Seit etwa einem Jahrzehnt gibt es eine geradezu drohende mediale Präsenz des Amok. Amok ist eine aktuelle Chiffre der Angst. Dem Leser, der auf dieses Buch und seinen Titel stößt, wird vielleicht für einen kurzen Augenblick der Schreck in die Glieder fahren, denn die bekannten und unbekannten Bilder und Geschichten vom Amok werden hier zunächst unter dem Begriff der Ausbreitung versammelt. Das trägt nicht gerade zur Beruhigung bei.Andererseits wird sich auch Skepsis breitmachen. Wie kann die Geschichte einer Ausbreitung rekonstruiert werden, wenn kein eindeutiges medizinisches Problem vorliegt? Wie kann die Ausbreitung von etwas konturiert werden, das keine festen Konturen hat? Wie kann sich überhaupt ein so extremes und so voraussetzungsreiches Verhalten wie das Amoklaufen ausbreiten? Das vorliegende Buch versucht Antworten auf solche Fragen zu geben und gleichzeitig einzuführen in eine weit zurück reichende Dimension des Amok - seine Geschichte. Diese wird als Medien- und Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis in die unmittelbare Gegenwart rekonstruiert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.02.2009Wer läuft Amok?
Eine fahrlässige Blindheit im Rationalisierungssystem konstatiert der Medienwissenschaftler Heiko Christians gleich zu Beginn seines fulminanten "Amok"-Buchs: Weil der Amokläufer ganz offensichtlich dem Inszenatorischen und Mimetischen zuneigt, werde immer wieder einfache Nachahmung unterstellt. Das aber unterschlage den entscheidenden Unterschied zum Rollenrepertoire einer rituell kontrollierteren Vormoderne: Heute haben wir es mit einander überlagernden Identifikationen auf Zeit zu tun, die "anonymen medialen Praktiken und Infrastrukturen stärker als dem freien Willen" unterworfen sind. "Die Welten des Amok und die Welten der Unterhaltung sind untrennbar verschränkt." Die Medien sind unschuldig am Amok, schuld aber an seiner Fehletikettierung als Epidemie. Wenn das Subjekt heute ein "pausenloser Schauspieler seiner selbst" ist, dann gilt das eben auch für den Amokläufer und seine Mimesis zweiter Ordnung, erklärt aber nichts. Christians spürt dem Amok darauf als Motiv und Motivation in beiden Welten nach. Von den ersten Bezugnahmen auf das malaiische "amuk" durch Südostasien-Reisende folgt er dem Diskurs durch die deutsche Literatur bis zur Poetologie, Ethnopsychiatrie, Filmgeschichte und Kulturwissenschaft. Bleibt zuletzt nur die Frage: Warum laufen Frauen nicht Amok? Gabriele Göttle hatte behauptet, weil sie daran die Überlegung hinderte, "wer das hinterher alles wieder wegmachen soll". Christians glaubt dann aber doch eher: "Frauen partizipieren nicht primär an den Werten und Ritualen einer kriegerischen Ethik." (Heiko Christians: "Amok". Geschichte einer Ausbreitung. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2008. 302 S., br., 19,80 [Euro].) oju
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine fahrlässige Blindheit im Rationalisierungssystem konstatiert der Medienwissenschaftler Heiko Christians gleich zu Beginn seines fulminanten "Amok"-Buchs: Weil der Amokläufer ganz offensichtlich dem Inszenatorischen und Mimetischen zuneigt, werde immer wieder einfache Nachahmung unterstellt. Das aber unterschlage den entscheidenden Unterschied zum Rollenrepertoire einer rituell kontrollierteren Vormoderne: Heute haben wir es mit einander überlagernden Identifikationen auf Zeit zu tun, die "anonymen medialen Praktiken und Infrastrukturen stärker als dem freien Willen" unterworfen sind. "Die Welten des Amok und die Welten der Unterhaltung sind untrennbar verschränkt." Die Medien sind unschuldig am Amok, schuld aber an seiner Fehletikettierung als Epidemie. Wenn das Subjekt heute ein "pausenloser Schauspieler seiner selbst" ist, dann gilt das eben auch für den Amokläufer und seine Mimesis zweiter Ordnung, erklärt aber nichts. Christians spürt dem Amok darauf als Motiv und Motivation in beiden Welten nach. Von den ersten Bezugnahmen auf das malaiische "amuk" durch Südostasien-Reisende folgt er dem Diskurs durch die deutsche Literatur bis zur Poetologie, Ethnopsychiatrie, Filmgeschichte und Kulturwissenschaft. Bleibt zuletzt nur die Frage: Warum laufen Frauen nicht Amok? Gabriele Göttle hatte behauptet, weil sie daran die Überlegung hinderte, "wer das hinterher alles wieder wegmachen soll". Christians glaubt dann aber doch eher: "Frauen partizipieren nicht primär an den Werten und Ritualen einer kriegerischen Ethik." (Heiko Christians: "Amok". Geschichte einer Ausbreitung. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2008. 302 S., br., 19,80 [Euro].) oju
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