Spricht man in Frankreich von der Liebe, kommt man früher oder später auf Jean Racine, den größten Tragödienautor Frankreichs - vor allem wenn man von jener Liebe spricht, der kein glückliches Ende beschert ist. Und doch ist Racinemehr als all die geflügelten Worte, zu denen viele seiner Verse geworden sind. Zwischen all dem klassisch weißen Marmor lauern die Schatten. »Eine Trennung ist keine Nichtigkeit«, schreibt Racine im Vorwort zu seiner Tragödie Bérénice - und Nathalie Azoulai nimmt ihn beim Wort. Ihre Bérénice, eine Frau des 21. Jahrhunderts, wird verlassen; Titus, ihr Liebhaber, kehrt zurück zu Frau und Familie. Und tatsächlich - die Worte Racines sind ihr ein Trost; sie erkennt sich in ihnen wieder; sie bedient sich wie in einem »Selbstbedienungsladen für Liebeskranke«. Doch wie konnte ein Mann des 17. Jahrhunderts so treffend über die Liebe und das Leid und den Schmerz nach deren Ende schreiben - zumal aus der Perspektive einer Frau?Mit Bérénice taucht Azoulai ein in das Leben Jean Racines, zeigt dessen Aufstieg vom Waisenkind im strengen Kloster Port-Royal zum Günstling Ludwigs XIV., die Zerrissenheit zwischen der jansenistischen Askese und dem Prunk am Hof desSonnenkönigs. Und immer sind ihm Sprache und Literatur Anker und Kompass: die verbotenen und im Verborgenen gelesenen Texte Vergils und Heliodors als Kind und die Suche nach neuen Ausdrucksformen der Liebe und Leidenschaft alsimmer erfolgreicherer Dichter.Nathalie Azoulai spiegelt ihre Bérénice der Gegenwart in der Lebensgeschichte ihres Schöpfers und dessen éducation sentimentale im Schmerz seiner Figur, Bérénice. Und so wird dieser berückend schöne und filigrane Text zu weit mehr alseiner Biographie oder einem historischen Roman: Nathalie Azoulai zeigt die Universalität der Leidenschaft und des Kummers über die Jahrhunderte hinweg und beschreibt so eine Topographie der Sprache der Liebe.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.02.2018Alexandriner gegen Liebeskummer
Nathalie Azoulais munterer Roman über den Tragödiendichter Racine
"Titus schickte die Königin Berenike sogleich aus Rom fort, gegen ihren und seinen Willen." So wortkarg berichtet der Geschichtsschreiber Sueton von dem klassischen Fall des Liebesverrats aus Staatsraison. Eine Heirat des Kaisers mit einer morgenländischen Königin hätten Senat und Volk von Rom nicht akzeptiert. Diesen Stoff wollte sich auch Jean Racine, der bedeutendste Tragiker der französischen Klassik, nicht entgehen lassen. Der Satz des Sueton soll allerdings die einzige Quelle für seine "Bérénice" gewesen sein, entsprechend ist das Drama von erhabener Handlungsarmut bei höchster Musikalität der Verssprache.
Die 1966 geborene Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Nathalie Azoulai hat die beiden Liebenden in ihrem in Frankreich schon 2015 erschienenen Roman in die Gegenwart versetzt. "Titus verlässt Bérénice, um nicht Roma zu verlassen, seine rechtmäßige Ehefrau, die Mutter seiner Kinder." Zurück bleibt die von schwerem Liebeskummer überwältigte Bérénice. Dem üblichen banalen Tröstungsgeplapper ausgesetzt, hört sie plötzlich einen Vers von Racine: "Im öden Orient wurd alles mir zur Qual!" Nun nimmt sie dessen Tragödien aus dem Regal und entdeckt das Deklamieren seiner unvergleichlich melodiösen Alexandriner als Heilung vom Liebeskummer.
Schließlich fragt sie sich, "wer dieser Kerl eigentlich gewesen ist, der die Liebe der Frauen so gut zu beschreiben wusste". Nun geht die Geschichte unversehens in eine romanhafte Biographie Racines über. Sie beschreibt die Entwicklung des Waisenkindes vom Aufwachsen im Kloster Port-Royal zum gefeierten Dichter, Mitglied der Académie und Vertrauten des Sonnenkönigs. Insbesondere sein Hin- und Hergerissensein zwischen der asketischen Frömmigkeit der Gelehrten um Port-Royal und dem mondänen Leben in Paris. Das wird sehr munter und mitreißend erzählt, die Distanz zum großen Dichter wie zum klassischen Zeitalter Frankreichs weitgehend aufgehoben.
Dabei hatte man der Erzählerin, vielleicht ja auch der Autorin geraten, "besser die Finger von Racine" zu lassen. "Racine gehört Dir nicht, Racine ist Frankreich." Tatsächlich genießt der Dichter der Unmöglichkeit gegenseitiger Liebe im französischen Bildungsbürgertum nach wie vor höchste Verehrung. Auch die Wertschätzung der französischen Sprache als Instrument des klaren Denkens geht nicht zuletzt auf die um Port-Royal erarbeitete Grammatik und Logik zurück.
Die Warnung, sich am Gewicht der Tradition zu verheben, gewinnt an Gewicht angesichts der Tatsache, dass Nathalie Azoulai zwar keine morgenländische Königin, aber immerhin das Kind ägyptischer Einwanderer ist. Die sich als nicht zugehörig empfunden haben mag, demonstriert in der Erzählung nicht nur ihre Bewunderung der französischen Sprache und Literatur, sondern nicht ohne Schalkhaftigkeit auch ihre souveräne Aneignung der klassischen Tradition. Das kann in der Situation der Zerrissenheit der französischen Gesellschaft als ein Plädoyer für Leitkultur gelesen werden.
Es liegt auf der Hand, dass die vielen Anspielungen des Romans bis hin zum Lob des Alexandriners den deutschen Leser nicht gleichermaßen erreichen können. Schon eine Übersetzung des ursprünglichen Titels wollte der Verlag dem Leser nicht zumuten. Sie hätte nämlich zur Verwirrung des Lesers "Titus liebte Bérénice nicht" gelautet.
Den Bezug auf Racine hätten wohl eher wenige Leser hergestellt. Im frühen 18. Jahrhundert vom Kritiker Gottsched dem deutschen Theater noch als großes Vorbild anempfohlen, wurde er in der Abkehr von der französischen Leitkultur als steif und künstlich denunziert und durch den "natürlichen" Shakespeare ersetzt. Dadurch trat auch der fünfhebige Blankvers im deutschen Drama an die Stelle des zwölfsilbigen und durch mittige Zäsur definierten Alexandriners. Als Aufforderung, die Tradition nicht steriler konformistischer Verehrung zu überlassen, wie sie die Goethe- und Schiller-Rezeption in Deutschland zu häufig geprägt hat, funktioniert der Roman dennoch auch auf Deutsch, zumal dem Übersetzer Paul Sourzac die Nachbildung der Munterkeit des Tons gut gelungen ist.
Das Ende soll nicht verraten werden, obwohl es so beliebig ist wie das Gänseblümchenspiel oder der Deus ex Machina der klassischen Tragödie, überhaupt ist die Konstruktion nicht recht stimmig. So herrscht ein schöner Mutwille in Nathalie Azoulais liebenswertem Buch, das die Tradition der Sprache und der Literatur, wohl wissend, dass sie oft dem Leiden entspringt, als eine Quelle der Lebensenergie feiert.
FRIEDMAR APEL.
Nathalie Azoulai: "An Liebe stirbt man nicht". Roman.
Aus dem Französischen von Paul Sourzac. Secession Verlag für Literatur, Zürich 2017. 250 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nathalie Azoulais munterer Roman über den Tragödiendichter Racine
"Titus schickte die Königin Berenike sogleich aus Rom fort, gegen ihren und seinen Willen." So wortkarg berichtet der Geschichtsschreiber Sueton von dem klassischen Fall des Liebesverrats aus Staatsraison. Eine Heirat des Kaisers mit einer morgenländischen Königin hätten Senat und Volk von Rom nicht akzeptiert. Diesen Stoff wollte sich auch Jean Racine, der bedeutendste Tragiker der französischen Klassik, nicht entgehen lassen. Der Satz des Sueton soll allerdings die einzige Quelle für seine "Bérénice" gewesen sein, entsprechend ist das Drama von erhabener Handlungsarmut bei höchster Musikalität der Verssprache.
Die 1966 geborene Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Nathalie Azoulai hat die beiden Liebenden in ihrem in Frankreich schon 2015 erschienenen Roman in die Gegenwart versetzt. "Titus verlässt Bérénice, um nicht Roma zu verlassen, seine rechtmäßige Ehefrau, die Mutter seiner Kinder." Zurück bleibt die von schwerem Liebeskummer überwältigte Bérénice. Dem üblichen banalen Tröstungsgeplapper ausgesetzt, hört sie plötzlich einen Vers von Racine: "Im öden Orient wurd alles mir zur Qual!" Nun nimmt sie dessen Tragödien aus dem Regal und entdeckt das Deklamieren seiner unvergleichlich melodiösen Alexandriner als Heilung vom Liebeskummer.
Schließlich fragt sie sich, "wer dieser Kerl eigentlich gewesen ist, der die Liebe der Frauen so gut zu beschreiben wusste". Nun geht die Geschichte unversehens in eine romanhafte Biographie Racines über. Sie beschreibt die Entwicklung des Waisenkindes vom Aufwachsen im Kloster Port-Royal zum gefeierten Dichter, Mitglied der Académie und Vertrauten des Sonnenkönigs. Insbesondere sein Hin- und Hergerissensein zwischen der asketischen Frömmigkeit der Gelehrten um Port-Royal und dem mondänen Leben in Paris. Das wird sehr munter und mitreißend erzählt, die Distanz zum großen Dichter wie zum klassischen Zeitalter Frankreichs weitgehend aufgehoben.
Dabei hatte man der Erzählerin, vielleicht ja auch der Autorin geraten, "besser die Finger von Racine" zu lassen. "Racine gehört Dir nicht, Racine ist Frankreich." Tatsächlich genießt der Dichter der Unmöglichkeit gegenseitiger Liebe im französischen Bildungsbürgertum nach wie vor höchste Verehrung. Auch die Wertschätzung der französischen Sprache als Instrument des klaren Denkens geht nicht zuletzt auf die um Port-Royal erarbeitete Grammatik und Logik zurück.
Die Warnung, sich am Gewicht der Tradition zu verheben, gewinnt an Gewicht angesichts der Tatsache, dass Nathalie Azoulai zwar keine morgenländische Königin, aber immerhin das Kind ägyptischer Einwanderer ist. Die sich als nicht zugehörig empfunden haben mag, demonstriert in der Erzählung nicht nur ihre Bewunderung der französischen Sprache und Literatur, sondern nicht ohne Schalkhaftigkeit auch ihre souveräne Aneignung der klassischen Tradition. Das kann in der Situation der Zerrissenheit der französischen Gesellschaft als ein Plädoyer für Leitkultur gelesen werden.
Es liegt auf der Hand, dass die vielen Anspielungen des Romans bis hin zum Lob des Alexandriners den deutschen Leser nicht gleichermaßen erreichen können. Schon eine Übersetzung des ursprünglichen Titels wollte der Verlag dem Leser nicht zumuten. Sie hätte nämlich zur Verwirrung des Lesers "Titus liebte Bérénice nicht" gelautet.
Den Bezug auf Racine hätten wohl eher wenige Leser hergestellt. Im frühen 18. Jahrhundert vom Kritiker Gottsched dem deutschen Theater noch als großes Vorbild anempfohlen, wurde er in der Abkehr von der französischen Leitkultur als steif und künstlich denunziert und durch den "natürlichen" Shakespeare ersetzt. Dadurch trat auch der fünfhebige Blankvers im deutschen Drama an die Stelle des zwölfsilbigen und durch mittige Zäsur definierten Alexandriners. Als Aufforderung, die Tradition nicht steriler konformistischer Verehrung zu überlassen, wie sie die Goethe- und Schiller-Rezeption in Deutschland zu häufig geprägt hat, funktioniert der Roman dennoch auch auf Deutsch, zumal dem Übersetzer Paul Sourzac die Nachbildung der Munterkeit des Tons gut gelungen ist.
Das Ende soll nicht verraten werden, obwohl es so beliebig ist wie das Gänseblümchenspiel oder der Deus ex Machina der klassischen Tragödie, überhaupt ist die Konstruktion nicht recht stimmig. So herrscht ein schöner Mutwille in Nathalie Azoulais liebenswertem Buch, das die Tradition der Sprache und der Literatur, wohl wissend, dass sie oft dem Leiden entspringt, als eine Quelle der Lebensenergie feiert.
FRIEDMAR APEL.
Nathalie Azoulai: "An Liebe stirbt man nicht". Roman.
Aus dem Französischen von Paul Sourzac. Secession Verlag für Literatur, Zürich 2017. 250 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main