An der Schwelle des 21. Jahrhunderts steht die Naturwissenschaft an einem Punkt,an dem unsere Welt in hohem Maße wissenschaftlich geprägt ist. Die Wissenschaft selbst sieht sich aber immer mehr einer tiefgreifenden Skepsis gegenüber Fortschritt und wissenschaftlicher Vernunft ausgesetzt. Vieles spricht auch dafür, daß die wissenschaftliche Revolution so erfolgreich war, daß es bei der Erforschung unserer Welt nun zwischen den subatomaren Quarks und den galaktischen Makrostrukturen nichts wirklich neues mehr gibt. Der Autor hat weltweit interessante, eigensinnige und aufregende Wissenschaftler befragt, um ihre Ansichten über den Stand und die Zukunft der Naturwissenschaft zu erfahren.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.01.1998Und sie bewegt sich doch nicht
John Horgan verzweifelt am Fortschritt der Wissenschaft und tröstet sich an der Torheit ihrer Prominenten
"Glaubenskrisen" lassen mitunter Berufungen erkennen. John Horgan hatte die seine, als er sich zu später Stunde durch eine weitere Interpretation des "Ulysses" von James Joyce kämpfte. Da wurde dem damaligen Studenten der Literaturwissenschaft klar, daß eine der grundlegenden, "ironischen" Botschaften der modernen Literaturtheorie und der modernen Literatur lautete, alle Texte besäßen "mehrere Bedeutungsebenen, von denen keine maßgeblich ist". Dann aber, folgerte er, bleibe nur ein unendlicher Regreß von Interpretationen, von denen keine Gültigkeit beanspruchen könne und zwischen denen auch nicht zu entscheiden sei, da "die einzig wahre Bedeutung eines Textes der Text selbst ist". Wozu also überhaupt Interpretationen aushecken und darüber streiten!
Das ist zwar etwas voreilig, um das mindeste zu sagen, aber es war nun einmal eine Glaubenskrise. Aus ihr ging Horgan mit der Überzeugung hervor, daß uns nur die Naturwissenschaften wirklich weiterbringen. Ein "Kriterium für wissenschaftliche Erkenntnis" sprang auch gleich dabei heraus: "Die Naturwissenschaft befaßt sich mit Fragen, die sich unter einem vertretbaren Aufwand an Zeit und Ressourcen zumindest grundsätzlich beantworten lassen." So gerüstet, widmete er sich der Naturwissenschaft und wurde ein erfolgreicher Wissenschaftsjournalist.
Liest man sein Buch, das zum Teil aus Wissenschaftlerporträts im "Scientific American" hervorgegangen ist, merkt man freilich, daß auch die Naturwissenschaften für ihn Enttäuschungen bereithielten. Auch in ihnen, so meinte er immer deutlicher zu sehen, geht mittlerweile eigentlich nichts recht weiter. Die grundlegenden Theorien liegen in den wesentlichen Zügen seit einiger Zeit vor, und bahnbrechend Neues - vergleichbar etwa der Quantenmechanik, der physikalischen Standardtheorie oder dem Evolutionsprinzip - ist nicht in Sicht. Natürlich ist das Feld der Anwendungen unbeschränkt, werden Theorien immer feiner geschliffen, überraschende Einsichten gewonnen und verblüffende technologische Entwicklungen initiiert. Doch darüber geht Horgan schnell hinweg. Er hält es mit der hehren, "reinen" Wissenschaft, der "Suche nach der Erkenntnis um ihrer selbst willen": "Wir sind hier, um herausfinden, weshalb wir hier sind." Eigentlich nicht verwunderlich, daß es mit einer grundsätzlichen Antwort auf diese Frage unter Bedingungen eines vertretbaren Aufwands an Zeit und Ressourcen eher schlecht aussieht.
Das Problem des Wissenschaftsjüngers Horgan ist, daß er ein hehres Erkenntnisideal von bester Festredentauglichkeit mit einem eher pragmatischen "Erkenntniskriterium" verbindet, ohne sich über deren Verträglichkeit oder auch nur Angemessenheit einmal Gedanken zu machen. Statt dessen diagnostiziert er bei nicht wenigen seiner prominenten naturwissenschaftlichen Gesprächspartner - sein Buch ist im Grunde eine Folge von kommentierten Interviews - einen Hang zu "ironischer" Wissenschaft: also dazu, Theorien zu entwerfen, die gerade nicht der Bedingung genügen, in absehbarer Zeit überprüft werden zu können oder dafür seiner Ansicht nach prinzipiell nicht taugen. Damit ist das Urteil, wie nach dem Bekehrungserlebnis leicht einzusehen, schon gefällt.
Selbst wenn es sich Horgan mit dieser Form der Wissenschaftskritik manchmal recht leichtmacht, ist doch nicht abzustreiten, daß die Äußerungen seiner Gesprächspartner oft durchaus erhellend sind. Nicht, weil ihnen auf die von Horgan gestellten Fragen - nach Fortschritt oder schon erreichtem Ende der wissenschaftlichen Erkenntnis, nach der Möglichkeit einer finalen "Theorie von Allem" - immer Triftiges oder besonders Kluges einfiele. Der Leser stößt vielmehr über weite Strecken auf ein ziemlich eigenartiges Gemisch von Spekulationen, ungedeckten Generalisierungen, Glaubensbekenntnissen und Privatmythologien, von denen sich die überlegten Stellungnahmen, die glücklicherweise auch unterlaufen, strahlend abheben. Der symptomatische Aufschlußwert dieses Durchgangs durch Physik, Kosmologie, Evolutionsbiologie, Neurowissenschaften, "Chaoplexologie" und so weiter liegt nicht zuletzt in der Einsicht, daß auch Naturwissenschaftler zu Überspanntheiten neigen, wenn es um letzte Fragen geht.
Freilich tut Horgan alles, um diesen Effekt zu verstärken. Schon bei der Auswahl seiner Interviewpartner dominieren die mehr oder minder verbissenen Außenseiter. Was ihnen so alles durch den Kopf ging, ins Unreine gesprochen wurde: Horgan gibt es mitleidlos wieder. Argumente sind ohnehin seine Sache nicht. Er läßt lieber die erwartbar disparaten Ansichten über Stand und Zukunft naturwissenschaftlicher Erkenntnisse im O-Ton Revue passieren, um daraus abzuleiten, wovon er ohnehin überzeugt ist: daß die Wissenschaft, soweit es um fundamentale Theorien geht, an vermutlich unüberschreitbare Grenzen gestoßen ist.
Man kann aus Horgans Buch einiges über avancierte Theorien, Zielsetzungen und Wunschvorstellungen in den verschiedenen Gebieten lernen. Vorsicht ist allerdings trotzdem geboten, denn die Meinungen und Einschätzungen des Autors mischen sich in die Darstellung oft spürbar ein. Ärgerlich wird das insbesondere dann, wenn Horgan sich über den persönlichen Habitus von Interviewpartnern lustig macht und damit schon die Sache erledigt zu haben meint. An seiner Kunst der Personenbeschreibung sticht die Aufmerksamkeit für Hemdenfarben hervor.
Colin McGinn allerdings, der im Kapitel "Ende der Philosophie" neben Popper, Kuhn und Feyerabend figurieren darf, trug T-Shirt, Jeans und Mokassins, wie dem Leser überliefert wird; nicht ohne den Hinweis, daß sich der Autor Philosophen ganz anders vorgestellt hat. Als sachliche und prägnante Information sticht das vom Rest des Kapitels vorteilhaft ab. Über die Auswahl der für diesen Abschnitt Interviewten möchte man ohnehin nicht befinden, ebensowenig wie über jene, die das "Ende der Sozialwissenschaft" belegen soll (Edward Wilson, Noam Chomsky, Clifford Geertz).
Am Ende des Buches darf es dann ums Ganze gehen. Da nun einmal nichts daraus wird, daß uns die "die wahre, reine, empirische Wissenschaft" sagt, warum wir hier sind - woran sich dann halten? An einen Gott, so beantwortet sich Horgan die Frage, dem vor seiner eigenen Gottheit und seinem möglichen Tod graut und dessen Not die unsrige ist. Was immer man von solcher Kryptotheologie hält: Das Ende der Wissenschaft hätte es dazu nicht gebraucht. HELMUT MAYER
John Horgan: "An den Grenzen des Wissens". Siegeszug und Dilemma der Naturwissenschaften. Aus dem Amerikanischen von Thorsten Schmidt. Luchterhand Verlag, München 1997. 463 S., geb., 46,- DM.
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John Horgan verzweifelt am Fortschritt der Wissenschaft und tröstet sich an der Torheit ihrer Prominenten
"Glaubenskrisen" lassen mitunter Berufungen erkennen. John Horgan hatte die seine, als er sich zu später Stunde durch eine weitere Interpretation des "Ulysses" von James Joyce kämpfte. Da wurde dem damaligen Studenten der Literaturwissenschaft klar, daß eine der grundlegenden, "ironischen" Botschaften der modernen Literaturtheorie und der modernen Literatur lautete, alle Texte besäßen "mehrere Bedeutungsebenen, von denen keine maßgeblich ist". Dann aber, folgerte er, bleibe nur ein unendlicher Regreß von Interpretationen, von denen keine Gültigkeit beanspruchen könne und zwischen denen auch nicht zu entscheiden sei, da "die einzig wahre Bedeutung eines Textes der Text selbst ist". Wozu also überhaupt Interpretationen aushecken und darüber streiten!
Das ist zwar etwas voreilig, um das mindeste zu sagen, aber es war nun einmal eine Glaubenskrise. Aus ihr ging Horgan mit der Überzeugung hervor, daß uns nur die Naturwissenschaften wirklich weiterbringen. Ein "Kriterium für wissenschaftliche Erkenntnis" sprang auch gleich dabei heraus: "Die Naturwissenschaft befaßt sich mit Fragen, die sich unter einem vertretbaren Aufwand an Zeit und Ressourcen zumindest grundsätzlich beantworten lassen." So gerüstet, widmete er sich der Naturwissenschaft und wurde ein erfolgreicher Wissenschaftsjournalist.
Liest man sein Buch, das zum Teil aus Wissenschaftlerporträts im "Scientific American" hervorgegangen ist, merkt man freilich, daß auch die Naturwissenschaften für ihn Enttäuschungen bereithielten. Auch in ihnen, so meinte er immer deutlicher zu sehen, geht mittlerweile eigentlich nichts recht weiter. Die grundlegenden Theorien liegen in den wesentlichen Zügen seit einiger Zeit vor, und bahnbrechend Neues - vergleichbar etwa der Quantenmechanik, der physikalischen Standardtheorie oder dem Evolutionsprinzip - ist nicht in Sicht. Natürlich ist das Feld der Anwendungen unbeschränkt, werden Theorien immer feiner geschliffen, überraschende Einsichten gewonnen und verblüffende technologische Entwicklungen initiiert. Doch darüber geht Horgan schnell hinweg. Er hält es mit der hehren, "reinen" Wissenschaft, der "Suche nach der Erkenntnis um ihrer selbst willen": "Wir sind hier, um herausfinden, weshalb wir hier sind." Eigentlich nicht verwunderlich, daß es mit einer grundsätzlichen Antwort auf diese Frage unter Bedingungen eines vertretbaren Aufwands an Zeit und Ressourcen eher schlecht aussieht.
Das Problem des Wissenschaftsjüngers Horgan ist, daß er ein hehres Erkenntnisideal von bester Festredentauglichkeit mit einem eher pragmatischen "Erkenntniskriterium" verbindet, ohne sich über deren Verträglichkeit oder auch nur Angemessenheit einmal Gedanken zu machen. Statt dessen diagnostiziert er bei nicht wenigen seiner prominenten naturwissenschaftlichen Gesprächspartner - sein Buch ist im Grunde eine Folge von kommentierten Interviews - einen Hang zu "ironischer" Wissenschaft: also dazu, Theorien zu entwerfen, die gerade nicht der Bedingung genügen, in absehbarer Zeit überprüft werden zu können oder dafür seiner Ansicht nach prinzipiell nicht taugen. Damit ist das Urteil, wie nach dem Bekehrungserlebnis leicht einzusehen, schon gefällt.
Selbst wenn es sich Horgan mit dieser Form der Wissenschaftskritik manchmal recht leichtmacht, ist doch nicht abzustreiten, daß die Äußerungen seiner Gesprächspartner oft durchaus erhellend sind. Nicht, weil ihnen auf die von Horgan gestellten Fragen - nach Fortschritt oder schon erreichtem Ende der wissenschaftlichen Erkenntnis, nach der Möglichkeit einer finalen "Theorie von Allem" - immer Triftiges oder besonders Kluges einfiele. Der Leser stößt vielmehr über weite Strecken auf ein ziemlich eigenartiges Gemisch von Spekulationen, ungedeckten Generalisierungen, Glaubensbekenntnissen und Privatmythologien, von denen sich die überlegten Stellungnahmen, die glücklicherweise auch unterlaufen, strahlend abheben. Der symptomatische Aufschlußwert dieses Durchgangs durch Physik, Kosmologie, Evolutionsbiologie, Neurowissenschaften, "Chaoplexologie" und so weiter liegt nicht zuletzt in der Einsicht, daß auch Naturwissenschaftler zu Überspanntheiten neigen, wenn es um letzte Fragen geht.
Freilich tut Horgan alles, um diesen Effekt zu verstärken. Schon bei der Auswahl seiner Interviewpartner dominieren die mehr oder minder verbissenen Außenseiter. Was ihnen so alles durch den Kopf ging, ins Unreine gesprochen wurde: Horgan gibt es mitleidlos wieder. Argumente sind ohnehin seine Sache nicht. Er läßt lieber die erwartbar disparaten Ansichten über Stand und Zukunft naturwissenschaftlicher Erkenntnisse im O-Ton Revue passieren, um daraus abzuleiten, wovon er ohnehin überzeugt ist: daß die Wissenschaft, soweit es um fundamentale Theorien geht, an vermutlich unüberschreitbare Grenzen gestoßen ist.
Man kann aus Horgans Buch einiges über avancierte Theorien, Zielsetzungen und Wunschvorstellungen in den verschiedenen Gebieten lernen. Vorsicht ist allerdings trotzdem geboten, denn die Meinungen und Einschätzungen des Autors mischen sich in die Darstellung oft spürbar ein. Ärgerlich wird das insbesondere dann, wenn Horgan sich über den persönlichen Habitus von Interviewpartnern lustig macht und damit schon die Sache erledigt zu haben meint. An seiner Kunst der Personenbeschreibung sticht die Aufmerksamkeit für Hemdenfarben hervor.
Colin McGinn allerdings, der im Kapitel "Ende der Philosophie" neben Popper, Kuhn und Feyerabend figurieren darf, trug T-Shirt, Jeans und Mokassins, wie dem Leser überliefert wird; nicht ohne den Hinweis, daß sich der Autor Philosophen ganz anders vorgestellt hat. Als sachliche und prägnante Information sticht das vom Rest des Kapitels vorteilhaft ab. Über die Auswahl der für diesen Abschnitt Interviewten möchte man ohnehin nicht befinden, ebensowenig wie über jene, die das "Ende der Sozialwissenschaft" belegen soll (Edward Wilson, Noam Chomsky, Clifford Geertz).
Am Ende des Buches darf es dann ums Ganze gehen. Da nun einmal nichts daraus wird, daß uns die "die wahre, reine, empirische Wissenschaft" sagt, warum wir hier sind - woran sich dann halten? An einen Gott, so beantwortet sich Horgan die Frage, dem vor seiner eigenen Gottheit und seinem möglichen Tod graut und dessen Not die unsrige ist. Was immer man von solcher Kryptotheologie hält: Das Ende der Wissenschaft hätte es dazu nicht gebraucht. HELMUT MAYER
John Horgan: "An den Grenzen des Wissens". Siegeszug und Dilemma der Naturwissenschaften. Aus dem Amerikanischen von Thorsten Schmidt. Luchterhand Verlag, München 1997. 463 S., geb., 46,- DM.
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