Die Texte, die Franz Kafka in seinem Beruf als Beamter der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Gesellschaft verfasst hat, sind weit mehr als nur biographischer Hintergrund. Denn immer wieder hat er Motive, Konflikte und Sprachformen, die ihm aus dem Büroalltag vertraut waren, für seine literarischen Schöpfungen fruchtbar gemacht. Kafkas Amtliche Schriften bieten somit eine unverzichtbare Grundlage für die Erschließung seines dichterischen Werks.
Die Kritische Ausgabe versammelt und erläutert sämtliche Schriften, die Kafka zwischen 1908 und 1922 im Dienst seiner Behörde verfasst oder unterschriftlich verantwortet hat: darunter Publikationen aus Fach- und Tagespresse, Texte für öffentliche Vorträge sowie zahlreiche bisher unveröffentlichte Schriftstücke des internen Behördenverkehrs, die erst in den neunziger Jahren wiederentdeckt wurden. Ein ausführlicher Essay von Klaus Hermsdorf zeichnet Kafkas beruflichen Werdegang nach. Schließlich liefert der separate Materialienband eine Vielzahl von Texten, die ein umfassenderes, sozialgeschichtliches Verständnis von Kafkas beruflichen Aufgaben ermöglichen.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Die Kritische Ausgabe versammelt und erläutert sämtliche Schriften, die Kafka zwischen 1908 und 1922 im Dienst seiner Behörde verfasst oder unterschriftlich verantwortet hat: darunter Publikationen aus Fach- und Tagespresse, Texte für öffentliche Vorträge sowie zahlreiche bisher unveröffentlichte Schriftstücke des internen Behördenverkehrs, die erst in den neunziger Jahren wiederentdeckt wurden. Ein ausführlicher Essay von Klaus Hermsdorf zeichnet Kafkas beruflichen Werdegang nach. Schließlich liefert der separate Materialienband eine Vielzahl von Texten, die ein umfassenderes, sozialgeschichtliches Verständnis von Kafkas beruflichen Aufgaben ermöglichen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.02.2005War Kafka Sozialist?
Einsprüche: Die Kritische Ausgabe der "Amtlichen Schriften"
In den Nachtstunden, die er seinem Arbeitstag als Versicherungsjurist abrang, wenn in der elterlichen Wohnung alles schlief, brachte Franz Kafka seine Dichtung im beschwingten Zug seiner Handschrift, gleichsam schlafwandlerisch, wenn auch oft stockend, zu Papier. Er korrigierte und präzisierte ein paar Wortfolgen, strich hier und da ein paar Passagen, dann hatte er den Text vor Augen, schrieb ihn in der nächsten nächtlichen Sitzung weiter oder brach ihn ab und machte sich an einen neuen. In Briefen an Frauen schrieb er nicht weniger beschwingt, oft komödiantisch übertrieben, wie fehl am Platz er sich in seiner Tagesarbeit vorkam.
In dieser Doppelrolle als moderner Dichter und Bürokrat trat Kafka seinen Zeitgenossen Konstantin Kavafis und Fernando Pessoa an die Seite. Wenn er sich aus dem Trübsinn der Lebenswirklichkeit in die Vergeistigung der Dichtung aufschwang, folgte er dem Vorbild Baudelaires, der im Spleen von Paris geschrieben hatte: "Unzufrieden mit allen und unzufrieden mit mir, würde ich gern in der Stille und Einsamkeit der Nacht mein Ansehen wiedergewinnen und mich aufschwingen. (...) Herr mein Gott! gib mir die Gnade, ein paar schöne Verse hervorzubringen, die mir beweisen, daß ich nicht der letzte aller Menschen bin."
Wie verhielt sich diese Dichtung des Aufschwungs thematisch und formal zu den Jahresberichten und Schriftsätzen, die Kafka tagsüber auf Grund von Vorlagen und Akten über die Unfallversicherung der Arbeiter in den böhmischen Handwerks- und Industriebetrieben in die Maschine diktierte, als "anonym" bezeichnete und von seinen Vorgesetzten unterzeichnen ließ? Wirkte sich sein bürokratisches auf sein literarisches Schreiben aus? Läßt dieses eine kritische, vielleicht sogar politische Reflexion über seine Tätigkeit in der Arbeiter-Unfallsversicherungsanstalt erkennen? Seit Klaus Hermsdorf 1984 Kafkas gedruckte "amtliche Schriften" erstmals als Buch herausgab, hat man sich das gefragt.
Zwanzig Jahre später hat nun Hermsdorf, zusammen mit Benno Wagner, diese Schriften und dazu neu entdeckte Schriftsätze, die Kafka sicher oder vermutlich im Amt verfaßte, in einem Band der Kritischen Kafka-Ausgabe auf über tausend Seiten neu herausgegeben. Ein zweiter, fast gleich langer Band mit Materialien über die Arbeiter-Unfallversicherung zu Kafkas Zeiten liegt in Form einer Compact Disc dem gedruckten Bande bei. Hermsdorfs lange Einleitung und Wagners ausführliche Erläuterungen zu den einzelnen Texten stellen Kafkas amtliche Arbeit in allen Einzelheiten dar und geben neue Interpretationen ihres Verhältnisses zu seiner Dichtung vor.
Die österreichische Arbeiter-Unfallversicherung war nicht, wie die deutsche, berufsgenossenschaftlich aufgegliedert und nach dem Umlageverfahren finanziert, sondern umfaßte sämtliche Betriebe eines Reichsteils und beruhte auf dem Kapitaldeckungsprinzip. Sie erforderte daher besonders umfassende Kalküle universaler Vergleichbarkeit der Risiken und langfristiger Vorausberechnungen der Beiträge und Leistungen. Die betriebswirtschaftliche und gesellschaftspolitische Angemessenheit dieser versicherungswissenschaftlichen Systemlogik wurde jedoch von den Betroffenen immer wieder angezweifelt, ja umkämpft.
So wirkte Kafka an der permanenten Auseinandersetzung zwischen einer flächendeckenden, halbstaatlichen Versicherungsbürokratie und einer widerstrebenden Wirtschaft mit, die den Versicherungsprozeß nicht reibungslos funktionieren ließ. Daß die Prager Anstalt, die das gesamte "Königreich Böhmen" unter sich hatte, keine politische Befugnis zur konsequenten Erfüllung ihrer Aufgaben besaß - weder der Gefahrenklassifizierung noch der Unfallverhütung, noch der Inspektion der Betriebe -, machte ihre wesenhafte Schwäche aus.
Ihren Aktionen und Verlautbarungen fehlte die Autorität, die sie auf Grund der Systemlogik ihrer Organisation gegenüber allen Seiten in Anspruch nahm. In seinem ersten großen Bericht, "Umfang der Versicherungspflicht im Baugewerbe" von 1908 legt Kafka diese Logik kompromißlos dar. Doch im Klassenkonflikt einer Industrie, die in Wachstum und Modernisierung begriffen war, mit ihrer Arbeiterschaft ließ sie sich nicht ohne die ständigen Proteste, Prozesse und Kompromisse durchsetzen, von denen die "amtlichen Schriften" handeln.
Die Unternehmer erhoben Einspruch gegen ihre Gefahreneinstufung, befolgten die Sicherheitsvorschriften nicht, hintertrieben die Betriebsinspektionen und hinterzogen die Beiträge. Durch ihre Zahlungsverzögerungen, Ministerialrekurse und Gerichtsverfahren trieben sie Obstruktion. Durch geduldige Verhandlungen und Aufklärungsarbeit suchte die Anstalt sie davon zu überzeugen, daß konstruktive Mitarbeit in ihrem eigenen Interesse läge.
Die neue Ausgabe dokumentiert diese Auseinandersetzungen mit den Unternehmern in allen Verfahrensformen. Dagegen enthält sie kein einziges Zeugnis von Auseinandersetzungen mit Arbeitervertretungen oder einzelnen Arbeitern. Die hohen Zahlen tödlicher Arbeitsunfälle oder Verstümmelungen und die geringen Entschädigungstarife, die die Materialsammlung auf der Compact Disc dokumentiert, taten offenbar der Kooperationsbereitschaft von deren gewählten Repräsentanten in den Aufsichtsgremien der Anstalt keinen Abbruch.
Daß sich die Anstalt immer nur mit Unternehmern, nie mit Arbeitern auseinanderzusetzen hatte, war Kafka klar. Wie seine Rede zum Amtsantritt des neuen Direktors Dr. Robert Marschner vom März 1909 bezeugt, faßte er sie einseitig als Sachwalterin der Arbeiterinteressen innerhalb politisch enggezogener Grenzen auf. Aus einer Äußerung, die Max Brod überliefert, geht hervor, wie kraß er die gesellschaftliche Asymmetrie des Versicherungsprozesses beurteilte. Die Arbeiter "kommen zu uns bitten. Statt die Anstalt zu stürmen und alles kurz und klein zu schlagen, kommen sie bitten", sagte Kafka dem Vernehmen nach.
Kafkas Eingabe "Zur Begutachtungspraxis der Gewerbeinspektorate" von 1911, einer der bisher unbekannten Texte, die in der neuen Ausgabe abgedruckt sind, zeigt die Anstalt auf dem Tiefpunkt ihrer Durchsetzungsfähigkeit gegenüber den Unternehmern. Kafka gesteht darin die Diskrepanz zwischen ihrer offiziellen Selbstdarstellung und ihrer tatsächlichen Geschäftspraxis unumwunden ein. In seinen Romanen "Der Proceß" und "Das Schloß" hat er eine solche Schwäche, ja Hilflosigkeit der Bürokratie, die alle Beteiligten in endlosen Auslegungen zur perfekten Funktionslogik umzudeuten suchen, ironisiert und dramatisiert.
Daß Kafka seine Berufserfahrung aus der Bürokratie literarisch verarbeitet hat, wird seit langem angenommen. Aber wie? Die bisher ungedruckten Akten von Auseinandersetzungen mit einzelnen Unternehmern, die in der neuen Ausgabe zu lesen sind, liefern neue Argumente zur Beantwortung dieser alten Frage. Sie lassen erkennen, daß Kafka die expressive Widersetzlichkeit der "Parteien", die verbissen gegen die Logik des Versicherungsprozesses argumentieren, von Unternehmern auf arbeitende Subjekte übertrug, die gebildet genug sind, um ihre Interessen wortgewaltig, aber fehlgeleitet und daher schließlich erfolglos zur Geltung zu bringen.
Die beiden Hauptfiguren von "Proceß" und "Schloß", ein Bankprokurist und ein Landvermesser auf Stellungssuche, treten Gerichts- und Verwaltungsorganisationen entgegen, die sie einerseits bedrohen, andererseits von sich fernhalten, so daß ihnen die Konfrontation, die sie suchen, nie gelingt. Doch ebendeshalb bleiben jene Organisationen für die Beurteilung ihrer Fälle auf den immer komplexeren Selbstlauf interner Mechanismen angewiesen, statt aus Erfahrung handeln zu können. Mysteriöse Vermittlungsfiguren in untergeordneten Stellungen befördern dieses dysfunktionale Verfahren durch unsichere Botschaften und bizarre Erklärungen.
Im "Proceß" wird der Bankbeamte zu einer Voruntersuchung in einem Arbeiterquartier einbestellt, die ihm wie eine "politische Bezirksversammlung" - erst hatte Kafka "socialistische Bezirksversammlung" schreiben wollen - vorkommt und in der sich die "höheren Klassen" verantworten müssen. Im "Schloß" läßt sich der arbeitssuchende Landvermesser darauf ein, als Arbeiter eingestuft, das heißt benachteiligt und gedemütigt zu werden, und unterliegt deshalb im Arbeitskampf um eine Anstellung, die seiner Qualifizierung angemessen wäre und die man ihm versprochen hat.
In den Jahren 1917 bis 1922, als Revolutionen und Revolutionsversuche kommunistischer Arbeiterbewegungen in Ost- und Mitteleuropa niedergeschlagen wurden, schrieb Kafka eine Reihe von Grotesken über vergebliche Versuche von Arbeitern, durch Eingaben, Vorstellungen, ja Aufstände im Klassenkampf zu bestehen. Sie gipfeln in dem grimmigen Manifest einer Selbstorganisation der "besitzlosen Arbeiterschaft", die nur durch den Verzicht auf ein normales Leben funktionieren kann, und in dem revolutionären Aufruf eines Büroangestellten, der "fünf Kindergewehre" besitzt, an seine Mitbewohner in einer Arbeitermietskaserne, von denen er voraussetzt, daß sie ihm nicht folgen werden.
"Ich kann meiner Natur nach nur ein Mandat übernehmen, das niemand mir gegeben hat. In diesem Widerspruch, immer nur in einem Widerspruch kann ich leben", schrieb Kafka in einem Fragment. Hing er anarchistischen oder sozialistischen Ideen nach, wie seit Klaus Wagenbachs Biographie von 1958 auf Grund unsicherer Zeugnisse oft behauptet wird, zuletzt von Michael Löwy in seinem Buch "Franz Kafka: Rêveur insoumis" (Ed. Stock, Paris 2004)? Wenn ja, wären sie nur in seiner Dichtung zum Tragen gekommen.
Denn anders als Kavafis und Pessoa nahm Kafka die Denkform seiner bürokratischen Arbeit in seine Dichtung mit. Der Antagonismus zwischen Bürokratie und Subjekt gab dem existentiellen Umschwung vom amtlichen zum literarischen Schreiben, dem Aufstieg aus Trübsinn in Vergeistigung, den thematischen Rahmen vor. Hier stilisierte Kafka das unermüdliche Räsonieren gegen die Autorität dysfunktionaler Systeme zu einer existentiellen Grundhaltung, die den Arbeitskonflikt transzendiert und in alle Bereiche jener "Welt" ausgreift, von der er sicher war, daß er sie in sich trug.
Wenn Hermsdorf in seiner Einleitung und Wagner in seinen Kommentaren Kafkas amtliche und literarische Schreibweisen miteinander zu vereinbaren suchen, entgeht ihnen die Dialektik dieser Transzendenz der Bürokratie in die Literatur. Mit seinen Diskursanalysen im Gefolge von Foucault, Deleuze und Guattari stellt Wagner eine "unmittelbare Intertextualität" zwischen beiden fest. So kann er Kafkas Dichtungen als "Kafkas literarische Akten" apostrophieren, während Hermsdorf sie die "wahren, nämlich wahrhaftigen Amtsschriften Franz Kafkas" nennt. Trotz solcher äquivokatorischer Kurzschlüsse tragen die analytisch differenzierten Erläuterungen beider Herausgeber auf ihre Weise zur Entmystifizierung von Kafkas Dichtung bei, die seit geraumer Zeit im Gange ist.
OTTO KARL WERCKMEISTER
Franz Kafka: "Amtliche Schriften". Herausgegeben von Klaus Hermsdorf und Benno Wagner. Mit einer CD-ROM. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004. 1024 S., geb., 178,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Einsprüche: Die Kritische Ausgabe der "Amtlichen Schriften"
In den Nachtstunden, die er seinem Arbeitstag als Versicherungsjurist abrang, wenn in der elterlichen Wohnung alles schlief, brachte Franz Kafka seine Dichtung im beschwingten Zug seiner Handschrift, gleichsam schlafwandlerisch, wenn auch oft stockend, zu Papier. Er korrigierte und präzisierte ein paar Wortfolgen, strich hier und da ein paar Passagen, dann hatte er den Text vor Augen, schrieb ihn in der nächsten nächtlichen Sitzung weiter oder brach ihn ab und machte sich an einen neuen. In Briefen an Frauen schrieb er nicht weniger beschwingt, oft komödiantisch übertrieben, wie fehl am Platz er sich in seiner Tagesarbeit vorkam.
In dieser Doppelrolle als moderner Dichter und Bürokrat trat Kafka seinen Zeitgenossen Konstantin Kavafis und Fernando Pessoa an die Seite. Wenn er sich aus dem Trübsinn der Lebenswirklichkeit in die Vergeistigung der Dichtung aufschwang, folgte er dem Vorbild Baudelaires, der im Spleen von Paris geschrieben hatte: "Unzufrieden mit allen und unzufrieden mit mir, würde ich gern in der Stille und Einsamkeit der Nacht mein Ansehen wiedergewinnen und mich aufschwingen. (...) Herr mein Gott! gib mir die Gnade, ein paar schöne Verse hervorzubringen, die mir beweisen, daß ich nicht der letzte aller Menschen bin."
Wie verhielt sich diese Dichtung des Aufschwungs thematisch und formal zu den Jahresberichten und Schriftsätzen, die Kafka tagsüber auf Grund von Vorlagen und Akten über die Unfallversicherung der Arbeiter in den böhmischen Handwerks- und Industriebetrieben in die Maschine diktierte, als "anonym" bezeichnete und von seinen Vorgesetzten unterzeichnen ließ? Wirkte sich sein bürokratisches auf sein literarisches Schreiben aus? Läßt dieses eine kritische, vielleicht sogar politische Reflexion über seine Tätigkeit in der Arbeiter-Unfallsversicherungsanstalt erkennen? Seit Klaus Hermsdorf 1984 Kafkas gedruckte "amtliche Schriften" erstmals als Buch herausgab, hat man sich das gefragt.
Zwanzig Jahre später hat nun Hermsdorf, zusammen mit Benno Wagner, diese Schriften und dazu neu entdeckte Schriftsätze, die Kafka sicher oder vermutlich im Amt verfaßte, in einem Band der Kritischen Kafka-Ausgabe auf über tausend Seiten neu herausgegeben. Ein zweiter, fast gleich langer Band mit Materialien über die Arbeiter-Unfallversicherung zu Kafkas Zeiten liegt in Form einer Compact Disc dem gedruckten Bande bei. Hermsdorfs lange Einleitung und Wagners ausführliche Erläuterungen zu den einzelnen Texten stellen Kafkas amtliche Arbeit in allen Einzelheiten dar und geben neue Interpretationen ihres Verhältnisses zu seiner Dichtung vor.
Die österreichische Arbeiter-Unfallversicherung war nicht, wie die deutsche, berufsgenossenschaftlich aufgegliedert und nach dem Umlageverfahren finanziert, sondern umfaßte sämtliche Betriebe eines Reichsteils und beruhte auf dem Kapitaldeckungsprinzip. Sie erforderte daher besonders umfassende Kalküle universaler Vergleichbarkeit der Risiken und langfristiger Vorausberechnungen der Beiträge und Leistungen. Die betriebswirtschaftliche und gesellschaftspolitische Angemessenheit dieser versicherungswissenschaftlichen Systemlogik wurde jedoch von den Betroffenen immer wieder angezweifelt, ja umkämpft.
So wirkte Kafka an der permanenten Auseinandersetzung zwischen einer flächendeckenden, halbstaatlichen Versicherungsbürokratie und einer widerstrebenden Wirtschaft mit, die den Versicherungsprozeß nicht reibungslos funktionieren ließ. Daß die Prager Anstalt, die das gesamte "Königreich Böhmen" unter sich hatte, keine politische Befugnis zur konsequenten Erfüllung ihrer Aufgaben besaß - weder der Gefahrenklassifizierung noch der Unfallverhütung, noch der Inspektion der Betriebe -, machte ihre wesenhafte Schwäche aus.
Ihren Aktionen und Verlautbarungen fehlte die Autorität, die sie auf Grund der Systemlogik ihrer Organisation gegenüber allen Seiten in Anspruch nahm. In seinem ersten großen Bericht, "Umfang der Versicherungspflicht im Baugewerbe" von 1908 legt Kafka diese Logik kompromißlos dar. Doch im Klassenkonflikt einer Industrie, die in Wachstum und Modernisierung begriffen war, mit ihrer Arbeiterschaft ließ sie sich nicht ohne die ständigen Proteste, Prozesse und Kompromisse durchsetzen, von denen die "amtlichen Schriften" handeln.
Die Unternehmer erhoben Einspruch gegen ihre Gefahreneinstufung, befolgten die Sicherheitsvorschriften nicht, hintertrieben die Betriebsinspektionen und hinterzogen die Beiträge. Durch ihre Zahlungsverzögerungen, Ministerialrekurse und Gerichtsverfahren trieben sie Obstruktion. Durch geduldige Verhandlungen und Aufklärungsarbeit suchte die Anstalt sie davon zu überzeugen, daß konstruktive Mitarbeit in ihrem eigenen Interesse läge.
Die neue Ausgabe dokumentiert diese Auseinandersetzungen mit den Unternehmern in allen Verfahrensformen. Dagegen enthält sie kein einziges Zeugnis von Auseinandersetzungen mit Arbeitervertretungen oder einzelnen Arbeitern. Die hohen Zahlen tödlicher Arbeitsunfälle oder Verstümmelungen und die geringen Entschädigungstarife, die die Materialsammlung auf der Compact Disc dokumentiert, taten offenbar der Kooperationsbereitschaft von deren gewählten Repräsentanten in den Aufsichtsgremien der Anstalt keinen Abbruch.
Daß sich die Anstalt immer nur mit Unternehmern, nie mit Arbeitern auseinanderzusetzen hatte, war Kafka klar. Wie seine Rede zum Amtsantritt des neuen Direktors Dr. Robert Marschner vom März 1909 bezeugt, faßte er sie einseitig als Sachwalterin der Arbeiterinteressen innerhalb politisch enggezogener Grenzen auf. Aus einer Äußerung, die Max Brod überliefert, geht hervor, wie kraß er die gesellschaftliche Asymmetrie des Versicherungsprozesses beurteilte. Die Arbeiter "kommen zu uns bitten. Statt die Anstalt zu stürmen und alles kurz und klein zu schlagen, kommen sie bitten", sagte Kafka dem Vernehmen nach.
Kafkas Eingabe "Zur Begutachtungspraxis der Gewerbeinspektorate" von 1911, einer der bisher unbekannten Texte, die in der neuen Ausgabe abgedruckt sind, zeigt die Anstalt auf dem Tiefpunkt ihrer Durchsetzungsfähigkeit gegenüber den Unternehmern. Kafka gesteht darin die Diskrepanz zwischen ihrer offiziellen Selbstdarstellung und ihrer tatsächlichen Geschäftspraxis unumwunden ein. In seinen Romanen "Der Proceß" und "Das Schloß" hat er eine solche Schwäche, ja Hilflosigkeit der Bürokratie, die alle Beteiligten in endlosen Auslegungen zur perfekten Funktionslogik umzudeuten suchen, ironisiert und dramatisiert.
Daß Kafka seine Berufserfahrung aus der Bürokratie literarisch verarbeitet hat, wird seit langem angenommen. Aber wie? Die bisher ungedruckten Akten von Auseinandersetzungen mit einzelnen Unternehmern, die in der neuen Ausgabe zu lesen sind, liefern neue Argumente zur Beantwortung dieser alten Frage. Sie lassen erkennen, daß Kafka die expressive Widersetzlichkeit der "Parteien", die verbissen gegen die Logik des Versicherungsprozesses argumentieren, von Unternehmern auf arbeitende Subjekte übertrug, die gebildet genug sind, um ihre Interessen wortgewaltig, aber fehlgeleitet und daher schließlich erfolglos zur Geltung zu bringen.
Die beiden Hauptfiguren von "Proceß" und "Schloß", ein Bankprokurist und ein Landvermesser auf Stellungssuche, treten Gerichts- und Verwaltungsorganisationen entgegen, die sie einerseits bedrohen, andererseits von sich fernhalten, so daß ihnen die Konfrontation, die sie suchen, nie gelingt. Doch ebendeshalb bleiben jene Organisationen für die Beurteilung ihrer Fälle auf den immer komplexeren Selbstlauf interner Mechanismen angewiesen, statt aus Erfahrung handeln zu können. Mysteriöse Vermittlungsfiguren in untergeordneten Stellungen befördern dieses dysfunktionale Verfahren durch unsichere Botschaften und bizarre Erklärungen.
Im "Proceß" wird der Bankbeamte zu einer Voruntersuchung in einem Arbeiterquartier einbestellt, die ihm wie eine "politische Bezirksversammlung" - erst hatte Kafka "socialistische Bezirksversammlung" schreiben wollen - vorkommt und in der sich die "höheren Klassen" verantworten müssen. Im "Schloß" läßt sich der arbeitssuchende Landvermesser darauf ein, als Arbeiter eingestuft, das heißt benachteiligt und gedemütigt zu werden, und unterliegt deshalb im Arbeitskampf um eine Anstellung, die seiner Qualifizierung angemessen wäre und die man ihm versprochen hat.
In den Jahren 1917 bis 1922, als Revolutionen und Revolutionsversuche kommunistischer Arbeiterbewegungen in Ost- und Mitteleuropa niedergeschlagen wurden, schrieb Kafka eine Reihe von Grotesken über vergebliche Versuche von Arbeitern, durch Eingaben, Vorstellungen, ja Aufstände im Klassenkampf zu bestehen. Sie gipfeln in dem grimmigen Manifest einer Selbstorganisation der "besitzlosen Arbeiterschaft", die nur durch den Verzicht auf ein normales Leben funktionieren kann, und in dem revolutionären Aufruf eines Büroangestellten, der "fünf Kindergewehre" besitzt, an seine Mitbewohner in einer Arbeitermietskaserne, von denen er voraussetzt, daß sie ihm nicht folgen werden.
"Ich kann meiner Natur nach nur ein Mandat übernehmen, das niemand mir gegeben hat. In diesem Widerspruch, immer nur in einem Widerspruch kann ich leben", schrieb Kafka in einem Fragment. Hing er anarchistischen oder sozialistischen Ideen nach, wie seit Klaus Wagenbachs Biographie von 1958 auf Grund unsicherer Zeugnisse oft behauptet wird, zuletzt von Michael Löwy in seinem Buch "Franz Kafka: Rêveur insoumis" (Ed. Stock, Paris 2004)? Wenn ja, wären sie nur in seiner Dichtung zum Tragen gekommen.
Denn anders als Kavafis und Pessoa nahm Kafka die Denkform seiner bürokratischen Arbeit in seine Dichtung mit. Der Antagonismus zwischen Bürokratie und Subjekt gab dem existentiellen Umschwung vom amtlichen zum literarischen Schreiben, dem Aufstieg aus Trübsinn in Vergeistigung, den thematischen Rahmen vor. Hier stilisierte Kafka das unermüdliche Räsonieren gegen die Autorität dysfunktionaler Systeme zu einer existentiellen Grundhaltung, die den Arbeitskonflikt transzendiert und in alle Bereiche jener "Welt" ausgreift, von der er sicher war, daß er sie in sich trug.
Wenn Hermsdorf in seiner Einleitung und Wagner in seinen Kommentaren Kafkas amtliche und literarische Schreibweisen miteinander zu vereinbaren suchen, entgeht ihnen die Dialektik dieser Transzendenz der Bürokratie in die Literatur. Mit seinen Diskursanalysen im Gefolge von Foucault, Deleuze und Guattari stellt Wagner eine "unmittelbare Intertextualität" zwischen beiden fest. So kann er Kafkas Dichtungen als "Kafkas literarische Akten" apostrophieren, während Hermsdorf sie die "wahren, nämlich wahrhaftigen Amtsschriften Franz Kafkas" nennt. Trotz solcher äquivokatorischer Kurzschlüsse tragen die analytisch differenzierten Erläuterungen beider Herausgeber auf ihre Weise zur Entmystifizierung von Kafkas Dichtung bei, die seit geraumer Zeit im Gange ist.
OTTO KARL WERCKMEISTER
Franz Kafka: "Amtliche Schriften". Herausgegeben von Klaus Hermsdorf und Benno Wagner. Mit einer CD-ROM. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004. 1024 S., geb., 178,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Auch wenn sich Klaus Hermsdorfs und Benno Wagners Unternehmen einer Kritischen Ausgabe der "Amtlichen Schriften" Franz Kafkas zunächst nach einer trockenen Lektüre anhört, kann sie Andreas Maier uneingeschränkt empfehlen, auch und gerade Kafka-Amateuren. Denn mit den Stücken, die Kafka als "Concipist" für die Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt des Königreichs Böhmen in Prag erstellte, werde eine bisher eher unbekannte, aber sehr prominente Seite von Kafkas Existenz gegenwärtig, der einen Großteil seines Tages in der riesigen Behörde verbrachte. Irgendwann könne sich der Leser diesen "Monsterapparat" sehr anschaulich vorstellen. Der Rezensent kann sich nun auch vorstellen, wie Kafka "Der Prozess" schreiben konnte, wo der Held schließlich in der Bürokratie untergeht. Zudem verstecken sich in den 1024 Seiten viele "Trouvaillen", etwa die "Unfallverhütungsmaßregel bei Holzhobelmaschinen", in der Maier sogar die "herrlich luziden Kafka-Satzperioden" erkannt haben will.
© Perlentaucher Medien GmbH
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