An einem Tag wie diesem ändert Andreas sein Leben. Ihn packt eine Sehnsucht, die zwischen Heimweh und Fernweh nicht mehr unterscheidet. Er wirft alles hin, verkauft seine Wohnung und kündigt seine Stelle in Paris, um nach einem halben Leben zu der Frau zurückzukehren, die er einmal geliebt hat. Die Gleichheit der Tage war sein einziger Halt, jetzt hofft er auf ein Wunder und darauf, dass alles neu beginnt. Seine Reise führt ihn in die Provinz seiner Jugend und wieder weg bis ans Ufer des Atlantiks, in die Arme einer Frau, deren Liebe er beinah verspielt hatte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.07.2006Das große Schulterzucken
Peter Stamm beschreibt einen emotionalen Totalschaden
An einem Tag wie diesem geht ein Mann zum Arzt und erfährt, daß er sterbenskrank ist. An einem Tag wie diesem kündigt er seine Stelle als Deutschlehrer in Paris, veräußert seine Wohnung, kauft ein Auto und macht sich auf den Weg - ohne Ziel zunächst, doch mit dem Wunsch, etwas wiederzufinden, was er vor langer Zeit verloren hat. An einem Tag wie diesem hört das tägliche Einerlei plötzlich auf, tröstlich zu sein. Es reicht nicht mehr, Tage wie diesen gleichgültig aneinanderzureihen, ein Leben wie dieses mit sich geschehen zu lassen. Es muß dieser eine Tag, dieses eine Leben von Bedeutung sein. Vom Versuch eines Mannes, sich zur Teilnahme an der eigenen Existenz zu bewegen, erzählt Peter Stamm in seinem neuen Roman "An einem Tag wie diesem".
Schon lange hat Andreas das Gefühl, den entscheidenden Augenblick verpaßt zu haben, an dem er die Weichen anders hätte stellen können. Genauer gesagt: seit er sich vor zwanzig Jahren in Fabienne verliebte, die als französische Austauschschülerin in seine Schweizer Dorfheimat kam, und seinen - angeborenen? anerzogenen? antrainierten? - Gleichmut sprengte. Ein flüchtiger Kuß, dann verliebte sie sich in seinen Freund Manuel, mit dem sie inzwischen verheiratet ist. Andreas, der ihr seine Gefühle nie gestanden hat, warf sich statt Fabienne deren Heimat Frankreich an den Hals, zog nach Paris, wurde Lehrer, hat parallel Affären mit zwei Frauen, ohne auch nur eine davon zu mögen oder selbst von einer der beiden besonders gemocht zu werden. Er fühlt sich haltlos, aber nicht unbehaglich, wenngleich ihm die eigene Unbestimmheit immerzu bewußt ist. Selbst die Liebe zu Fabienne, die einzige Konstante in seinem Leben, stellt er infrage, wenn er vermutet, daß ihm "die Bedingungslosigkeit jenes Gefühls, das ihn noch zwanzig Jahre später ratlos machte", wichtiger ist als Fabienne selbst.
Als ihm die vierundzwanzigjährige Delphine begegnet, die sich seiner nicht nur erotisch, sondern auch kameradschaftlich umstandslos annimmt, und ihm zur selben Zeit die Diagnose Krebs gestellt wird - und damit eine existentielle Bedrohung ausgesprochen wird, die seine Apathie bereits vorweggenommen hat -, macht sich Andreas auf den Weg in die Vergangenheit - mit der undeutlichen Vorstellung, die ehemals verpaßte Weiche im Nachhinein umstellen zu können. Daß er aufgewühlt ist, Schmerz empfindet oder Verzweiflung oder gar Angst, ahnt man nur, weil er die Menschen in seiner Umgebung sinnlos vor den Kopf stößt und verletzt. Seinen Bettgefährtinnen erteilt er rüde Abfuhren. Sodann versucht er, mit der Frau eines befreundeten Kollegen zu schlafen; anschließend demütigt er ihren Mann, indem er ihm erzählt, Delphine halte ihn für einen Idioten. Delphine wiederum fordert er mitten in der Nacht auf, nach Hause zu gehen. Mit anderen Worten: Er stellt seine Gleichgültigkeit so aggressiv zur Schau, daß es etwas Beleidigendes hat. Delphine, die sich von seinen Distanzierungsattacken wenig beeindruckt zeigt, weiht er immerhin als einzige in die ärztlichen Untersuchungen ein; die Ergebnisse jedoch verhehlt er ihr, behauptet sogar, es sei alles in Ordnung. Als er sich mit dem klapprigen 2 CV - den er offenbar gekauft hat, weil Manuel, Fabienne und er damals, in jenem magisch gefühlten Sommer, in einem 2 CV zum Weiher gefahren sind - auf den Weg in die Schweiz macht, nimmt Andreas Delphine mit. Doch selbst diese Liebesgeschichte bestreitet er mit Verweigerungen: "Als Delphine endlich zurückkam, sagte er, sie müßten aufpassen, sich nicht ineinander zu verlieben."
Das Verschwommene, Diffuse, Ungefähre, das es Peter Stamm schon in früheren Werken, vom Debütroman "Agnes" (1998) über den Kurzgeschichtenband "Blitzeis" (1999) bis hin zu "In fremden Gärten" (2005), angetan hat, wird meisterlich beschworen. Andreas reflektiert die eigene Unbeteiligtheit mit schulterzuckender Klarheit: "Sein Leben war eine endlose Abfolge von Schulstunden, von Zigaretten und Mahlzeiten, Kinobesuchen, Treffen mit Geliebten und Freunden, die ihm im Grund nichts bedeuteten, unzusammenhängende Listen kleiner Ereignisse. Irgendwann hatte er es aufgegeben, dem Ganzen eine Form geben zu wollen, eine Form darin zu suchen."
Peter Stamm unternimmt das genaue Gegenteil. Der Teilnahmslosigkeit seines Protagonisten und des lakonischen, kunstvoll schlichten Erzähltons, der impassibilité stehen ein unbedingter Formwille und ein Stilbewußtsein gegenüber, die in der jüngeren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ihresgleichen suchen. Während Andreas seit Jahren auf einem Fleck verharrt, bewegt sich der Roman unaufhörlich vorwärts und nimmt den Leser mühelos mit. Diese Dynamik, in der ständig, doch unaufdringlich Entfernungen zwischen Menschen, Orten und Gegenständen vermessen werden, trägt dazu bei, daß man den Roman nicht aus der Hand legen kann, obwohl er uns Andreas' Interpretation der Ereignisse und damit jede Dramatik konsequent vorenthält.
Peter Stamm hat mit seinem wenig sympathischen Protagonisten, der keinerlei Überheblichkeit in seine Unbelebtheit legt, einen Nachfahren von Albert Camus' "Fremdem" Meursault geschaffen. Andreas steht als Mittvierziger mit emotionalem Totalschaden stellvertretend für eine Befindlichkeit, die sich nicht einmal aus sich selbst etwas macht - und bei der es sich keineswegs nur um eine wohlfeile literarische Erfindung oder gar Einbildung handelt. Stamm führt die Teilnahmslosigkeit einer Generation vor, der auch ohne einschneidende Erfahrungen der Sinn abhanden gekommen scheint - ohne sie damit zu denunzieren. Als Leserin kann man sich indes eines gewissen Widerwillens, ja einer Genervtheit angesichts dieser gebündelten Mattigkeit nicht erwehren. Daß ausgerechnet dieser Mann ohne Eigenschaften, der ohne jedes innere Engagement misantrophisch vor sich hin vegetiert, das Erregungspotential besitzen soll, dauernd mit irgendwelchen Frauen zu schlafen, die er nicht einmal begehrt, nimmt man ihm nicht recht ab.
Die Reise in die Schweiz führt Andreas zu Fabienne, die er noch immer zu lieben meint, obwohl sie ihm fremd geworden ist. Das Wiedersehen besiegelt den endgültigen Abschied von einer längst verlorenen Leidenschaft. "Er wollte nicht mehr so lieben wie mit zwanzig, aber manchmal vermißte er die Intensität der Gefühle von damals. Und jene Momente, in denen plötzlich alles vorbei war, dieses Gefühl volllkommener Bedeutungslosigkeit und zugleich größter Freiheit . . . Er konnte sich an das Gefühl erinnern, aber er empfand es nicht mehr." Passagen wie diese zählen in ihrer Trostlosigkeit zu den besten des Romans. Doch Peter Stamm hat keine Ode auf die Gleichgültigkeit geschrieben. Andreas besucht das Grab seiner Eltern, das demnächst aufgehoben werden soll. Und hier, als der todkranke Sohn mit seinem Bruder am Grab der Eltern steht, schließt sich ein Kreis. Als der ahnungslose Bruder zum Abschied sagt, das nächste Mal müsse er etwas länger bleiben, nimmt das Leben den verlorenen Faden wieder auf. "Plötzlich glaubte Andreas daran, daß es ein nächstes Mal geben würde." Und als er kurz darauf am Steuer eindöst und nur knapp einem Unfall entgeht, schlägt sein Herz heftig - Indiz dafür, daß er doch mehr sein will als "ein winziger Punkt in einer bedrohlich leeren Landschaft".
Camus' "Fremder", Gustave Flauberts "L'Éducation sentimentale" und Georges Perec, dessen "Ein Mann der schläft" der Roman viel mehr als nur den Titel verdankt, haben Pate gestanden und dieser bisweilen fast heiteren Langeweile, diesem "Leben ohne alles" den Ton vorgegeben. Aber nicht nur die französische Literatur und die Zurückgenommenheit des nouveau roman, sondern auch das Kino eines Eric Rohmer hat hingetupfte Spuren hinterlassen. Wer etwa kürzlich Francois Ozons Film "Die Zeit, die bleibt", das Porträt eines Sterbenden, gesehen hat, fühlt sich zumal am Ende des Romans auf geradezu unheimliche Weise daran erinnert: Wie Ozons Romain findet sich auch Andreas an einem bevölkerten Strand wieder, legt sich in den Sand und entfernt sich vom Menschsein. Daß er noch einmal aufwachen darf und an jenem Strand mit Delphine ein Gefühl wiederfindet, kann man, je nach Temperament und Lesart, als Aufbruchsignal deuten - oder als letzten Versuch eines Mannes, der zu sterben beschlossen hat, sich mit einem Leben zu versöhnen, das nie zu ihm zu gehören schien.
Karl Kraus fand, das Leben sei eine Anstrengung, die einer besseren Sache würdig wäre. Mit Peter Stamm möchte man ergänzen: Des Schreibens zum Beispiel. Stamm hat das Porträt eines Lebensvermeiders geschrieben, mit dessen Lektüre man sich das eigene Leben kurzfristig vom Hals halten kann. Doch man mache sich nichts vor: "An einem Tag wie diesem" ist ein leicht zu lesender, doch schwer zu verkraftender Roman. Man sollte ihn lesen. Noch heute.
Peter Stamm: "An einem Tag wie diesem". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 205 S., geb., 17,90 [Euro].
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Peter Stamm beschreibt einen emotionalen Totalschaden
An einem Tag wie diesem geht ein Mann zum Arzt und erfährt, daß er sterbenskrank ist. An einem Tag wie diesem kündigt er seine Stelle als Deutschlehrer in Paris, veräußert seine Wohnung, kauft ein Auto und macht sich auf den Weg - ohne Ziel zunächst, doch mit dem Wunsch, etwas wiederzufinden, was er vor langer Zeit verloren hat. An einem Tag wie diesem hört das tägliche Einerlei plötzlich auf, tröstlich zu sein. Es reicht nicht mehr, Tage wie diesen gleichgültig aneinanderzureihen, ein Leben wie dieses mit sich geschehen zu lassen. Es muß dieser eine Tag, dieses eine Leben von Bedeutung sein. Vom Versuch eines Mannes, sich zur Teilnahme an der eigenen Existenz zu bewegen, erzählt Peter Stamm in seinem neuen Roman "An einem Tag wie diesem".
Schon lange hat Andreas das Gefühl, den entscheidenden Augenblick verpaßt zu haben, an dem er die Weichen anders hätte stellen können. Genauer gesagt: seit er sich vor zwanzig Jahren in Fabienne verliebte, die als französische Austauschschülerin in seine Schweizer Dorfheimat kam, und seinen - angeborenen? anerzogenen? antrainierten? - Gleichmut sprengte. Ein flüchtiger Kuß, dann verliebte sie sich in seinen Freund Manuel, mit dem sie inzwischen verheiratet ist. Andreas, der ihr seine Gefühle nie gestanden hat, warf sich statt Fabienne deren Heimat Frankreich an den Hals, zog nach Paris, wurde Lehrer, hat parallel Affären mit zwei Frauen, ohne auch nur eine davon zu mögen oder selbst von einer der beiden besonders gemocht zu werden. Er fühlt sich haltlos, aber nicht unbehaglich, wenngleich ihm die eigene Unbestimmheit immerzu bewußt ist. Selbst die Liebe zu Fabienne, die einzige Konstante in seinem Leben, stellt er infrage, wenn er vermutet, daß ihm "die Bedingungslosigkeit jenes Gefühls, das ihn noch zwanzig Jahre später ratlos machte", wichtiger ist als Fabienne selbst.
Als ihm die vierundzwanzigjährige Delphine begegnet, die sich seiner nicht nur erotisch, sondern auch kameradschaftlich umstandslos annimmt, und ihm zur selben Zeit die Diagnose Krebs gestellt wird - und damit eine existentielle Bedrohung ausgesprochen wird, die seine Apathie bereits vorweggenommen hat -, macht sich Andreas auf den Weg in die Vergangenheit - mit der undeutlichen Vorstellung, die ehemals verpaßte Weiche im Nachhinein umstellen zu können. Daß er aufgewühlt ist, Schmerz empfindet oder Verzweiflung oder gar Angst, ahnt man nur, weil er die Menschen in seiner Umgebung sinnlos vor den Kopf stößt und verletzt. Seinen Bettgefährtinnen erteilt er rüde Abfuhren. Sodann versucht er, mit der Frau eines befreundeten Kollegen zu schlafen; anschließend demütigt er ihren Mann, indem er ihm erzählt, Delphine halte ihn für einen Idioten. Delphine wiederum fordert er mitten in der Nacht auf, nach Hause zu gehen. Mit anderen Worten: Er stellt seine Gleichgültigkeit so aggressiv zur Schau, daß es etwas Beleidigendes hat. Delphine, die sich von seinen Distanzierungsattacken wenig beeindruckt zeigt, weiht er immerhin als einzige in die ärztlichen Untersuchungen ein; die Ergebnisse jedoch verhehlt er ihr, behauptet sogar, es sei alles in Ordnung. Als er sich mit dem klapprigen 2 CV - den er offenbar gekauft hat, weil Manuel, Fabienne und er damals, in jenem magisch gefühlten Sommer, in einem 2 CV zum Weiher gefahren sind - auf den Weg in die Schweiz macht, nimmt Andreas Delphine mit. Doch selbst diese Liebesgeschichte bestreitet er mit Verweigerungen: "Als Delphine endlich zurückkam, sagte er, sie müßten aufpassen, sich nicht ineinander zu verlieben."
Das Verschwommene, Diffuse, Ungefähre, das es Peter Stamm schon in früheren Werken, vom Debütroman "Agnes" (1998) über den Kurzgeschichtenband "Blitzeis" (1999) bis hin zu "In fremden Gärten" (2005), angetan hat, wird meisterlich beschworen. Andreas reflektiert die eigene Unbeteiligtheit mit schulterzuckender Klarheit: "Sein Leben war eine endlose Abfolge von Schulstunden, von Zigaretten und Mahlzeiten, Kinobesuchen, Treffen mit Geliebten und Freunden, die ihm im Grund nichts bedeuteten, unzusammenhängende Listen kleiner Ereignisse. Irgendwann hatte er es aufgegeben, dem Ganzen eine Form geben zu wollen, eine Form darin zu suchen."
Peter Stamm unternimmt das genaue Gegenteil. Der Teilnahmslosigkeit seines Protagonisten und des lakonischen, kunstvoll schlichten Erzähltons, der impassibilité stehen ein unbedingter Formwille und ein Stilbewußtsein gegenüber, die in der jüngeren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ihresgleichen suchen. Während Andreas seit Jahren auf einem Fleck verharrt, bewegt sich der Roman unaufhörlich vorwärts und nimmt den Leser mühelos mit. Diese Dynamik, in der ständig, doch unaufdringlich Entfernungen zwischen Menschen, Orten und Gegenständen vermessen werden, trägt dazu bei, daß man den Roman nicht aus der Hand legen kann, obwohl er uns Andreas' Interpretation der Ereignisse und damit jede Dramatik konsequent vorenthält.
Peter Stamm hat mit seinem wenig sympathischen Protagonisten, der keinerlei Überheblichkeit in seine Unbelebtheit legt, einen Nachfahren von Albert Camus' "Fremdem" Meursault geschaffen. Andreas steht als Mittvierziger mit emotionalem Totalschaden stellvertretend für eine Befindlichkeit, die sich nicht einmal aus sich selbst etwas macht - und bei der es sich keineswegs nur um eine wohlfeile literarische Erfindung oder gar Einbildung handelt. Stamm führt die Teilnahmslosigkeit einer Generation vor, der auch ohne einschneidende Erfahrungen der Sinn abhanden gekommen scheint - ohne sie damit zu denunzieren. Als Leserin kann man sich indes eines gewissen Widerwillens, ja einer Genervtheit angesichts dieser gebündelten Mattigkeit nicht erwehren. Daß ausgerechnet dieser Mann ohne Eigenschaften, der ohne jedes innere Engagement misantrophisch vor sich hin vegetiert, das Erregungspotential besitzen soll, dauernd mit irgendwelchen Frauen zu schlafen, die er nicht einmal begehrt, nimmt man ihm nicht recht ab.
Die Reise in die Schweiz führt Andreas zu Fabienne, die er noch immer zu lieben meint, obwohl sie ihm fremd geworden ist. Das Wiedersehen besiegelt den endgültigen Abschied von einer längst verlorenen Leidenschaft. "Er wollte nicht mehr so lieben wie mit zwanzig, aber manchmal vermißte er die Intensität der Gefühle von damals. Und jene Momente, in denen plötzlich alles vorbei war, dieses Gefühl volllkommener Bedeutungslosigkeit und zugleich größter Freiheit . . . Er konnte sich an das Gefühl erinnern, aber er empfand es nicht mehr." Passagen wie diese zählen in ihrer Trostlosigkeit zu den besten des Romans. Doch Peter Stamm hat keine Ode auf die Gleichgültigkeit geschrieben. Andreas besucht das Grab seiner Eltern, das demnächst aufgehoben werden soll. Und hier, als der todkranke Sohn mit seinem Bruder am Grab der Eltern steht, schließt sich ein Kreis. Als der ahnungslose Bruder zum Abschied sagt, das nächste Mal müsse er etwas länger bleiben, nimmt das Leben den verlorenen Faden wieder auf. "Plötzlich glaubte Andreas daran, daß es ein nächstes Mal geben würde." Und als er kurz darauf am Steuer eindöst und nur knapp einem Unfall entgeht, schlägt sein Herz heftig - Indiz dafür, daß er doch mehr sein will als "ein winziger Punkt in einer bedrohlich leeren Landschaft".
Camus' "Fremder", Gustave Flauberts "L'Éducation sentimentale" und Georges Perec, dessen "Ein Mann der schläft" der Roman viel mehr als nur den Titel verdankt, haben Pate gestanden und dieser bisweilen fast heiteren Langeweile, diesem "Leben ohne alles" den Ton vorgegeben. Aber nicht nur die französische Literatur und die Zurückgenommenheit des nouveau roman, sondern auch das Kino eines Eric Rohmer hat hingetupfte Spuren hinterlassen. Wer etwa kürzlich Francois Ozons Film "Die Zeit, die bleibt", das Porträt eines Sterbenden, gesehen hat, fühlt sich zumal am Ende des Romans auf geradezu unheimliche Weise daran erinnert: Wie Ozons Romain findet sich auch Andreas an einem bevölkerten Strand wieder, legt sich in den Sand und entfernt sich vom Menschsein. Daß er noch einmal aufwachen darf und an jenem Strand mit Delphine ein Gefühl wiederfindet, kann man, je nach Temperament und Lesart, als Aufbruchsignal deuten - oder als letzten Versuch eines Mannes, der zu sterben beschlossen hat, sich mit einem Leben zu versöhnen, das nie zu ihm zu gehören schien.
Karl Kraus fand, das Leben sei eine Anstrengung, die einer besseren Sache würdig wäre. Mit Peter Stamm möchte man ergänzen: Des Schreibens zum Beispiel. Stamm hat das Porträt eines Lebensvermeiders geschrieben, mit dessen Lektüre man sich das eigene Leben kurzfristig vom Hals halten kann. Doch man mache sich nichts vor: "An einem Tag wie diesem" ist ein leicht zu lesender, doch schwer zu verkraftender Roman. Man sollte ihn lesen. Noch heute.
Peter Stamm: "An einem Tag wie diesem". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 205 S., geb., 17,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Noch nie hat Peter Stamm "so erregend aus der Mitte der Existenz heraus erzählt", schreibt Rezensent Roman Bucheli. Dabei steht zumindest das Ende aus seiner Sicht zunächst "unter dringendem Kitschverdacht". Trotzdem erkennt der Rezensent in der Szenerie - mit Sonnenuntergang und Meeresrauschen, Kuss und schemenhafter Umarmung - "eine innere Folgerichtigkeit". Nur noch die Silhouette bleibt von einem Mann, der für den Rezensenten einen bestimmten Menschentypus darstellt. Kraflos, kinderlos, blass, von "leisem Ennui" gezeichnet. Es geht, wie wir lesen, um einen Mann Anfang Vierzig, dem eine drohende Krebserkrankung plötzlich eine tiefe Lebensintensität aufzwingt. Stamms Erzählduktus beschreibt der Rezensent als einfach, sein Spiel mit dem Protagonisten als sehr durchtrieben. Insgesamt kniet der Rezensent vor der "sinnlichen Fülle" und der "erzählerischen Prägnanz" dieser Prosa und der Geschichte eines Mann, der es verlernt hat, ein "authentisches" Leben zu führen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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