Zu den künstlerischen Experimenten der Renaissance gehören die optischen Illusionen in Gestalt der Anamorphosen. Diese Bilder treiben ihr Spiel mit dem Betrachter, in dem sie ihr ursprüngliches Motiv durch wohlkalkulierte Verzerrung verbergen und es in neuen, abstrakten Formen erscheinen lassen. Faszinierende Wechselspiele zwischen Offensichtlichem und Verstecktem lassen den Betrachter die Doppeldeutigkeit des Abgebildeten erfahren. Anamorphosen offenbaren dem Betrachter ihren wahren Inhalt nicht auf Anhieb. Mal müssen sie aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet werden, manche Spielarten erfordern gar die Benutzung eines geometrischen Spiegelkörpers oder einer Apparatur mit Prismenoptik, um den Bildinhalt entzerrt wiederzugeben. Ihre Blütezeit erfuhr die Anamorphose im 18. und 19. Jahrhundert, als sie als unterhaltsame optische Belustigung Einzug in die Haushalte hielt. Weitgehend mechanisierte Reproduktions- und Druckmethoden gestatteten eine Anfertigung in hohen Auflagen. Da kein Unikat mehr, war die Anamorphose somit jedermann zugänglich. Heute führen gerade die aus jener Zeit stammenden Anamorphosen in vielen Museen ein einsames Schattendasein. Als optische Kuriosität nehmen sie in den großen Sammlungen der populären Druckgraphik eher eine Randstellung ein. In diesem Buch soll den Anamorphosen ein ihnen gebührender Platz eingeräumt werden und damit auch der Versuch unternommen werden, auf diese vergessene Kunst der optischen Illusion aufmerksam zu machen.