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AN EINER AXT VORBEISCHLEICHEN beginnt mit erinnerten Bruchstücken aus frühester Kindheit. Bereits nach wenigen Zeilen wird klar, dass die Erzählerin Lydia nicht aus der abgeklärten Haltung der Erwachsenen auf ihre Kindheit zurückschaut. Hier spricht ein Mädchen, das unbeirrt an seiner zeitlosen Betrachtung der Welt festhält. Lydia wächst mit sechs Geschwistern auf. Ihr eigenwilliger Kampf um Selbstbehauptung führt sie zum Sport: Nachdem sie sich eine Weile als Fußballspielerin versucht hat, wird Lydia schließlich Läuferin. Verblüffend ist, wie gut es Beate Grimsrud gelingt, die kindliche…mehr

Produktbeschreibung
AN EINER AXT VORBEISCHLEICHEN beginnt mit erinnerten Bruchstücken aus frühester Kindheit. Bereits nach wenigen Zeilen wird klar, dass die Erzählerin Lydia nicht aus der abgeklärten Haltung der Erwachsenen auf ihre Kindheit zurückschaut. Hier spricht ein Mädchen, das unbeirrt an seiner zeitlosen Betrachtung der Welt festhält. Lydia wächst mit sechs Geschwistern auf. Ihr eigenwilliger Kampf um Selbstbehauptung führt sie zum Sport: Nachdem sie sich eine Weile als Fußballspielerin versucht hat, wird Lydia schließlich Läuferin.
Verblüffend ist, wie gut es Beate Grimsrud gelingt, die kindliche Perspektive glaubhaft zu machen. AN EINER AXT VORBEISCHLEICHEN ist ein Roman, der erwachsene Leser anspricht und ihre Erinnerungen weckt. Zugleich hat er das Potenzial eines Jugendbuches.
Autorenporträt
Beate Grimsrud, geboren 1963 in Norwegen, ist Fußballerin, Boxerin, Übersetzerin und Autorin von Romanen, Kinderbüchern, Bühnenstücken und Drehbüchern. Beate Grimsrud lebt heute in Schweden.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.08.2006

Der Radiergummi im Kopf
Vorsichtig genießen: Beate Grimsrud erinnert sich an eine Kindheit

Wie ein Dompteur, der dem Löwen den Sprung durch den brennenden Reifen befiehlt, schickt Nabokov seiner Autobiographie das Kommando "Erinnerung, sprich" voran. Memoiren sind stets ein artistisches Wagnis, denn das Gedächtnis gehorcht nicht aufs Wort. Besonders die Kindheit ist unsicheres Terrain. Man ist weitgehend auf Erzählungen älterer Familienmitglieder angewiesen, und das, woran man sich erinnert, ist keineswegs sicher verbürgt, sondern kann wieder verlorengehen oder sich im Licht späterer Erfahrungen verändern.

"Halte ich Mutter normalerweise an der Hand, wenn wir nur zu zweit sind? Ich erinnere mich nicht", stellt die fiktive Leichtathletin Lydia Larsen fest, deren Heranwachsen während der siebziger Jahre Beate Grimsrud in ihrem sprachlich sparsamen, episodischen Roman "An einer Axt vorbeischleichen" beschreibt. Die 1963 geborene norwegische Autorin wählt die flexible Form einer im Präsens erzählten Biographie-Autobiographie-Collage und läßt die Unschärfen des Erinnerungsprozesses bewußt unaufgelöst.

Wechselnde Erzählperspektiven sowie das Changieren zwischen dem Bewußtsein der kleinen Lydia, einer älteren Lydia und anderer Personen sind ebenso Unsicherheitsfaktoren wie jene verstörenden Situationen, bei denen nicht klar wird, inwieweit sie Lydias Phantasie entspringen: Hat sie wirklich an diesem Armdrücken teilgenommen und gegen einen älteren Jungen demütigend verloren? Hat ihr die Mutter nach einem Streit tatsächlich "alle Knochen in allen Fingern außer den Daumen an beiden Händen" zertreten?

Man glaubt es kaum, und Lydia entdeckt selbst wiederholt Lücken und Unstimmigkeiten in dem, was sie für ihre Geschichte hält. Weil keine objektive Instanz dem Leser die Wahrheit verrät, muß er aus widersprüchlichen, manchmal nervtötend nebensächlich erscheinenden Fragmenten herauslesen, wie es sich anfühlt, in der Larsen-Sippe aufzuwachsen.

In ihrer Kleinstadt gelten sie als Bohemiens mit ihren sieben rothaarigen Kindern, dem Klavier und ihrer ständigen Finanznot. Der Vater ist immer gut gelaunt, behält aber keinen Job, klaut den Kindern das spärliche Essen vom Teller und bringt regelmäßig das falsche Kleinkind aus dem Kindergarten heim. Die Mutter ist überlastet, oft ungerecht und bitter, spielt aber gern Klavier und bemalt Wände. An Sonntagen geht es manchmal auf die Müllhalde, wo schon mal ein ganzer Karton nagelneuer roter Turnschuhe oder eine Sonnenuhr auf Finder warten. Kein Wunder, daß die Nachbarschaft sich den Mund zerreißt. Die sechsjährige Lydia hat damit im Unterschied zu ihrer großen Schwester Rakel kein Problem und hat sich in ihrer Außenseiterrolle eingerichtet. Sie brütet über vielen Fragen: Kann sie wirklich alles werden, wenn sie groß ist? Gibt es einen Radiergummi im Kopf, der alles Unangenehme ausradieren kann? Und was bedeutet es, wenn Mutters merkwürdige (für die Erwachsenen: psychisch kranke) Schwester Marianne, die den ganzen Tag "dünn und bleich wie ein Kühlschrank" im Bett liegt, zu ihr sagt: "Du, du bist wie ich."?

Zum Glück stimmt das nicht ganz. Um im lärmenden Chor der Großfamilie ihre eigene Stimme zu finden, muß Lydia aber erst ihr Lauftalent entdecken. Mit vierzehn hat sie sich von ihrer inneren Ungelenkigkeit weitgehend freigelaufen und steht als beste Kurzstreckenläuferin des Landes am Beginn einer internationalen Karriere. Für eine Lebensgeschichte unter dem ungut klingenden Motto "An einer Axt vorbeischleichen" ist dies immerhin ein unerwartet versöhnlicher Schluß.

ANNETTE ZERPNER.

Beate Grimsrud: "An einer Axt vorbeischleichen". Aus dem Norwegischen übersetzt von Julia Gschwilm unter Mitwirkung von Wolfgang Butt. Verlag Tisch 7, Köln 2006. 236 S., geb., 18,50 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Soll man das lesen? Annette Zerpners Besprechung lässt das offen. Zwar erläutert sie, wie die Autorin Beate Grimsrud das "artistische Wagnis" der Lebensgeschichte mit ihrer biografisch-autobiografischen Collage noch waghalsiger macht und mit Lakonie und wechselnden Perspektiven die Vagheit und Löchrigkeit der Erinnerung noch unterstreicht. Die Story, zu der dieser Prozess jedoch letztlich führt, der Ausbruch einer jungen Frau aus einer Familien- und Kindheitsgeschichte, bleibe ohne Kontur. Erfüllt der Text genau damit seine Bestimmung? Zerpner jedenfalls ahnt, dass die Wahrheit hier in "manchmal nervtötend nebensächlich erscheinenden Fragmenten" stecken könnte.

© Perlentaucher Medien GmbH