Der mondäne Badeort Binz auf der Insel Rügen ist berühmt. Und eine eindrückliche Bühne für unerwartete Begegnungen und Lebenskrisen. Schauplatz Rom, eine weitere Kulisse für große Lebensfragen. Wie gefeit ist die »Ewige Stadt« wirklich gegen die Vergänglichkeit? Zehn abgründige, melancholisch schöne Novellen über das, was einmal war und noch immer lebendig ist, über ein berühmtes Bild aus der Alten Nationalgalerie, über philosophischen Trost. Und vor allem darüber: Was hat Bestand?
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.07.2018Mönch am Strand
In Hartmut Langes Novellen ereignen sich sonderbare Dinge mit eleganter Selbstverständlichkeit
Der Vergleich mag unpassend erscheinen, aber ein Novellenband von Hartmut Lange erinnert in mancher Hinsicht an eine Tafel besonders edler Bitterschokolade. Ganz abgesehen von dem meist schmalen, handlichen Format: Man hat es mit einer Traditionsmarke zu tun, die absolut verlässlich, wenn auch nur in gewissen Abständen verfügbar ist. Man öffnet froh gestimmt die Schutzfolie, verschlingt das erste Stück - und beginnt dann schon zu geizen, sich die verbleibende Menge sorgsam einzuteilen, um den Genuss zu verlängern. Der schöne Unterschied zwischen einer Tafel Schokolade und einem Buch ist aber, dass Letzteres nicht dahinschmilzt, sondern immer wieder neu verkostet werden kann.
Neuerdings werden die Stücke kleiner, und ihr Aroma, diese unverwechselbare Mischung aus Geheimnis und Klarheit, aus verstörendem Geschehen und einer kristallinen, von allem Überflüssigen gereinigten Diktion, wird intensiver. Der Berliner Schriftsteller, der mittlerweile die 80 überschritten hat, versammelt in seinem jüngsten Band „An der Prorer Wiek und anderswo“ zehn Erzählungen auf knapp hundert luftig bedruckten Seiten, von denen eine halbe Seite reserviert ist für das von Mahler vertonte Rückert-Gedicht „Ich bin der Welt abhanden gekommen“. Gesungen wird das Lied von einer Toten, die ruhelos unter den Lebenden wandelt, ohne von ihnen wahrgenommen zu werden – mit einer Ausnahme. „Es gibt keine Begegnung zwischen den Lebenden und den Toten“, schreibt Hartmut Lange, um in seinen Geschichten dann doch immer wieder das Gegenteil zu erproben.
Man könnte Kitsch befürchten, wenn eine Frau aus einer vergangenen Epoche in einer malerisch verfallenen Strandvilla im Seebad Binz auf Rügen, an der „Prorer Wiek“ genannten Bucht, herumspukt und sich an das Klavier setzt, an dem sie in ihrer Jugend Hauskonzerte absolviert hat, ohne je ihre eigenen Kompositionen vortragen zu dürfen. Hartmut Lange, der Meister der sprachlichen Verknappung und der beiläufig-nüchternen Inszenierung des Unerklärlichen, macht daraus ein Stück literarisch glaubwürdiger Geisterprosa, dessen lose Enden er souverän in der Luft schweben lässt.
Ein einziger Faden führt zu einer anderen, der ersten Geschichte des Bandes: Darin beobachtet ein erfolgreicher Berliner Maler im Kurhaus von Binz eine seltsame, flüchtige Frauenerscheinung, skizziert ihr Porträt, ohne ihr Gesicht gesehen zu haben, und folgt ihrer nur geahnten Spur bis in ebenjene baufällige Villa, wo ihn unvermutet eine Schaffenskrise ereilt.
Kunst, Künstler und Kunstwerke spielen in Langes Erzählungen seit jeher eine zentrale Rolle. Und immer wieder geschieht es, dass historische Figuren oder von Künstlern geschaffene Kreaturen zum Leben erwachen und sonderbare Verhaltensweisen zeigen. Hier ist es zum Beispiel Caspar David Friedrichs berühmter, fast zu Tode interpretierter „Mönch am Meer“, den der Erzähler der gleichnamigen Novelle auf dem Gemälde in der Alten Nationalgalerie plötzlich vermisst. Wenig später begegnet er ihm leibhaftig am Strand von Binz und erfährt, dass er ihm durch die Kraft seiner Einbildung „aus den Fesseln der Kunst zur Freiheit verholfen“ habe. Die lakonische Sachlichkeit, mit der Lange diese Begebenheit schildert, hat etwas durchaus Komisches, das aber sogleich in Melancholie umschlägt. Denn der Erzähler bereut, den Mönch in die Welt geschickt zu haben: „Man weiß doch, wie mörderisch sie im Augenblick aussieht.“
Das Mörderische, das Bedrohliche tritt bei Lange in unterschiedlichster Gestalt auf. In der atmosphärisch betörenden Geschichte von „Frau Frühwald“, die vor ihren Eheproblemen nach Rügen geflohen ist, macht es sich zunächst als Wetterleuchten aus der Gegend um Gotland bemerkbar und manifestiert sich dann in dem Jahrzehnte alten Katalog einer Edvard-Munch-Ausstellung im Schaufenster eines Antiquariats: Er trägt den Titel „Liebe, Angst, Tod“ und wird für die seelisch gepeinigte Frau zur Obsession, der sie sich am Ende – aber genau erfährt man es nicht – durch ihr Verschwinden aus dem Leben entzieht.
Von der hohen Kunst der Andeutung und der irritierenden Offenheit entfernt sich der Autor ungewöhnlich weit in der Erzählung „Emilys Schatten“, in der er sehr konkret und empathisch die Qualen einer gemobbten Schülerin schildert.
Er begibt sich dafür fort von der Prorer Wiek, ins nordfranzösische Lille. Auch die übrigen fünf Kurznovellen spielen „anderswo“, nämlich in Rom, wo Hartmut Lange vor zwei Jahren in der Villa Massimo zu Gast war. Auf deren Gelände werden in einer Dezembernacht die Statuen lebendig, und eine von ihnen beklagt ihre unsachgemäße Restaurierung. Hier sind wir wieder im stilvoll fantastischen Hartmut-Lange-Kosmos angekommen, wo sonderbare Dinge sich mit eleganter Selbstverständlichkeit ereignen und manche dieser Geschehnisse abrupt enden, wenn die Neugier gerade geweckt ist.
Am Fuß der Spanischen Treppe sammelt der englische Dichter John Keats bei nächtlichem Schneetreiben Steinbrocken und Mauerreste, um sie gegen das Museum zu schleudern, das ihm und seinem Weggefährten Shelley gewidmet wurde. Ein deutscher Bildungstourist verliert, auch philosophisch, die Orientierung in den Katakomben, ein anderer lässt sich durch kuriose Vorgänge in der Villa Albani verwirren.
Und die „Drei Reiter“, die immer wieder in der Abenddämmerung beim Grabmal des Seneca auftauchen, gebärden sich derart surreal, dass man kurz argwöhnt, das alles sei nur Luftschokolade. Dagegen spricht, dass man, wenn man will, an dieser hochkonzentrierten geistigen Nahrung ziemlich lange knabbern kann.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Kunst, Künstler und
Kunstwerke spielen
eine zentrale Rolle
Hartmut Lange: An der Prorer Wiek und anderswo. Novellen. Diogenes Verlag, Zürich 2018. 114 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In Hartmut Langes Novellen ereignen sich sonderbare Dinge mit eleganter Selbstverständlichkeit
Der Vergleich mag unpassend erscheinen, aber ein Novellenband von Hartmut Lange erinnert in mancher Hinsicht an eine Tafel besonders edler Bitterschokolade. Ganz abgesehen von dem meist schmalen, handlichen Format: Man hat es mit einer Traditionsmarke zu tun, die absolut verlässlich, wenn auch nur in gewissen Abständen verfügbar ist. Man öffnet froh gestimmt die Schutzfolie, verschlingt das erste Stück - und beginnt dann schon zu geizen, sich die verbleibende Menge sorgsam einzuteilen, um den Genuss zu verlängern. Der schöne Unterschied zwischen einer Tafel Schokolade und einem Buch ist aber, dass Letzteres nicht dahinschmilzt, sondern immer wieder neu verkostet werden kann.
Neuerdings werden die Stücke kleiner, und ihr Aroma, diese unverwechselbare Mischung aus Geheimnis und Klarheit, aus verstörendem Geschehen und einer kristallinen, von allem Überflüssigen gereinigten Diktion, wird intensiver. Der Berliner Schriftsteller, der mittlerweile die 80 überschritten hat, versammelt in seinem jüngsten Band „An der Prorer Wiek und anderswo“ zehn Erzählungen auf knapp hundert luftig bedruckten Seiten, von denen eine halbe Seite reserviert ist für das von Mahler vertonte Rückert-Gedicht „Ich bin der Welt abhanden gekommen“. Gesungen wird das Lied von einer Toten, die ruhelos unter den Lebenden wandelt, ohne von ihnen wahrgenommen zu werden – mit einer Ausnahme. „Es gibt keine Begegnung zwischen den Lebenden und den Toten“, schreibt Hartmut Lange, um in seinen Geschichten dann doch immer wieder das Gegenteil zu erproben.
Man könnte Kitsch befürchten, wenn eine Frau aus einer vergangenen Epoche in einer malerisch verfallenen Strandvilla im Seebad Binz auf Rügen, an der „Prorer Wiek“ genannten Bucht, herumspukt und sich an das Klavier setzt, an dem sie in ihrer Jugend Hauskonzerte absolviert hat, ohne je ihre eigenen Kompositionen vortragen zu dürfen. Hartmut Lange, der Meister der sprachlichen Verknappung und der beiläufig-nüchternen Inszenierung des Unerklärlichen, macht daraus ein Stück literarisch glaubwürdiger Geisterprosa, dessen lose Enden er souverän in der Luft schweben lässt.
Ein einziger Faden führt zu einer anderen, der ersten Geschichte des Bandes: Darin beobachtet ein erfolgreicher Berliner Maler im Kurhaus von Binz eine seltsame, flüchtige Frauenerscheinung, skizziert ihr Porträt, ohne ihr Gesicht gesehen zu haben, und folgt ihrer nur geahnten Spur bis in ebenjene baufällige Villa, wo ihn unvermutet eine Schaffenskrise ereilt.
Kunst, Künstler und Kunstwerke spielen in Langes Erzählungen seit jeher eine zentrale Rolle. Und immer wieder geschieht es, dass historische Figuren oder von Künstlern geschaffene Kreaturen zum Leben erwachen und sonderbare Verhaltensweisen zeigen. Hier ist es zum Beispiel Caspar David Friedrichs berühmter, fast zu Tode interpretierter „Mönch am Meer“, den der Erzähler der gleichnamigen Novelle auf dem Gemälde in der Alten Nationalgalerie plötzlich vermisst. Wenig später begegnet er ihm leibhaftig am Strand von Binz und erfährt, dass er ihm durch die Kraft seiner Einbildung „aus den Fesseln der Kunst zur Freiheit verholfen“ habe. Die lakonische Sachlichkeit, mit der Lange diese Begebenheit schildert, hat etwas durchaus Komisches, das aber sogleich in Melancholie umschlägt. Denn der Erzähler bereut, den Mönch in die Welt geschickt zu haben: „Man weiß doch, wie mörderisch sie im Augenblick aussieht.“
Das Mörderische, das Bedrohliche tritt bei Lange in unterschiedlichster Gestalt auf. In der atmosphärisch betörenden Geschichte von „Frau Frühwald“, die vor ihren Eheproblemen nach Rügen geflohen ist, macht es sich zunächst als Wetterleuchten aus der Gegend um Gotland bemerkbar und manifestiert sich dann in dem Jahrzehnte alten Katalog einer Edvard-Munch-Ausstellung im Schaufenster eines Antiquariats: Er trägt den Titel „Liebe, Angst, Tod“ und wird für die seelisch gepeinigte Frau zur Obsession, der sie sich am Ende – aber genau erfährt man es nicht – durch ihr Verschwinden aus dem Leben entzieht.
Von der hohen Kunst der Andeutung und der irritierenden Offenheit entfernt sich der Autor ungewöhnlich weit in der Erzählung „Emilys Schatten“, in der er sehr konkret und empathisch die Qualen einer gemobbten Schülerin schildert.
Er begibt sich dafür fort von der Prorer Wiek, ins nordfranzösische Lille. Auch die übrigen fünf Kurznovellen spielen „anderswo“, nämlich in Rom, wo Hartmut Lange vor zwei Jahren in der Villa Massimo zu Gast war. Auf deren Gelände werden in einer Dezembernacht die Statuen lebendig, und eine von ihnen beklagt ihre unsachgemäße Restaurierung. Hier sind wir wieder im stilvoll fantastischen Hartmut-Lange-Kosmos angekommen, wo sonderbare Dinge sich mit eleganter Selbstverständlichkeit ereignen und manche dieser Geschehnisse abrupt enden, wenn die Neugier gerade geweckt ist.
Am Fuß der Spanischen Treppe sammelt der englische Dichter John Keats bei nächtlichem Schneetreiben Steinbrocken und Mauerreste, um sie gegen das Museum zu schleudern, das ihm und seinem Weggefährten Shelley gewidmet wurde. Ein deutscher Bildungstourist verliert, auch philosophisch, die Orientierung in den Katakomben, ein anderer lässt sich durch kuriose Vorgänge in der Villa Albani verwirren.
Und die „Drei Reiter“, die immer wieder in der Abenddämmerung beim Grabmal des Seneca auftauchen, gebärden sich derart surreal, dass man kurz argwöhnt, das alles sei nur Luftschokolade. Dagegen spricht, dass man, wenn man will, an dieser hochkonzentrierten geistigen Nahrung ziemlich lange knabbern kann.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Kunst, Künstler und
Kunstwerke spielen
eine zentrale Rolle
Hartmut Lange: An der Prorer Wiek und anderswo. Novellen. Diogenes Verlag, Zürich 2018. 114 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Der Meister unter den phantastischen Rationalisten.« Edelgard Abenstein / Deutschlandradio Kultur Deutschlandradio Kultur