Wenn es im Fernsehen um Israel, den Nahostkonflikt oder die Juden geht, kommt er meistens ins Bild: Avi Primor, früherer Botschafter des Staates Israel in Deutschland. Zusammen mit der Journalistin Christiane von Korff legt er offen, was Antisemitismus heute ist und was nicht. Den viel beschworenen und immer wieder befürchteten »neuen« Antisemitismus kann er jedenfalls nicht erkennen. Unverkrampft und sehr persönlich schildert Primor auch seine eigenen Erfahrungen als Israeli und Jude, die er im »Land des Holocaust« sammeln konnte. Nicht umsonst ist er der bis heute am häufigsten gerügte Botschafter Israels. Das Recht auf eine eigene Meinung ließ er sich von niemandem nehmen. Gerade diese Freiheit im Denken macht das Buch einzigartig.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.05.2010Und was ist mit Österreich?
Vorurteile und fatale Missverständnisse zwischen Deutschen und Juden
Im Vorwort erläutert Avi Primor den Titel seines Buches: "Ein älterer Jude findet sich plötzlich von Nazis umringt, die ihn zu Boden schlagen und höhnisch fragen: ,Na, Jude, wer ist denn schuld am Krieg?' Der kleine Jude ist nicht auf den Kopf gefallen und antwortet: ,Die Juden und die Radfahrer.' ,Warum die Radfahrer?', fragen die Nazis. ,Warum die Juden?', kontert der alte Mann." Und er erwähnt in dem Zusammenhang Carlo Schmid, der den jüdischen Witz einmal als Tränen bezeichnet habe, die zu einem Lachen geworden seien, das - so Primor - "den Zuhörern schon mal im Halse steckenbleibt".
Es waren "die Juden" - und es sind vielfach heute wieder "die Juden", die für alles verantwortlich sind. Die Frage "Warum die Juden?" ist offensichtlich so aktuell wie eh und je. Es geht um Vorurteile und leichthin formulierte Aussagen, die weiterhin zu fatalen Missverständnissen zwischen Deutschen und Juden führen. Dabei greift Primor allerdings etwas zu kurz, wenn er schreibt: "Ohne Zweifel ist beim Thema Antisemitismus Deutschland der interessanteste unter allen europäischen Staaten." Da würde der Rezensent ihm empfehlen, doch einmal einen Blick auf Österreich zu werfen, das bei Primor überhaupt nicht vorkommt.
Das Buch will aufklären und in erster Linie zu einem "besseren, weil freieren Verhältnis" von Deutschen und Juden führen. Wie kaum ein anderer ist Avi Primor dazu berufen, diesen Versuch zu unternehmen. Von 1993 bis 1999 war er Botschafter in der Bundesrepublik, schickte seinen Sohn sogar in ein deutsches Gymnasium. Seit damals setzt er sich massiv für die Versöhnung zwischen Deutschen und Israelis ein. Das war ursprünglich alles andere als selbstverständlich. Seine Mutter war 1932 aus Frankfurt am Main nach Palästina gegangen - ihre gesamte Familie wurde im Holocaust ermordet. Das prägte lange Zeit auch Avi, der 1935 in Tel Aviv geboren wurde: Die Familie wollte mit Deutschen nichts mehr zu tun haben. Erst als Botschafter änderte sich Primors Bild von den Deutschen grundsätzlich: "Die Deutschen wollen Antisemitismus nicht zulassen." Und: Deutschland ist das Land, "das mehr als irgendein anderes in der Welt Gewissenserforschung betreibt". Das ändert nach Meinung Primors nichts an der Tatsache, dass es nach wie vor Antisemiten gibt. Und hier setzt er aufklärerisch an und nennt zunächst zwölf Vorurteile, die keineswegs nur deutsche Antisemiten pflegen und hegen. Das reicht vom Vorurteil eins: "Sieben Milliarden Menschen werden von zwölf Millionen Juden beherrscht", oder "Alle Juden sind so reich wie Rockefeller", "Auschwitz ist ein profitables Unternehmen der Juden", "Die Juden haben Jesus ermordet", bis Vorurteil zwölf: "Der antisemitische Phönix steigt wieder aus der Asche."
Zu jedem dieser Vorurteile äußert sich Primor zunächst ausführlich auf jeweils 15 bis 20 Seiten, um dann auf vertiefende Nachfragen der Journalistin Christiane von Korff zu antworten. Dabei nehmen die deutsch-israelischen Beziehungen und vor allem die deutschen Wiedergutmachungsbemühungen einen großen Raum ein, von den frühen Jahren unter Bundeskanzler Adenauer - "kleinkrämerisch-juristischer Charakter der deutschen Verhandlungsführung" beim Luxemburger Abkommen 1952 - bis zum späteren Bemühen der Deutschen, "ihre Opfer zumindest minimal zu entschädigen" - mit insgesamt etwa 65 Milliarden Euro: "Der Preis von etwa einem Euro im Monat, den jeder Deutsche gezahlt hat, ist nicht zu viel verlangt."
Einen noch größeren Raum aber nimmt die Geschichte Israels ein: von den ersten Zionisten über die Gründung Israels 1948 bis in die Gegenwart. Da wird deutlich, warum Primor im Klappentext als der "bis heute am häufigsten gerügte Botschafter Israels" bezeichnet wird. Oberste Priorität ist selbstverständlich auch bei Primor die Sicherheit Israels, aber dann hagelt es Kritik an der israelischen Politik und Empfehlungen, mit denen man zurzeit in Israel mit einem Außenminister Lieberman nicht sehr weit kommt. Einige Beispiele: Israels Zusammengehen mit den Kolonialmächten in den fünfziger Jahren mit Frankreich und Großbritannien gegen Ägypten und mit dem Apartheidregime in Südafrika macht Israel laut Primor zu einem "kalten Monster, das seine Interessen der Moral vorgezogen hat".
Primor tritt für die Zweistaatenlösung ein ("wir müssen uns mit dem Teil des Landes, in dem wir leben, zufriedengeben"), mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt des Palästinenserstaates. Er kritisiert die Siedlungspolitik (erwähnt jedoch nicht die "Schutzmauer"), hält die Besatzung der Westbank für "verhängnisvoll", die Abriegelung des Gazastreifens für falsch, plädiert für gewaltlosen Widerstand und - ganz ungewöhnlich für einen Israeli - für die Einbeziehung der Hamas in zukünftige Verhandlungen; im Westjordanland soll eine internationale Truppe für die Sicherheit Israels sorgen.
Auf der Suche nach Frieden hat Primor gemeinsam mit einem Palästinenser einen Studiengang für Israelis und Palästinenser entwickelt. Und so endet das Buch zwar mit einer Binsenweisheit, die aber für den Nahen Osten besondere Gültigkeit hat, nämlich: "Nur durch persönliche Verbindungen, durch das Kennenlernen, kann man Angst und Hass abbauen. Ohne das Beseitigen von Misstrauen wird jeder politische Frieden nur vorübergehend sein." Im Bemühen darum kann man Primor nur Erfolg wünschen.
ROLF STEININGER
Avi Primor/Christiane von Korff: An allem sind die Juden und Radfahrer schuld. Deutsch-jüdische Missverständnisse. Piper Verlag, München 2010. 309 S., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vorurteile und fatale Missverständnisse zwischen Deutschen und Juden
Im Vorwort erläutert Avi Primor den Titel seines Buches: "Ein älterer Jude findet sich plötzlich von Nazis umringt, die ihn zu Boden schlagen und höhnisch fragen: ,Na, Jude, wer ist denn schuld am Krieg?' Der kleine Jude ist nicht auf den Kopf gefallen und antwortet: ,Die Juden und die Radfahrer.' ,Warum die Radfahrer?', fragen die Nazis. ,Warum die Juden?', kontert der alte Mann." Und er erwähnt in dem Zusammenhang Carlo Schmid, der den jüdischen Witz einmal als Tränen bezeichnet habe, die zu einem Lachen geworden seien, das - so Primor - "den Zuhörern schon mal im Halse steckenbleibt".
Es waren "die Juden" - und es sind vielfach heute wieder "die Juden", die für alles verantwortlich sind. Die Frage "Warum die Juden?" ist offensichtlich so aktuell wie eh und je. Es geht um Vorurteile und leichthin formulierte Aussagen, die weiterhin zu fatalen Missverständnissen zwischen Deutschen und Juden führen. Dabei greift Primor allerdings etwas zu kurz, wenn er schreibt: "Ohne Zweifel ist beim Thema Antisemitismus Deutschland der interessanteste unter allen europäischen Staaten." Da würde der Rezensent ihm empfehlen, doch einmal einen Blick auf Österreich zu werfen, das bei Primor überhaupt nicht vorkommt.
Das Buch will aufklären und in erster Linie zu einem "besseren, weil freieren Verhältnis" von Deutschen und Juden führen. Wie kaum ein anderer ist Avi Primor dazu berufen, diesen Versuch zu unternehmen. Von 1993 bis 1999 war er Botschafter in der Bundesrepublik, schickte seinen Sohn sogar in ein deutsches Gymnasium. Seit damals setzt er sich massiv für die Versöhnung zwischen Deutschen und Israelis ein. Das war ursprünglich alles andere als selbstverständlich. Seine Mutter war 1932 aus Frankfurt am Main nach Palästina gegangen - ihre gesamte Familie wurde im Holocaust ermordet. Das prägte lange Zeit auch Avi, der 1935 in Tel Aviv geboren wurde: Die Familie wollte mit Deutschen nichts mehr zu tun haben. Erst als Botschafter änderte sich Primors Bild von den Deutschen grundsätzlich: "Die Deutschen wollen Antisemitismus nicht zulassen." Und: Deutschland ist das Land, "das mehr als irgendein anderes in der Welt Gewissenserforschung betreibt". Das ändert nach Meinung Primors nichts an der Tatsache, dass es nach wie vor Antisemiten gibt. Und hier setzt er aufklärerisch an und nennt zunächst zwölf Vorurteile, die keineswegs nur deutsche Antisemiten pflegen und hegen. Das reicht vom Vorurteil eins: "Sieben Milliarden Menschen werden von zwölf Millionen Juden beherrscht", oder "Alle Juden sind so reich wie Rockefeller", "Auschwitz ist ein profitables Unternehmen der Juden", "Die Juden haben Jesus ermordet", bis Vorurteil zwölf: "Der antisemitische Phönix steigt wieder aus der Asche."
Zu jedem dieser Vorurteile äußert sich Primor zunächst ausführlich auf jeweils 15 bis 20 Seiten, um dann auf vertiefende Nachfragen der Journalistin Christiane von Korff zu antworten. Dabei nehmen die deutsch-israelischen Beziehungen und vor allem die deutschen Wiedergutmachungsbemühungen einen großen Raum ein, von den frühen Jahren unter Bundeskanzler Adenauer - "kleinkrämerisch-juristischer Charakter der deutschen Verhandlungsführung" beim Luxemburger Abkommen 1952 - bis zum späteren Bemühen der Deutschen, "ihre Opfer zumindest minimal zu entschädigen" - mit insgesamt etwa 65 Milliarden Euro: "Der Preis von etwa einem Euro im Monat, den jeder Deutsche gezahlt hat, ist nicht zu viel verlangt."
Einen noch größeren Raum aber nimmt die Geschichte Israels ein: von den ersten Zionisten über die Gründung Israels 1948 bis in die Gegenwart. Da wird deutlich, warum Primor im Klappentext als der "bis heute am häufigsten gerügte Botschafter Israels" bezeichnet wird. Oberste Priorität ist selbstverständlich auch bei Primor die Sicherheit Israels, aber dann hagelt es Kritik an der israelischen Politik und Empfehlungen, mit denen man zurzeit in Israel mit einem Außenminister Lieberman nicht sehr weit kommt. Einige Beispiele: Israels Zusammengehen mit den Kolonialmächten in den fünfziger Jahren mit Frankreich und Großbritannien gegen Ägypten und mit dem Apartheidregime in Südafrika macht Israel laut Primor zu einem "kalten Monster, das seine Interessen der Moral vorgezogen hat".
Primor tritt für die Zweistaatenlösung ein ("wir müssen uns mit dem Teil des Landes, in dem wir leben, zufriedengeben"), mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt des Palästinenserstaates. Er kritisiert die Siedlungspolitik (erwähnt jedoch nicht die "Schutzmauer"), hält die Besatzung der Westbank für "verhängnisvoll", die Abriegelung des Gazastreifens für falsch, plädiert für gewaltlosen Widerstand und - ganz ungewöhnlich für einen Israeli - für die Einbeziehung der Hamas in zukünftige Verhandlungen; im Westjordanland soll eine internationale Truppe für die Sicherheit Israels sorgen.
Auf der Suche nach Frieden hat Primor gemeinsam mit einem Palästinenser einen Studiengang für Israelis und Palästinenser entwickelt. Und so endet das Buch zwar mit einer Binsenweisheit, die aber für den Nahen Osten besondere Gültigkeit hat, nämlich: "Nur durch persönliche Verbindungen, durch das Kennenlernen, kann man Angst und Hass abbauen. Ohne das Beseitigen von Misstrauen wird jeder politische Frieden nur vorübergehend sein." Im Bemühen darum kann man Primor nur Erfolg wünschen.
ROLF STEININGER
Avi Primor/Christiane von Korff: An allem sind die Juden und Radfahrer schuld. Deutsch-jüdische Missverständnisse. Piper Verlag, München 2010. 309 S., 19,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für das Ziel eines aufgeklärten Verhältnisses zwischen Deutschen und Juden sei der in Tel Aviv geborene Autor und ehemalige Botschafter durchaus der Richtige, glaubt Rezensent Rolf Steininger, und so folgt er - allerdings mit etwas schulmeisterhaftem Blick - Avi Primors umfassenden Äußerungen zu den zwölf häufigsten Vorurteilen über Juden, genauso wie der noch ausführlicher beschriebenen Geschichte Israels und der Schilderung der aktuellen politischen Situation, welche der Autor scharf kritisiere und weswegen er auch einige Verbesserungsvorschläge liefere, wie zum Beispiel die Empfehlung, dass man "nur durch persönliche Verbindungen und das Kennenlernen" "Angst und Hass abbauen" könne. Für das Bemühen darum wünscht Rezensent Steininger dem Autor in jedem Fall viel Erfolg. Wenn Primor allerdings behauptet, beim Thema Antisemitismus sei Deutschland der interessanteste unter allen europäischen Staaten, gibt sich Steininger lieber bescheiden und das Lob an Österreich weiter, respektive den Schwarzen Peter.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Primor widerlegt Vorurteile und üble Nachrede. Und das tut er lesenswert und überzeugend. Empfehlung.", Hessische/Niedersächsische Allgemeine, 27.12.2010