Jede Menge Russen bevölkern seit Beginn der Neunziger Amsterdam. Witali Kirillow ist einer von ihnen, der Mann mit den meergrünen Augen. Längst ist sein Visum abgelaufen und vorsichtshalber fährt er in der Straßenbahn nicht mehr schwarz. Acht Jahre zuvor ließ er es als Offizier an der sowjetischen Grenze zu, daß sich ein Kamerad in den Westen absetzte. Dafür wurde er hart bestraft. Seitdem hat ihn der Gedanke an den Flüchtling nicht mehr losgelassen. Unterstützt von der rasant-energischen Jessie, macht er sich auf, ihn zu suchen.Von Puschkin bis Pilzsuppe. Marente de Moor beschreibt in ihrem Debütroman die russische Szene Amsterdams: Sonderbare Fremdlinge, schräge Vögel, entwurzelte Bohemiens, bei denen wodkaselige Schwermut zum Alltag gehört, sie tut es voll Wärme und Sympathie.Das lebendige Bild der russischen Szene im weltoffenen Amsterdam - kraftvoll und farbenfroh
»Marente de Moor ... porträtiert in kenntnisreichen Nahaufnahmen eine verschrobene und hoffnungslose Emigranten-Szene. Sie erzählt mit unaufdringlichem Witz und einer Lakonie, die ein wenig an Wladimir Kaminer erinnert. Immer ist sie nahe an ihrem Protagonisten, dessen Betrachtungen sie manchmal ganz unerwartet in Bilder von einer fast widerwillig wirkenden Poesie münden lässt.« Cornelia Fiedler Süddeutsche Zeitung 20101215
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.03.2011Das Leben der osteuropäischen Boheme
Doppelte Landeskunde: Die niederländische Autorin Marente de Moor erzählt in ihrem Debütroman "Amsterdam und zurück" von Exilrussen in Holland voller Heimweh.
Es fängt vielversprechend an. Wir schreiben das Jahr 1993, und Witali liegt im Schlafwagen und träumt zum wiederholten Male die entscheidende Szene seines bisherigen Lebens. Als Grenzsoldat hat er damals einen Kameraden über die finnische Grenze entkommen lassen, einfach nicht reagiert und ist danach degradiert und strafversetzt worden. Eigentlich ist das Schnee von gestern, im wahrsten Sinn des Wortes, denn die Flucht ereignet sich im tiefsten Schnee. Aber das Bild, wie der andere mit seinen Skiern nach Finnland hinübergleitet, lässt ihn nicht los. Nun ist Witali auf dem Weg in den Westen, zu seinem Cousin Ilja in Amsterdam, ausgestattet mit einem Riesencarepaket der Mama. Am Ende des Romans wird er sich, auf der Suche nach dem Soldaten von damals, auf den Rückweg nach Russland machen, als blinder Passagier auf einem Kreuzfahrtschiff. Das Heimweh all der Amsterdamer Russen hat auch ihn gepackt.
Das ist gleichsam die Klammer des Romans. Deren Füllung allerdings ist dürftig. Nicht, dass darin nicht allerhand erzählt würde, ganz im Gegenteil. Ein ganzer Bilderbogen wird da entfaltet, Szenen aus dem Leben der osteuropäischen Amsterdamer Boheme. Marente de Moor, die eine Weile in Sankt Petersburg gewohnt und dort als Auslandskorrespondentin gearbeitet hat, kennt sich bestens aus. Beinahe aber muss man vermuten, dass der Roman gerade daran scheitert. Sie kann nichts von dem zurückhalten, was sie über die osteuropäische Szene in Amsterdam weiß, die sich vor allem damit über Wasser zu halten scheint, dass sie auf dem Rembrandtplein schlechte Bilder verkauft. Ansonsten wird gesoffen, auch gefixt sowie gefeiert und gevögelt.
Amsterdam wird mehr durch Straßennamen beschworen als wirklich beschrieben. Die Stadt ist natürlich bunt und libertär und irgendwie verrückt und hat im Süden auch eine bürgerliche Seite. Da landet Witali irgendwann, weil sich eine junge Holländerin in ihn verliebt und ihn in dem schönen Haus aufnimmt, das sie für einen reichen Mann hütet, damit es nicht den Besetzern zum Opfer fällt. Marente de Moor betreibt gleich doppelte Landeskunde, die ihres eigenen Landes und der untergehenden respektive untergegangenen Sowjetunion. Wer speziell über die Letztere noch nicht viel wusste, kann hier einiges lernen, fragt sich aber irgendwann, warum er das tun soll.
Es gibt nette Szenen in diesem Buch, namentlich die Schilderung eines Sprachkurses und eines Zoobesuchs. Es gibt auch pointierte und gelungene Sätze wie etwa diesen: "Ruslan war gesprächiger, als es seine Vergangenheit erlaubte, doch die Wahrheit blieb meist in sicherem Abstand." Es gibt auch richtig kluge Sätze mit Wahrheitsanspruch, zum Beispiel: "Die niederländische Natur ist etwas zum Fotografieren. Den Rest lässt du weg oder denkst ihn dir dazu." Aber recht bald fragt man sich, warum man sich für all diese Figuren (trotz seiner nur 282 Seiten hätte der Roman ein Personenverzeichnis à la Tolstoi oder Dostojewski durchaus vertragen) eigentlich interessieren soll. Das Leben der Boheme ist, genauer betrachtet, eine ziemlich langweilige Angelegenheit.
Zwar versucht de Moor, an der Person des Witali entlang zu erzählen und an seiner Obsession durch den Soldaten, der damals über die Grenze ging. Zugleich aber möchte sie uns eine Totale bieten, weiß über jede ihrer Figuren enorm viel und kann uns ihr Wissen nicht vorenthalten. So zerfasert das Ganze in eine Vielzahl von Geschichten, die alle in etwa auf derselben Bedeutungsebene bleiben. In diesem Einerlei ist dann auch der (Drogen-)Tod nichts Besonderes mehr.
Als Witali den anderen von seinem Soldaten erzählt, sagt er: "Ich will wissen, was aus ihm geworden ist." Einer seiner russischen Kumpels antwortet: "Dasselbe wie aus uns. Nichts Besonderes."
Eben. Das ist das Problem dieses Romans.
JOCHEN SCHIMMANG
Marente de Moor: "Amsterdam und zurück". Roman.
Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 282 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Doppelte Landeskunde: Die niederländische Autorin Marente de Moor erzählt in ihrem Debütroman "Amsterdam und zurück" von Exilrussen in Holland voller Heimweh.
Es fängt vielversprechend an. Wir schreiben das Jahr 1993, und Witali liegt im Schlafwagen und träumt zum wiederholten Male die entscheidende Szene seines bisherigen Lebens. Als Grenzsoldat hat er damals einen Kameraden über die finnische Grenze entkommen lassen, einfach nicht reagiert und ist danach degradiert und strafversetzt worden. Eigentlich ist das Schnee von gestern, im wahrsten Sinn des Wortes, denn die Flucht ereignet sich im tiefsten Schnee. Aber das Bild, wie der andere mit seinen Skiern nach Finnland hinübergleitet, lässt ihn nicht los. Nun ist Witali auf dem Weg in den Westen, zu seinem Cousin Ilja in Amsterdam, ausgestattet mit einem Riesencarepaket der Mama. Am Ende des Romans wird er sich, auf der Suche nach dem Soldaten von damals, auf den Rückweg nach Russland machen, als blinder Passagier auf einem Kreuzfahrtschiff. Das Heimweh all der Amsterdamer Russen hat auch ihn gepackt.
Das ist gleichsam die Klammer des Romans. Deren Füllung allerdings ist dürftig. Nicht, dass darin nicht allerhand erzählt würde, ganz im Gegenteil. Ein ganzer Bilderbogen wird da entfaltet, Szenen aus dem Leben der osteuropäischen Amsterdamer Boheme. Marente de Moor, die eine Weile in Sankt Petersburg gewohnt und dort als Auslandskorrespondentin gearbeitet hat, kennt sich bestens aus. Beinahe aber muss man vermuten, dass der Roman gerade daran scheitert. Sie kann nichts von dem zurückhalten, was sie über die osteuropäische Szene in Amsterdam weiß, die sich vor allem damit über Wasser zu halten scheint, dass sie auf dem Rembrandtplein schlechte Bilder verkauft. Ansonsten wird gesoffen, auch gefixt sowie gefeiert und gevögelt.
Amsterdam wird mehr durch Straßennamen beschworen als wirklich beschrieben. Die Stadt ist natürlich bunt und libertär und irgendwie verrückt und hat im Süden auch eine bürgerliche Seite. Da landet Witali irgendwann, weil sich eine junge Holländerin in ihn verliebt und ihn in dem schönen Haus aufnimmt, das sie für einen reichen Mann hütet, damit es nicht den Besetzern zum Opfer fällt. Marente de Moor betreibt gleich doppelte Landeskunde, die ihres eigenen Landes und der untergehenden respektive untergegangenen Sowjetunion. Wer speziell über die Letztere noch nicht viel wusste, kann hier einiges lernen, fragt sich aber irgendwann, warum er das tun soll.
Es gibt nette Szenen in diesem Buch, namentlich die Schilderung eines Sprachkurses und eines Zoobesuchs. Es gibt auch pointierte und gelungene Sätze wie etwa diesen: "Ruslan war gesprächiger, als es seine Vergangenheit erlaubte, doch die Wahrheit blieb meist in sicherem Abstand." Es gibt auch richtig kluge Sätze mit Wahrheitsanspruch, zum Beispiel: "Die niederländische Natur ist etwas zum Fotografieren. Den Rest lässt du weg oder denkst ihn dir dazu." Aber recht bald fragt man sich, warum man sich für all diese Figuren (trotz seiner nur 282 Seiten hätte der Roman ein Personenverzeichnis à la Tolstoi oder Dostojewski durchaus vertragen) eigentlich interessieren soll. Das Leben der Boheme ist, genauer betrachtet, eine ziemlich langweilige Angelegenheit.
Zwar versucht de Moor, an der Person des Witali entlang zu erzählen und an seiner Obsession durch den Soldaten, der damals über die Grenze ging. Zugleich aber möchte sie uns eine Totale bieten, weiß über jede ihrer Figuren enorm viel und kann uns ihr Wissen nicht vorenthalten. So zerfasert das Ganze in eine Vielzahl von Geschichten, die alle in etwa auf derselben Bedeutungsebene bleiben. In diesem Einerlei ist dann auch der (Drogen-)Tod nichts Besonderes mehr.
Als Witali den anderen von seinem Soldaten erzählt, sagt er: "Ich will wissen, was aus ihm geworden ist." Einer seiner russischen Kumpels antwortet: "Dasselbe wie aus uns. Nichts Besonderes."
Eben. Das ist das Problem dieses Romans.
JOCHEN SCHIMMANG
Marente de Moor: "Amsterdam und zurück". Roman.
Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 282 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nichts Besonderes findet Rezensent Jochen Schimmang an diesem Roman von Marente de Moor. Dabei gibt sich die Autorin alle Mühe und entfaltet mit ihrem Hintergrundwissen über die osteuropäische Amsterdamer Boheme ein figurensattes, buntes, um nicht zu sagen an allen Enden zerfaserndes Panorama. Nur wozu? Schimmang jedenfalls verliert irgendwann die Lust an all den libertären Party-Szenen und dem so freimütig geteilten Insiderwissen der Autorin. Die paar klugen Sätze und Momente (ein Zoobesuch, ein Sprachkurs!) helfen auch nicht weiter. Für den Rezensenten ist und bleibt das Buch eine ziemlich langweilige Angelegenheit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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