Neben Berichten über Inspektionsreisen, Protokollen und Eingaben dokumentiert dieser Band auch Stifters Bemühungen um eine vorzeitige Versetzung in den Ruhestand. Neben gesundheitlichen Gründen spielte dabei auch die zunehmende Resignation über die mangelnde Resonanz, ja Ablehnung seiner Initiativen und Reformvorschläge eine gewichtige Rolle.Auch dieser Band enthält bislang unbekannte Stifter-Texte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.12.2019Als man Bosheit und Halsstarrigkeit lehrte
Adalbert Stifter war auch Pädagoge, und wie seine "Amtlichen Schriften" zeigen, ein ganz moderner
Ein alter Mann sucht Erholung im Wald, im Grenzgebiet von Bayern und Böhmen. Nach der Ankunft in der Ferienunterkunft besucht er das Schulhaus der kleinen Siedlung, "welches auf dem Anger unter lauter Kirschbäumen stand und auf allen Seiten von oben bis unten mit Schindeln bedeckt war". Der örtliche Lehrer beklagt sich darüber, dass ihn seine "Vorgesetzten so lange in diesem unwirthbaren Waldwinkel und bei so rohen Menschen gelassen haben". Ob er denn seine Schüler so gar nicht "verbessern und veredeln" könne, fragt der Besucher. "Ja, wenn die Eltern nicht wieder alles verdürben", antwortet der Lehrer, "die Kinder lernen Halsstarrigkeit und Bosheit." Besonders bei einem bestimmten "wilden" Mädchen sei alle Zuwendung vergeblich, es sage kein Wort in der Schule, schneide nur Grimassen und terrorisiere auf dem Heimweg die anderen Kinder. Der Besucher hört sich das alles an und entwickelt in der Folge eine pädagogische Strategie, um das Mädchen aus seiner Isolation herauszuholen.
So steht es in Adalbert Stifters später Erzählung "Der Waldbrunnen", entstanden im Herbst 1865, zu einem Zeitpunkt also, in dem der Autor sein Amt als Schulrat wegen einer Krankheit schon seit mehr als einem Jahr nicht mehr tätlich ausübte und wenige Wochen später in den Ruhestand versetzt werden sollte. Es ist nicht die einzige Erzählung Stifters, in der eine Pädagogik diskutiert und praktiziert wird - man denke nur an das große Erziehungswerk, was sich in dem ansonsten eher handlungsarmen Roman "Der Nachsommer" vollzieht, oder an das Scheitern eines solchen an dem "braunen Mädchen" in der früheren Erzählung "Katzensilber".
Dass aber die Beschäftigung damit einem tatsächlichen Interesse Stifters an pädagogischen Fragen entsprungen war und er sein Amt als Schulrat keineswegs als bloßen Brotberuf auffasste, lässt sich erst jetzt in vollem Umfang ermessen. Im Rahmen der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe der Werke und Briefe Adalbert Stifters, die seit 1978 sukzessive in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften erstellt wird und im Kohlhammer-Verlag erscheint (F.A.Z. vom 6. September 2017), wurde nun die zehnte Abteilung abgeschlossen, die sich den "Amtlichen Schriften zu Schule und Universität" widmet. Der Passauer Germanist Walter Seifert hat in den sechs Bänden dieser Sektion - die Hälfte davon Apparat und Kommentar - mehr als sechshundert Berichte, Eingaben, Gutachten und ähnliches versammelt, zahlreiche davon waren der Forschung zuvor unbekannt und erscheinen hier erstmals im Druck. Ein Teil davon konnte, nachdem Akten verlorengegangen oder geplant vernichtet worden sind, lediglich aus Regesten erschlossen werden. Auch diese Hinweise sind den Forschungen des Herausgebers zu verdanken, die offenbar bis zuletzt fruchtbar waren - der jetzt erschienene dritte Kommentarband verzeichnet noch einmal acht Nachträge.
Bereits 1849, ein Jahr vor seiner Bestallung als Schulrat, hatte sich Stifter in einer Folge von Artikeln zu grundsätzlichen Fragen der Pädagogik und der Schulorganisation geäußert. Er prangert darin die "Unfreiheit der Geistesentwicklung und das Maschinenartige des Erlernens" im Unterricht an, beides resultierend aus einem Prüfungswesen für Lehreraspiranten, das keine pädagogische Befähigung belohne, sondern die möglichst exakte Wiedergabe des vorgeschriebenen Lehrbuchs. Zugleich setzt er große Hoffnungen in eine Pädagogik, die insbesondere Unterprivilegierte erreiche, moralisch erziehe und dadurch implizit von aufrührerischen Neigungen abbringe: "Es war eine tausendjährige Sünde daß man ganze Schichten der menschlichen Gesellschaft in einem Zustand ließ in welchem sie, menschlich unfrei und unentwickelt, die Opfer ihrer Leidenschaften waren, und in bewegten Zeiten dem Staate, der besseren Gesellschaft und sich selber die Gefahr des Untergangs bereiteten." Dass Stifter in diesem Fall auf der Seite der Unfreien ist, macht er deutlich.
Die ersten fünf Jahre im Amt des Schulrats, so scheint es, waren seine besten. Er brachte unter anderem die Einrichtung der Realschule in Linz auf den Weg und wirkte entscheidend an der Umsetzung des Lehrplans wie der räumlichen Vorstellungen für diese Schule mit. Er besuchte Unterrichtsstunden in verschiedenen Schulen und fertigte Gutachten zur Leistung einzelner Lehrer, hörte sich deren Wünsche und Klagen über die materiellen Bedingungen ihres Wirkens an und berichtete auch hierüber. Erschreckend sind bisweilen seine Ausführungen über vernachlässigte Räumlichkeiten mit Löchern in Wänden und Dächern, über miserabel besoldete oder schlecht ausgebildete Lehrer auf dem Land sowie über die weiten Wege der Kinder, denen er durch die Einrichtung von näher gelegenen Schulen abhelfen wollte - dies allerdings mit wachsamem Blick auf die Gefahr einer pädagogischen Willkür und einer Neigung seitens der Gemeinden, für das Schulproblem eine möglichst günstige Lösung zu finden
Soweit es aus den Akten hervorgeht, die hier in vorzüglicher Akribie ausgewertet worden sind, war Stifter damit anfangs erfolgreich, auch wenn es schon rasch nach der Einrichtung der Linzer Realschule zu Problemen kam: Nachdem deren Leiter bald wieder abgesetzt werden musste, sollte der unselige Johann Aprent, der später mit besonderem Ehrgeiz Stifters Manuskripte bearbeitete und dabei die eigene Handschrift der seines verstorbenen Freundes möglichst ähnlich machte, als Nachfolger der Schule vorstehen, womit sich Stifter aber nicht durchsetzen konnte.
Allerdings hatte Stifter zunehmend mit einer restaurativen Tendenz zu kämpfen, die den Einfluss der katholischen Kirche auf die Schulen des Landes verstärkte und sie ihr im August 1855, im Konkordat, schließlich wieder vollständig unterstellte. Besonders in der Frage einer längeren und gründlicheren Lehrerausbildung kämpfte er gegen Widerstand an. Seine Vorstellung von einem Menschenrecht auf Bildung, von einer Unterrichtsmethodik, die sich am Alter und am Horizont des Kindes orientiert, von einem eigenständigen Erfassen der Inhalte, statt sie unverstanden auswendig zu lernen, wurde - so selbstverständlich all dies heute erscheint - ausdrücklich zurückgewiesen: Wozu denn jemand eine zierliche Handschrift erwerben solle, die er doch bei der Arbeit auf dem Feld in kürzester Zeit wieder verlerne?
Eine wesentliche Erkenntnis, die diese Ausgabe ermöglicht, ist die, welche Ausdauer und Gründlichkeit Stifter auf seinen Inspektionsreisen zeigte, und im Umkehrschluss: wie bösartig das Urteil seines Feindes Josef Freiherr von Helfert war. Der Unterstaatssekretär im Unterrichtsministerium warf Stifter noch Jahre nach dessen Tod Faulheit und Geschwätzigkeit vor, zudem eine Unlust zur Reise, "weil er sich von seiner Amalia nicht trennen wollte und sie auf die Reise mitzunehmen mehr kostete als die Diäten abwarfen".
Es hat nicht den Anschein, als hätte Stifter das Ausscheiden aus dem Dienst bereut. Seine Vorstellung eines geglückten Unterrichts aber führt er im "Waldbrunnen" noch einmal aus. Denn der Fremde, der sich der wilden Juliane annimmt, bringt sie mit Freundlichkeit und einem pädagogischen System dazu, dass sich das Kind, das - wie er ahnt - durchaus gern lernen will, für den Unterricht öffnet. Er demonstriert damit ein weiteres Mal, was seinen amtlichen Schriften, wo er die pädagogischen Leistungen eines Lehrers beurteilt, oft eingeschrieben ist: Wer lehren will und sich nicht in seine Schüler hineinversetzen kann, wird nicht weit kommen. Dass die Saat seiner Überzeugungen auch im österreichischen Bildungswesen aufgehen sollte, hat Adalbert Stifter nicht mehr erlebt.
TILMAN SPRECKELSEN
Adalbert Stifter: "Amtliche Schriften zu Schule und Universität". Apparat und Kommentar, Teil III. Werke Bd. 10,6.
Hrsg. von Walter Seifert. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2019.
591 S., geb., 470,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Adalbert Stifter war auch Pädagoge, und wie seine "Amtlichen Schriften" zeigen, ein ganz moderner
Ein alter Mann sucht Erholung im Wald, im Grenzgebiet von Bayern und Böhmen. Nach der Ankunft in der Ferienunterkunft besucht er das Schulhaus der kleinen Siedlung, "welches auf dem Anger unter lauter Kirschbäumen stand und auf allen Seiten von oben bis unten mit Schindeln bedeckt war". Der örtliche Lehrer beklagt sich darüber, dass ihn seine "Vorgesetzten so lange in diesem unwirthbaren Waldwinkel und bei so rohen Menschen gelassen haben". Ob er denn seine Schüler so gar nicht "verbessern und veredeln" könne, fragt der Besucher. "Ja, wenn die Eltern nicht wieder alles verdürben", antwortet der Lehrer, "die Kinder lernen Halsstarrigkeit und Bosheit." Besonders bei einem bestimmten "wilden" Mädchen sei alle Zuwendung vergeblich, es sage kein Wort in der Schule, schneide nur Grimassen und terrorisiere auf dem Heimweg die anderen Kinder. Der Besucher hört sich das alles an und entwickelt in der Folge eine pädagogische Strategie, um das Mädchen aus seiner Isolation herauszuholen.
So steht es in Adalbert Stifters später Erzählung "Der Waldbrunnen", entstanden im Herbst 1865, zu einem Zeitpunkt also, in dem der Autor sein Amt als Schulrat wegen einer Krankheit schon seit mehr als einem Jahr nicht mehr tätlich ausübte und wenige Wochen später in den Ruhestand versetzt werden sollte. Es ist nicht die einzige Erzählung Stifters, in der eine Pädagogik diskutiert und praktiziert wird - man denke nur an das große Erziehungswerk, was sich in dem ansonsten eher handlungsarmen Roman "Der Nachsommer" vollzieht, oder an das Scheitern eines solchen an dem "braunen Mädchen" in der früheren Erzählung "Katzensilber".
Dass aber die Beschäftigung damit einem tatsächlichen Interesse Stifters an pädagogischen Fragen entsprungen war und er sein Amt als Schulrat keineswegs als bloßen Brotberuf auffasste, lässt sich erst jetzt in vollem Umfang ermessen. Im Rahmen der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe der Werke und Briefe Adalbert Stifters, die seit 1978 sukzessive in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften erstellt wird und im Kohlhammer-Verlag erscheint (F.A.Z. vom 6. September 2017), wurde nun die zehnte Abteilung abgeschlossen, die sich den "Amtlichen Schriften zu Schule und Universität" widmet. Der Passauer Germanist Walter Seifert hat in den sechs Bänden dieser Sektion - die Hälfte davon Apparat und Kommentar - mehr als sechshundert Berichte, Eingaben, Gutachten und ähnliches versammelt, zahlreiche davon waren der Forschung zuvor unbekannt und erscheinen hier erstmals im Druck. Ein Teil davon konnte, nachdem Akten verlorengegangen oder geplant vernichtet worden sind, lediglich aus Regesten erschlossen werden. Auch diese Hinweise sind den Forschungen des Herausgebers zu verdanken, die offenbar bis zuletzt fruchtbar waren - der jetzt erschienene dritte Kommentarband verzeichnet noch einmal acht Nachträge.
Bereits 1849, ein Jahr vor seiner Bestallung als Schulrat, hatte sich Stifter in einer Folge von Artikeln zu grundsätzlichen Fragen der Pädagogik und der Schulorganisation geäußert. Er prangert darin die "Unfreiheit der Geistesentwicklung und das Maschinenartige des Erlernens" im Unterricht an, beides resultierend aus einem Prüfungswesen für Lehreraspiranten, das keine pädagogische Befähigung belohne, sondern die möglichst exakte Wiedergabe des vorgeschriebenen Lehrbuchs. Zugleich setzt er große Hoffnungen in eine Pädagogik, die insbesondere Unterprivilegierte erreiche, moralisch erziehe und dadurch implizit von aufrührerischen Neigungen abbringe: "Es war eine tausendjährige Sünde daß man ganze Schichten der menschlichen Gesellschaft in einem Zustand ließ in welchem sie, menschlich unfrei und unentwickelt, die Opfer ihrer Leidenschaften waren, und in bewegten Zeiten dem Staate, der besseren Gesellschaft und sich selber die Gefahr des Untergangs bereiteten." Dass Stifter in diesem Fall auf der Seite der Unfreien ist, macht er deutlich.
Die ersten fünf Jahre im Amt des Schulrats, so scheint es, waren seine besten. Er brachte unter anderem die Einrichtung der Realschule in Linz auf den Weg und wirkte entscheidend an der Umsetzung des Lehrplans wie der räumlichen Vorstellungen für diese Schule mit. Er besuchte Unterrichtsstunden in verschiedenen Schulen und fertigte Gutachten zur Leistung einzelner Lehrer, hörte sich deren Wünsche und Klagen über die materiellen Bedingungen ihres Wirkens an und berichtete auch hierüber. Erschreckend sind bisweilen seine Ausführungen über vernachlässigte Räumlichkeiten mit Löchern in Wänden und Dächern, über miserabel besoldete oder schlecht ausgebildete Lehrer auf dem Land sowie über die weiten Wege der Kinder, denen er durch die Einrichtung von näher gelegenen Schulen abhelfen wollte - dies allerdings mit wachsamem Blick auf die Gefahr einer pädagogischen Willkür und einer Neigung seitens der Gemeinden, für das Schulproblem eine möglichst günstige Lösung zu finden
Soweit es aus den Akten hervorgeht, die hier in vorzüglicher Akribie ausgewertet worden sind, war Stifter damit anfangs erfolgreich, auch wenn es schon rasch nach der Einrichtung der Linzer Realschule zu Problemen kam: Nachdem deren Leiter bald wieder abgesetzt werden musste, sollte der unselige Johann Aprent, der später mit besonderem Ehrgeiz Stifters Manuskripte bearbeitete und dabei die eigene Handschrift der seines verstorbenen Freundes möglichst ähnlich machte, als Nachfolger der Schule vorstehen, womit sich Stifter aber nicht durchsetzen konnte.
Allerdings hatte Stifter zunehmend mit einer restaurativen Tendenz zu kämpfen, die den Einfluss der katholischen Kirche auf die Schulen des Landes verstärkte und sie ihr im August 1855, im Konkordat, schließlich wieder vollständig unterstellte. Besonders in der Frage einer längeren und gründlicheren Lehrerausbildung kämpfte er gegen Widerstand an. Seine Vorstellung von einem Menschenrecht auf Bildung, von einer Unterrichtsmethodik, die sich am Alter und am Horizont des Kindes orientiert, von einem eigenständigen Erfassen der Inhalte, statt sie unverstanden auswendig zu lernen, wurde - so selbstverständlich all dies heute erscheint - ausdrücklich zurückgewiesen: Wozu denn jemand eine zierliche Handschrift erwerben solle, die er doch bei der Arbeit auf dem Feld in kürzester Zeit wieder verlerne?
Eine wesentliche Erkenntnis, die diese Ausgabe ermöglicht, ist die, welche Ausdauer und Gründlichkeit Stifter auf seinen Inspektionsreisen zeigte, und im Umkehrschluss: wie bösartig das Urteil seines Feindes Josef Freiherr von Helfert war. Der Unterstaatssekretär im Unterrichtsministerium warf Stifter noch Jahre nach dessen Tod Faulheit und Geschwätzigkeit vor, zudem eine Unlust zur Reise, "weil er sich von seiner Amalia nicht trennen wollte und sie auf die Reise mitzunehmen mehr kostete als die Diäten abwarfen".
Es hat nicht den Anschein, als hätte Stifter das Ausscheiden aus dem Dienst bereut. Seine Vorstellung eines geglückten Unterrichts aber führt er im "Waldbrunnen" noch einmal aus. Denn der Fremde, der sich der wilden Juliane annimmt, bringt sie mit Freundlichkeit und einem pädagogischen System dazu, dass sich das Kind, das - wie er ahnt - durchaus gern lernen will, für den Unterricht öffnet. Er demonstriert damit ein weiteres Mal, was seinen amtlichen Schriften, wo er die pädagogischen Leistungen eines Lehrers beurteilt, oft eingeschrieben ist: Wer lehren will und sich nicht in seine Schüler hineinversetzen kann, wird nicht weit kommen. Dass die Saat seiner Überzeugungen auch im österreichischen Bildungswesen aufgehen sollte, hat Adalbert Stifter nicht mehr erlebt.
TILMAN SPRECKELSEN
Adalbert Stifter: "Amtliche Schriften zu Schule und Universität". Apparat und Kommentar, Teil III. Werke Bd. 10,6.
Hrsg. von Walter Seifert. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2019.
591 S., geb., 470,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main