Produktdetails
- Verlag: Voland
- ISBN-13: 9788862435376
- Artikelnr.: 71735422
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.01.2008Lametta der Anarchie
Serhij Zhadan erzählt von der Ukraine, dem Beat und den Platten
Ja, ja. Das Leben ist ein Zug, der sich durch Höhen und Tiefen windet. Und natürlich weiß niemand, wohin die Reise geht. Also ist der Weg das Ziel. Über diese buddhistische Beat-Literatur- und Allerlei-Erkenntnis, die Serhij Zhadans Buch „Anarchy in the UKR” zugrunde liegt, könnte man sich fast ein wenig ärgern. Zu groß ist die Gefahr, in die Klischee-Falle zu tappen. Auch für einen Autor aus der „kaputten, abgewetzten und verzweifelten” Umbruchs-Ukraine, deren literarische Erkundung nach all den Andruchowytschs, Dereschs und Zhadans, so denkt man sich, doch langsam erschöpft sein müsste.
Über die Handlung des 2005 in der Ukraine erschienen Buches ist nicht viel zu sagen. Die große Lebenssuche – mit viel Alkohol, Rock ‘n‘ Roll, ganzen Armeen von Nutten, Trinkern, Drogenabhängigen und Absurditäten – war schon das melancholische Surrogat des rasanten Romans „Depeche Mode” aus dem Jahr 2004. Nun besucht der Autor, der aus Charkiw stammte, die Städte und Stätten seiner Kindheit im Südosten seiner Heimat. Dabei gelingen ihm subtile Beobachtungen, luzide Erinnerungsbilder und herzzerreißend schöne Sätze.
Unter anderem eine der vielleicht wunderbarsten literarischen Beschreibungen einer Schallplatte: „Über Platten weiß ich alles. Mit ihren eingeschnittenen Tracks, in Hülle verpackt, die unberührt sind wie ein verschneites Feld voll schwarzem, verharschtem Schnee, riecht eine Platte nach Feuer und Eisen, nach Synthetik und Chemie, wenn du sie herausgeholt hast, zuerst aus der äußeren Papierhülle, dann aus der inneren, nimmst du sie vorsichtig zur Hand und hältst sie gegen das Licht, du siehst wie der Staub sich auf ihre zerbrechliche Oberfläche setzt, die Sonne die schmalen Rillen entlangläuft in einer der vier Stadionbahnen, die keinen Anfang und entsprechend aus kein Ende haben.”
Schroffe Wortkaskaden
Die rockige, rotzige Sprache, mit der Zhadan dabei durch die düstere Landschaft der post-sowjetischen Industrie-Region des Donbass schießt, macht fast alle Vorbehalte gegenüber dem Buch wieder wett. Der 32-Jährige besitzt ein ungeheuerliches Sprachtalent, das in seinen Gedichten fast noch besser zum Tragen kommt als in der längeren Form dieser delirierenden Reisebeschreibung. Man muss sicherlich Ukrainisch können, um die düstere Schönheit des anarchisch-glitzernden Lamettas noch besser zu begreifen, die Zhadans schroffe Assoziationskaskaden ausstrahlt. Nur so lässt sich verstehen, warum seine Gedichte und Zitate aus seinen Büchern wie Pop-Songs unter den jungen Ukrainern kursieren.
Dieses überaus gelungene Buch lässt aber auch erahnen, mit welchen Herausforderungen sich Zhadan künftig herumschlagen muss, will er die nächste Etappe eines reifen Autorendaseins erreichen. Noch lebt der „Rimbaud der Ukraine” von seinem wuchtigen Sprachfluss, der ohne allzu viel Konstruktion, fast ohne Sujets oder komplexe Charaktere auskommt. Ein wirklich großer Autor wird Zhadan allerdings erst werden, wenn es ihm gelingt, seinen entfesselten, immer noch jugendlichen Zorn in eine größere, epische Form zu heben. INGO PETZ
SERHIJ ZHADAN: Anarchy in the UKR. Aus dem Ukrainischen übersetzt von Claudia Dathe. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 217 Seiten, 10 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Serhij Zhadan erzählt von der Ukraine, dem Beat und den Platten
Ja, ja. Das Leben ist ein Zug, der sich durch Höhen und Tiefen windet. Und natürlich weiß niemand, wohin die Reise geht. Also ist der Weg das Ziel. Über diese buddhistische Beat-Literatur- und Allerlei-Erkenntnis, die Serhij Zhadans Buch „Anarchy in the UKR” zugrunde liegt, könnte man sich fast ein wenig ärgern. Zu groß ist die Gefahr, in die Klischee-Falle zu tappen. Auch für einen Autor aus der „kaputten, abgewetzten und verzweifelten” Umbruchs-Ukraine, deren literarische Erkundung nach all den Andruchowytschs, Dereschs und Zhadans, so denkt man sich, doch langsam erschöpft sein müsste.
Über die Handlung des 2005 in der Ukraine erschienen Buches ist nicht viel zu sagen. Die große Lebenssuche – mit viel Alkohol, Rock ‘n‘ Roll, ganzen Armeen von Nutten, Trinkern, Drogenabhängigen und Absurditäten – war schon das melancholische Surrogat des rasanten Romans „Depeche Mode” aus dem Jahr 2004. Nun besucht der Autor, der aus Charkiw stammte, die Städte und Stätten seiner Kindheit im Südosten seiner Heimat. Dabei gelingen ihm subtile Beobachtungen, luzide Erinnerungsbilder und herzzerreißend schöne Sätze.
Unter anderem eine der vielleicht wunderbarsten literarischen Beschreibungen einer Schallplatte: „Über Platten weiß ich alles. Mit ihren eingeschnittenen Tracks, in Hülle verpackt, die unberührt sind wie ein verschneites Feld voll schwarzem, verharschtem Schnee, riecht eine Platte nach Feuer und Eisen, nach Synthetik und Chemie, wenn du sie herausgeholt hast, zuerst aus der äußeren Papierhülle, dann aus der inneren, nimmst du sie vorsichtig zur Hand und hältst sie gegen das Licht, du siehst wie der Staub sich auf ihre zerbrechliche Oberfläche setzt, die Sonne die schmalen Rillen entlangläuft in einer der vier Stadionbahnen, die keinen Anfang und entsprechend aus kein Ende haben.”
Schroffe Wortkaskaden
Die rockige, rotzige Sprache, mit der Zhadan dabei durch die düstere Landschaft der post-sowjetischen Industrie-Region des Donbass schießt, macht fast alle Vorbehalte gegenüber dem Buch wieder wett. Der 32-Jährige besitzt ein ungeheuerliches Sprachtalent, das in seinen Gedichten fast noch besser zum Tragen kommt als in der längeren Form dieser delirierenden Reisebeschreibung. Man muss sicherlich Ukrainisch können, um die düstere Schönheit des anarchisch-glitzernden Lamettas noch besser zu begreifen, die Zhadans schroffe Assoziationskaskaden ausstrahlt. Nur so lässt sich verstehen, warum seine Gedichte und Zitate aus seinen Büchern wie Pop-Songs unter den jungen Ukrainern kursieren.
Dieses überaus gelungene Buch lässt aber auch erahnen, mit welchen Herausforderungen sich Zhadan künftig herumschlagen muss, will er die nächste Etappe eines reifen Autorendaseins erreichen. Noch lebt der „Rimbaud der Ukraine” von seinem wuchtigen Sprachfluss, der ohne allzu viel Konstruktion, fast ohne Sujets oder komplexe Charaktere auskommt. Ein wirklich großer Autor wird Zhadan allerdings erst werden, wenn es ihm gelingt, seinen entfesselten, immer noch jugendlichen Zorn in eine größere, epische Form zu heben. INGO PETZ
SERHIJ ZHADAN: Anarchy in the UKR. Aus dem Ukrainischen übersetzt von Claudia Dathe. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 217 Seiten, 10 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Nicht schön, aber doch beeindruckend und kraftvoll findet Rezensent Christoph Schröder das neue Buch des 1974 geborenen ukrainischen Autors, das aus seiner Sicht eigentlich eher eine wüste Textsammlung ist. Das emotionale Spektrum der hier beschriebenen Reisen durch die "konkrete Gegenwart und eine imaginierte Vergangenheit" der Ukraine sieht der Rezensent von "nostalgisch-verklärt" bis "wütend-enttäuscht" reichen und kann auch der sprachlichen Leidenschaft, mit der sie verfasst sind, einiges abgewinnen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Zhadan ist so etwas wie der Shootingstar einer jungen ukrainischen Literatur - der aggressive Antipode des melancholischen Juri Andruchowytsch. Jugend aus dem Gleis; die dazu gehörige Prosa: Ennui und Fetzen. Doch, Fetzen an Fetzen gefügt, wird auch in diesem Prosaband ein roter Faden kenntlich - und was für einer.« DIE WELT