Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.05.2000Jäger der verlorenen Schallplatte
Leider keine Flötentöne: Vikram Seths musikalischer Roman
Ist der multimediale Roman geboren? "Alle Werke, die im Buch Erwähnung finden, können Sie nun bequem zum klingenden Leben erwecken." "Klassik-Top-Stars" seien dabei, und eine "CD-Welterst-Einspielung" eines Beethoven-Quintetts ereigne sich. "Genießen Sie also die ganze Wahrheit der ,Verwandten Stimmen' mit Buch und CD."
Bei diesen vollmundigen Versprechungen smarten Marketings handelt es sich um Vikram Seths neuen Roman, der im vergangenen Jahr bei der angelsächsischen Kritik recht geteilte Aufnahme fand. Aber wer erst einmal einen Platz im Herzen des großen Lesepublikums gefunden hat, der ist daraus nicht so leicht wieder zu vertreiben.
Mit seinem anderthalbtausendseitigen Roman über "Eine gute Partie" (deutsch 1995) im postkolonialen Indien war Seth vor einigen Jahren zu Bestsellerruhm aufgestiegen, kein zweiter Rushdie, aber gewiss nicht der seichteste seines Metiers. Dem hätte zudem auch sein "Golden Gate" (1991) widersprochen, jenes bislang nicht ins Deutsche übersetzte tragikomische Epos in 588 Sonetten aus dem modernen Yuppie-Milieu von San Francisco, das die Tradition der Verserzählungen Puschkins und Byrons auf höchst seriöse Weise fortführt. Nun aber, im neuen Roman, leuchtet weder kalifornische noch indische Sonne auf schlanke Palmen; Linden und Platanen stehen vielmehr kahl und schwarz im Winterwind, und ein paar Unentwegte steigen in das eisige Wasser des Serpentine mitten im Londoner Hydepark. Es ist ein Zähigkeitstest, den Seth als Wahl-Londoner nicht nur selbst gelegentlich auf sich nimmt. Ihm setzt er auch den neuen Romanhelden aus, Michael Holme, blasshäutiger Fleischerssohn aus der nordenglischen Provinz und von Beruf zweiter Violinist eines Streichquartetts.
Ein Streichquartett als Stoff für einen Roman - das klingt gleichfalls nach einem Zähigkeitstest. "Musik" jedoch, so erklärt der Autor im Nachwort, "liegt mir noch mehr am Herzen als Sprache". Es ist ein überraschender Satz aus dem Munde eines Schriftstellers und klingt fast nach Verrat an seinem Beruf. Gemeint ist das nicht, aber eine Verwechslung ereignet sich dennoch. Denn in der Absicht, durch fremden Mund literarisch über eine Herzenssache sprechen zu können, setzt Seth nun einen Berufsmusiker als Erzähler ein, der zwar häufig mit der Brillanz des professionellen Autors spricht, aber dort, wo er als musikalischer Fachmann meditiert, über den Status des Liebhabers nicht hinausgelangt. So bleiben die Einsichten dieses Buches in Musik konventionell, und das Repertoire des literarischen Streichquartetts beschränkt sich auf Vivaldi, Bach, Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert. Schumann bereits ist der "falsche Schu . . .", und für Moderneres finden sich nur bissige Worte, abgesehen von Vaughan Williams' Hit der "aufsteigenden Lerche".
Um literarischer Originalität willen existiert stattdessen jenes Beethoven'sche Streichquintett op. 104, die Transkription des bekannten Klaviertrios op. 1,3, die Seth wieder entdecken lässt. Ein hübscher Einfall, der weidlich ausgenützt wird, wenn Michael der seltenen Schallplatte quer durch London nachjagt und sie später verzweifelt in einen Teich versenkt. Aus dessen Tiefen taucht sie nun als CD neuerlich auf. Nur entsteht daraus nicht multimediale Literatur, sondern allenfalls die "ganze Wahrheit" des Romans, denn unfreiwillig wird der Beweis erbracht, dass hier eben nicht gelingt, Musik in die Literatur zu integrieren. Deutsche Leser werden sich an Thomas Manns Meisterschaft auf diesem Felde erinnern. Bei ihm müssten sich schon die Romangestalten selbst ins Aufnahmestudio bemühen.
Der Rest von Seths Buch ist dann wirklich "Roman": interne Querelen des Quartetts um Pläne und Neigungen, externe mit Agenten, Schallplattenfirmen und Kritikern, dazu die Frage, ob Michael die von der alten Mrs. Formby geliehene Tononi-Violine von den Erben weggenommen werden wird, seine Sorge um den alternden Vater und dessen Katze Zsa-Zsa und vor allem natürlich die Liebesgeschichte mit Julia, der Freundin aus Wiener Studententagen. Nur dass Julia jetzt, zehn Jahre später, inzwischen mit einem sympathischen und verständnisvollen amerikanischen Bankier verheiratet ist, einen kleinen Sohn hat, unter neuem Namen als Konzertpianistin inzwischen einen guten Ruf erwerben konnte, überdies aber - und da pocht das Schicksal an die Pforte - im Begriffe ist, taub zu werden. Behindertenproblematik fordert zur Sympathie heraus. Aber sie bleibt hier akzidentell und verschafft dem Roman nur insofern eine Besonderheit, als darin ausgiebig gefaxt wird, weil Julia das Läuten des Telefons nicht mehr hören kann.
Seths Darstellung des Verhältnisses zwischen Julia und Michael mag persönlicher Geschmack verschieden beurteilen. Die einen werden Liebesnöte mitempfinden, die anderen durch eine Überdosis an Melodramatik daran gehindert werden. Unübersehbar ist jedenfalls, wie brüsk, taktlos und indiskret sich dieser Michael der verlorenen und wieder gefundenen Jugendgeliebten gegenüber verhält, ja wie das, was er für Liebe ansieht, eher einer Obsession gleichkommt, die, von einer tiefen, unbewussten Angst vor der Gemeinsamkeit mit einer Frau getragen, mit Erfüllung nichts anzufangen weiß. So hat dieses Verhältnis zu viel von einem Zähigkeitstest an sich, und man betrachtet diesen Michael eher mit einigem Kopfschütteln wie die Schwimmer im eisigen Wasser des Serpentine. Nicht wenige Leser dürften sogar aufatmen, wenn Julia ihn am Ende ein zweites Mal loswird.
Wieviel Seth seinem Helden von eigenen Konflikten zwischen zwei Kulturen, zwei Künsten und zwei Geschlechtern mitgegeben hat, weiß nur er selbst. Die "Botschaft" des Buches ist ganz sicher die seine: Musik soll unverlierbar Harmonie bieten, wo das Leben lediglich Missklänge bereithält. "Musik, solche Musik, ist Geschenk genug. Warum nach Glück verlangen; warum hoffen, nicht leiden zu müssen? Es ist genug, es ist Segen genug, Tag für Tag zu leben und hin und wieder solche Musik zu hören - nicht zu viel, denn die Seele würde es nicht ertragen." Dergleichen herbe Süße wird viele anziehen und andere sehr unbefriedigt lassen, denn da wird etwas mitgeteilt, für das die Erzählung von den Nöten des zweiten Violinisten Michael Holme im Maggiore-Streichquartett keinen rechten Rückhalt bietet.
Deutschen Lesern wird manches von Seths gelegentlichem Humor schwer zugänglich sein, obwohl sich die Übersetzung flüssig lesen lässt. Aus unbekannten Gründen hat der Verlag die Übersetzung der Widmungsverse an den Geiger Philippe Honoré, der übrigens auf der CD zu hören ist, sowie einiger Gedichteinlagen einem zweiten Übersetzer übergeben, dessen Inkompetenz ins Unsägliche reicht. "Perhaps this could have stayed unstated" ("Vielleicht hätte dies ungesagt bleiben können") heißt es zurückhaltend zu Anfang der Widmung, was zu der umwerfende Zeile "Pardon, dass es wird ausgequasselt" verhunzt wird. Aus einem vorsichtigen, zurückhaltenden, klaren Gedicht entsteht auf diese Weise ein völlig sinnloses, Grammatik und Prosodie verachtendes Gebilde. Das hat Vikram Seth, dieser elegante Verskünstler, wahrhaftig nicht verdient.
GERHARD SCHULZ Vikram Seth: "Verwandte Stimmen". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Anette Grube. Kindler Verlag, Reinbek bei Hamburg 2000. 478 S., geb., 48,- DM.
Vikram Seth: "Verwandte Stimmen". Musik aus dem gleichnamigen Roman. Decca Record Company, London 2000. 2 CDs in Kassette, 39,95 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Leider keine Flötentöne: Vikram Seths musikalischer Roman
Ist der multimediale Roman geboren? "Alle Werke, die im Buch Erwähnung finden, können Sie nun bequem zum klingenden Leben erwecken." "Klassik-Top-Stars" seien dabei, und eine "CD-Welterst-Einspielung" eines Beethoven-Quintetts ereigne sich. "Genießen Sie also die ganze Wahrheit der ,Verwandten Stimmen' mit Buch und CD."
Bei diesen vollmundigen Versprechungen smarten Marketings handelt es sich um Vikram Seths neuen Roman, der im vergangenen Jahr bei der angelsächsischen Kritik recht geteilte Aufnahme fand. Aber wer erst einmal einen Platz im Herzen des großen Lesepublikums gefunden hat, der ist daraus nicht so leicht wieder zu vertreiben.
Mit seinem anderthalbtausendseitigen Roman über "Eine gute Partie" (deutsch 1995) im postkolonialen Indien war Seth vor einigen Jahren zu Bestsellerruhm aufgestiegen, kein zweiter Rushdie, aber gewiss nicht der seichteste seines Metiers. Dem hätte zudem auch sein "Golden Gate" (1991) widersprochen, jenes bislang nicht ins Deutsche übersetzte tragikomische Epos in 588 Sonetten aus dem modernen Yuppie-Milieu von San Francisco, das die Tradition der Verserzählungen Puschkins und Byrons auf höchst seriöse Weise fortführt. Nun aber, im neuen Roman, leuchtet weder kalifornische noch indische Sonne auf schlanke Palmen; Linden und Platanen stehen vielmehr kahl und schwarz im Winterwind, und ein paar Unentwegte steigen in das eisige Wasser des Serpentine mitten im Londoner Hydepark. Es ist ein Zähigkeitstest, den Seth als Wahl-Londoner nicht nur selbst gelegentlich auf sich nimmt. Ihm setzt er auch den neuen Romanhelden aus, Michael Holme, blasshäutiger Fleischerssohn aus der nordenglischen Provinz und von Beruf zweiter Violinist eines Streichquartetts.
Ein Streichquartett als Stoff für einen Roman - das klingt gleichfalls nach einem Zähigkeitstest. "Musik" jedoch, so erklärt der Autor im Nachwort, "liegt mir noch mehr am Herzen als Sprache". Es ist ein überraschender Satz aus dem Munde eines Schriftstellers und klingt fast nach Verrat an seinem Beruf. Gemeint ist das nicht, aber eine Verwechslung ereignet sich dennoch. Denn in der Absicht, durch fremden Mund literarisch über eine Herzenssache sprechen zu können, setzt Seth nun einen Berufsmusiker als Erzähler ein, der zwar häufig mit der Brillanz des professionellen Autors spricht, aber dort, wo er als musikalischer Fachmann meditiert, über den Status des Liebhabers nicht hinausgelangt. So bleiben die Einsichten dieses Buches in Musik konventionell, und das Repertoire des literarischen Streichquartetts beschränkt sich auf Vivaldi, Bach, Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert. Schumann bereits ist der "falsche Schu . . .", und für Moderneres finden sich nur bissige Worte, abgesehen von Vaughan Williams' Hit der "aufsteigenden Lerche".
Um literarischer Originalität willen existiert stattdessen jenes Beethoven'sche Streichquintett op. 104, die Transkription des bekannten Klaviertrios op. 1,3, die Seth wieder entdecken lässt. Ein hübscher Einfall, der weidlich ausgenützt wird, wenn Michael der seltenen Schallplatte quer durch London nachjagt und sie später verzweifelt in einen Teich versenkt. Aus dessen Tiefen taucht sie nun als CD neuerlich auf. Nur entsteht daraus nicht multimediale Literatur, sondern allenfalls die "ganze Wahrheit" des Romans, denn unfreiwillig wird der Beweis erbracht, dass hier eben nicht gelingt, Musik in die Literatur zu integrieren. Deutsche Leser werden sich an Thomas Manns Meisterschaft auf diesem Felde erinnern. Bei ihm müssten sich schon die Romangestalten selbst ins Aufnahmestudio bemühen.
Der Rest von Seths Buch ist dann wirklich "Roman": interne Querelen des Quartetts um Pläne und Neigungen, externe mit Agenten, Schallplattenfirmen und Kritikern, dazu die Frage, ob Michael die von der alten Mrs. Formby geliehene Tononi-Violine von den Erben weggenommen werden wird, seine Sorge um den alternden Vater und dessen Katze Zsa-Zsa und vor allem natürlich die Liebesgeschichte mit Julia, der Freundin aus Wiener Studententagen. Nur dass Julia jetzt, zehn Jahre später, inzwischen mit einem sympathischen und verständnisvollen amerikanischen Bankier verheiratet ist, einen kleinen Sohn hat, unter neuem Namen als Konzertpianistin inzwischen einen guten Ruf erwerben konnte, überdies aber - und da pocht das Schicksal an die Pforte - im Begriffe ist, taub zu werden. Behindertenproblematik fordert zur Sympathie heraus. Aber sie bleibt hier akzidentell und verschafft dem Roman nur insofern eine Besonderheit, als darin ausgiebig gefaxt wird, weil Julia das Läuten des Telefons nicht mehr hören kann.
Seths Darstellung des Verhältnisses zwischen Julia und Michael mag persönlicher Geschmack verschieden beurteilen. Die einen werden Liebesnöte mitempfinden, die anderen durch eine Überdosis an Melodramatik daran gehindert werden. Unübersehbar ist jedenfalls, wie brüsk, taktlos und indiskret sich dieser Michael der verlorenen und wieder gefundenen Jugendgeliebten gegenüber verhält, ja wie das, was er für Liebe ansieht, eher einer Obsession gleichkommt, die, von einer tiefen, unbewussten Angst vor der Gemeinsamkeit mit einer Frau getragen, mit Erfüllung nichts anzufangen weiß. So hat dieses Verhältnis zu viel von einem Zähigkeitstest an sich, und man betrachtet diesen Michael eher mit einigem Kopfschütteln wie die Schwimmer im eisigen Wasser des Serpentine. Nicht wenige Leser dürften sogar aufatmen, wenn Julia ihn am Ende ein zweites Mal loswird.
Wieviel Seth seinem Helden von eigenen Konflikten zwischen zwei Kulturen, zwei Künsten und zwei Geschlechtern mitgegeben hat, weiß nur er selbst. Die "Botschaft" des Buches ist ganz sicher die seine: Musik soll unverlierbar Harmonie bieten, wo das Leben lediglich Missklänge bereithält. "Musik, solche Musik, ist Geschenk genug. Warum nach Glück verlangen; warum hoffen, nicht leiden zu müssen? Es ist genug, es ist Segen genug, Tag für Tag zu leben und hin und wieder solche Musik zu hören - nicht zu viel, denn die Seele würde es nicht ertragen." Dergleichen herbe Süße wird viele anziehen und andere sehr unbefriedigt lassen, denn da wird etwas mitgeteilt, für das die Erzählung von den Nöten des zweiten Violinisten Michael Holme im Maggiore-Streichquartett keinen rechten Rückhalt bietet.
Deutschen Lesern wird manches von Seths gelegentlichem Humor schwer zugänglich sein, obwohl sich die Übersetzung flüssig lesen lässt. Aus unbekannten Gründen hat der Verlag die Übersetzung der Widmungsverse an den Geiger Philippe Honoré, der übrigens auf der CD zu hören ist, sowie einiger Gedichteinlagen einem zweiten Übersetzer übergeben, dessen Inkompetenz ins Unsägliche reicht. "Perhaps this could have stayed unstated" ("Vielleicht hätte dies ungesagt bleiben können") heißt es zurückhaltend zu Anfang der Widmung, was zu der umwerfende Zeile "Pardon, dass es wird ausgequasselt" verhunzt wird. Aus einem vorsichtigen, zurückhaltenden, klaren Gedicht entsteht auf diese Weise ein völlig sinnloses, Grammatik und Prosodie verachtendes Gebilde. Das hat Vikram Seth, dieser elegante Verskünstler, wahrhaftig nicht verdient.
GERHARD SCHULZ Vikram Seth: "Verwandte Stimmen". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Anette Grube. Kindler Verlag, Reinbek bei Hamburg 2000. 478 S., geb., 48,- DM.
Vikram Seth: "Verwandte Stimmen". Musik aus dem gleichnamigen Roman. Decca Record Company, London 2000. 2 CDs in Kassette, 39,95 DM.
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