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Produktdetails
  • Verlag: Siedler
  • Seitenzahl: 535
  • Deutsch
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 810g
  • ISBN-13: 9783886804634
  • ISBN-10: 3886804631
  • Artikelnr.: 22310483
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1995

Der politische Romantiker
David Barclay porträtiert Friedrich Wilhelm IV., der vor zweihundert Jahren geboren wurde

Der Biograph, der mehr im Sinn hat, als längst Bekanntes modisch wiederzugeben, muß Material entdecken, das neue Deutungen ermöglicht, oder er muß die schon bekannten Fakten einer neuen Fragestellung aussetzen, die sich mit dem Leben seines Helden befaßt oder den Wechselwirkungen der Persönlichkeit und ihrer Zeit nachspürt. Über Leben und Tun Friedrich Wilhelms IV., der am 15. Oktober 1795 geboren wurde, sind wir recht gut informiert. Weitere Einzelheiten werden sicher ans Licht kommen - der Verfasser des hier besprochenen Buches hat einiges Interessante in den Archiven entdeckt -, aber größere Lücken scheinen nicht mehr zu bestehen, abgesehen von unserem unzureichenden Wissen um die physische und psychische Krankheitsgeschichte des Königs.

Seit seiner Jugend litt Friedrich Wilhelm unter stark schwankenden Stimmungen, und depressive Tendenzen behinderten ihn zunehmend schon vor den Schlaganfällen der letzten Jahre. Aber die exakte Diagnose besonders seines physischen Zustands ist für die Geschichte von geringerer Bedeutung als der Zustand selbst: das von vielen Zeugen belegte Pendeln zwischen optimistischer Phantasie und Apathie, zwischen brutaler Heftigkeit und Weiche, das seine Politik beeinflußte und immer wieder schwächte.

Der amerikanische Historiker David Barclay, der sich seit langem mit dem Leben Friedrich Wilhelms beschäftigt, veröffentlicht jetzt ein Buch, in dem er eine umfassende Neuinterpretation des Königs zu entwickeln versucht. Auf der ersten Seite erklärt er, das Werk sei "keine Biographie im herkömmlichen Sinne", was wohl richtig ist, da für eine Biographie Wichtiges nur flüchtig erwähnt wird oder ganz ausgeklammert ist. Von fast 400 Seiten Text behandeln weniger als 16 "Kindheit und Jugendzeit". Vom Anteil des Königs an den täglichen Entscheidungen in Verwaltung, Justiz und Heer, den Stellenbesetzungen und Auszeichnungen, erhält man keinen deutlichen Eindruck. Friedrich Wilhelms künstlerische und kulturelle Interessen werden wiederholt betont, aber selten ernsthaft beschrieben und untersucht.

Mendelssohn und Meyerbeer sind zwei-oder dreimal als Staffage der kulturellen Szene erwähnt; Spontini, Menzel, Rauch (der Bildhauer, nicht der Generaladjutant) erscheinen nicht im Register. Auch Krüger, gewiß einer der bedeutendsten Künstler am königlichen Hofe, ist übergangen, obwohl zwei seiner Gemälde dem Buch als Illustrationen dienen. Das Interesse des Verfassers gilt anderem: den politischen Ideen und der Politik des Königs.

Nach einem mehr impressionistischen als systematischen Überblick über das monarchische System im neunzehnten Jahrhundert und seine spezifisch preußische Form werden Friedrich Wilhelms politische Entwicklung und Regierungszeit beschrieben und gedeutet. Im Mittelpunkt stehen die politischen Vorstellungen des Königs und sein andauerndes Bemühen, ein gegenrevolutionäres, monarchisches Programm durchzusetzen, in dem Dynastie und Kirche, auf ständische Einrichtungen gestützt, die Autorität des Königs verteidigen und ausbauen, die Privilegien des hohen Adels, der adligen Rittergutsbesitzer, des Offizierskorps und der Bürokratie befestigen und dank einer obrigkeitsfrommen, politisch passiven Bevölkerung den sozialen Frieden bewahren. An diesem Punkt hörte die Wechselhaftigkeit des Königs auf, und Barclay stimmt Erich Marcks bekannter Bemerkung zu, daß Friedrich Wilhelm, bei jeder Einzeltat inkonsequent, "im Tiefsten konsequent" gewesen sei.

Seine Untersuchung legt besonderen Wert auf Zeremoniell, auf des Königs öffentliche Auftritte und Reden sowie auf seine Reisen - Instrumente der Selbstidentifizierung und der Kommunikation mit den "neuen Öffentlichkeiten" des industrialisierenden Jahrhunderts, die der König im Zeichen eines modernen Gottesgnadentums zu erziehen und manipulieren versuchte. Friedrich Wilhelm, so der Verfasser, habe für die Notwendigkeit dieser Beeinflussung besonderes Verständnis gezeigt, was ihn par excellence zu einem "Monarchen der Moderne" und zu "Preußens erstem modernen König" machte - Etiketten, die, so scheint es, positiv gemeint sind. Wenn das Buch auch keine vollständige Lebensbeschreibung darstellt, so ist das biographische Element doch ein wesentlicher Teil des Ganzen.

Die Stärke des Werkes besteht vor allem in des Verfassers bemerkenswerter Vertrautheit mit den Details seines Themas, den gedruckten und ungedruckten Akten, Briefen, Erinnerungen und anderen Quellen. Weit mehr als 1000 Anmerkungen ermöglichen dem Leser, jede erwähnte Meinungsäußerung, Unterhandlung und Entscheidung weiter zu erforschen. Politische und diplomatische Episoden sind übersichtlich geschildert, und immer wieder sucht Barclay die Persönlichkeit des Königs mit seiner politischen Strategie und Taktik in Einklang zu bringen. Hier aber gerät er in Schwierigkeiten. Da er der Persönlichkeit Friedrich Wilhelms so großes Gewicht beimischt - und auch offensichtlich von ihr fasziniert ist -, verläßt er leicht die Politik und gleitet ins rein Biographische, ohne dann die neue Richtung konsequent zu verfolgen. Das Resultat ist eine Untersuchung politischer Gedanken und Handlungen, der größere und kleinere biographische Fetzen anhängen.

Das bedeutet nicht nur eine verwirrende Folge von zuviel und zuwenig; Darstellung und Deutung schweben manchmal im leeren Raum. Ein Beispiel: Das Kapitel über die Monate nach der Revolution im März 1848 erwähnt kaum die politische Entwicklung in Berlin zwischen dem Zeughaussturm im Juni und einem unidentifizierten "erneuten Gewaltausbruch" am 21. August. Auch die Tumulte und Proteste in Berlin im Oktober werden übergangen.

Wenn der König und seine Berater schon im frühen Sommer überzeugt waren, daß die Linke in der Hauptstadt und die Bevölkerung an sich keine besondere Gefahr darstellten, verdient das erklärt zu werden; waren sie es nicht, könnte es interessant sein, den Einfluß, den Arbeiterunruhen und Straßenaufzüge in Berlin auf den König ausübten, nachzuzeichnen. Die Gliederung des Materials hätte dem Verfasser weniger Schwierigkeiten bereitet, wenn er sich für eine zusammenhängende Biographie entschieden hätte oder auch für eine mehr theoretisch angelegte Untersuchung der politischen Ideen des Königs, die weitgehend von Tageserscheinungen absehen könnte.

Wie interessant und wichtig waren eigentlich diese Ideen? Die Bedeutung des Zeremoniellen, der Feste und Ordensverleihungen, der königlichen Reden und Reisen, mag der Verfasser doch überschätzt haben. Sicher beeindruckten sie manchen Bürger, aber daß sie das politische Geschehen ernstlich beeinflußten, ist nicht bewiesen und übrigens höchst unwahrscheinlich. Die Öffentlichkeit der vierziger Jahre war noch nicht die des zwanzigsten Jahrhunderts, und auch Wilhelm II. - um bei den Hohenzollern zu bleiben - hat mit der Inszenierung kaiserlicher Spektakel eigentlich nur seine eigene Schwäche bezeugt.

Auch die paternalistisch-ständischen Wunschbilder, die Friedrich Wilhelms Phantasie so stark beschäftigten, machten nicht das Eigentliche seiner Politik aus. Deren Kern war etwas anderes: die Angst, daß alte Eliten oder das aufsteigende Bürgertum seine Macht schmälern würden, und die Entschlossenheit, dieser Gefahr bis aufs äußerste zu widerstehen. Seine politische Romantik, über die selbst seine nächsten Anhänger die Achsel zuckten, war Verbrämung eines absoluten Willens zur Machterhaltung, auch wenn er selbst Macht nicht besonders gut zu handhaben verstand.

Wie der Verfasser bemerkt, war die Regierung Friedrich Wilhelms, von seinem Standpunkt aus gesehen, durchaus nicht ohne Erfolg. Das Scheitern der Revolution von 1848 beweist das zur Genüge. Aber es war die ungebrochene Macht der alten Eliten, die Friedrich Wilhelm hin und wieder bekämpfte und deren Interessen aber doch mit seinen übereinstimmten, die letzten Endes den Erfolg ermöglichten.

Der Verfasser hat den Titel seines Buches einem Brief entnommen, den ein Vertrauter des Königs, Leopold von Gerlach, 1854 an Bismarck schrieb. "Anarchie" bezieht sich auf das ständige Manövrieren, Schwanken und Zögern des Königs, der "gute Wille" dagegen auf sein Ideal des sozialen Friedens in einem fortschrittlichen, aber doch traditionsgebundenen Preußen. Praktisch bedeutete das, daß Friedrich Wilhelm bereit war, manches für dieses Ideal zu opfern, nur nicht einen Bruchteil der eigenen Macht. Die Starrheit, mit der er eigenes Interesse verteidigte und ein gesünderes Zusammengehen des Staates mit neuen sozialen Kräften vereitelte, ist sicher als ein Erfolg für ihn zu rechnen, ein Erfolg, den Preußen und später Deutschland schwer bezahlen mußten. PETER PARET

David Barclay: "Anarchie und guter Wille". Friedrich Wilhelm IV. und die preußische Monarchie. Aus dem Englischen von Marion Müller. Siedler Verlag, Berlin 1995. 536 S., 50 Abb., geb., 78,- DM.

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