema der Einwanderung wird in der Geschichte dieses Mannes krass lebendig ... Ein großes Buch. Ein Buch für unsere Zeit."
Juan Gabriel Vásquez, The New York Times Book Review
"Ein Roman über die Kontextabhängigkeit von Moral. Sehr spannend."
Buchkultur, ThomasWörtche
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Kai Spanke
"Spannende, heftige Erzählung über ein moralisches Dilemma, Machtverhältnisse, Liebe und Gewalt."
BR Bayern2 kulturWelt, Cornelia Zetzsche
"Eine so humorvolle wie zutiefst menschliche Geschichte über das Schicksal von Illegalen, verpackt in eine Krimisatire."
SRF 1
"Ein durch und durch politischer Roman. Sprich: "Amnestie" will nicht betören, sondern verstören. Das gelingt dem Roman, durch und durch."
SWR2, Claudia Kramatschek
"Ungemein lesbar und transparent. Die Geschichte des scheiternden Danny Dhananjayas ist das spannendste und engagierteste Buch der Saison."
Die Presse
"Rasant, lebendig und reißt mit den humorvollen, pointierten Bemerkungen und Beobachtungen des tamilischen Protagonistenwirklich mit."
literaturkritik.de, Frank Riedel
"Ein psychologisch und politisch kluger Roman, der eine müde gewordene und doch überhaupt nicht triviale Maxime erfrischt: Kein Mensch ist illegal"
Der Tagesspiegel, Cornelius Dieckmann
"Pechschwarz grundiert, aber höchst fidel und spannend."
Frankfurter Rundschau, Judith von Sternburg
"Ein sehr dringliches Buch (...) mit Einsprengseln eines verzweifelten Humor, dabei spannend und von hoher erzählerischer Finesse".
Xing, Oliver Herzig
"'Amnestie' ist Adigas bislang gelungenster Roman, grandios gebaut, voll Herz und Verstand."
Hamilton Cain, Star Tribune
"Das Thema der Einwanderung wird in der Geschichte dieses Mannes krass lebendig ... Ein großes Buch. Ein Buch für unsere Zeit."
Juan Gabriel Vásquez, The New York Times Book Review
"Ein Roman über die Kontextabhängigkeit von Moral. Sehr spannend."
Buchkultur, ThomasWörtche