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Kein Verzeichnis körperlicher und seelischer Gebrechen kennt diese Krankheit, kein Arzt hat sie je diagnostiziert, und doch leidet manch einer darunter: "Morbus biographicus", zu deutsch: "autobiographische Entleerung". Das Symptom: fehlende Erinnerung an die eigene Kindheit. Am Ende steht der Verlust jedes biographischen Gefühls. Als Therapie bleibt nur, den fehlenden autobiographischen Faden erzählend neu zu spinnen.
So wird für den Helden dieses heiter-melancholischen Buches eine Kindheit in der ostwestfälischen Provinz lebendig, in der der verlorene Bruder dominiert. Die Suche nach der
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Produktbeschreibung
Kein Verzeichnis körperlicher und seelischer Gebrechen kennt diese Krankheit, kein Arzt hat sie je diagnostiziert, und doch leidet manch einer darunter: "Morbus biographicus", zu deutsch: "autobiographische Entleerung". Das Symptom: fehlende Erinnerung an die eigene Kindheit. Am Ende steht der Verlust jedes biographischen Gefühls. Als Therapie bleibt nur, den fehlenden autobiographischen Faden erzählend neu zu spinnen.

So wird für den Helden dieses heiter-melancholischen Buches eine Kindheit in der ostwestfälischen Provinz lebendig, in der der verlorene Bruder dominiert. Die Suche nach der eigenen Vergangenheit wird zu einer Suche nach den Eltern. Sie führt in den Osten, in ein abgelegenes Straßendorf in der Ukraine, dann in eine noch viel kleinere Siedlung im ehemaligen Wartheland in Polen. Was der Vergangenheitslose dort an Spuren seiner Vorfahren findet, ist nichts - und doch mehr als genug, um einen Roman daraus zu machen.

Wer meint, in dieser Lebensgeschichte die Biographie des international erfolgreichen Autors Hans-Ulrich Treichel wiederzuerkennen, ist auf der richtigen Spur - und wird doch in die Irre geführt. In Anatolin gibt Treichel dem Thema seiner preisgekrönten Romane Der Verlorene und Menschenflug eine überraschende Wende. So entsteht ein raffiniertes, ebenso unterhaltsames wie witzig-kluges Vexierspiel mit den Voraussetzungen autobiographischen Erzählens, ein Tanz mit dem fremden Selbst auf der Suche nach der eigenen Biographie.
Autorenporträt
Treichel, Hans-Ulrich
Hans-Ulrich Treichel, am 12.8.1952 in Versmold/Westfalen geboren, lebt in Berlin und Leipzig. Er studierte Germanistik an der Freien Universität Berlin und promovierte 1984 mit einer Arbeit über Wolfgang Koeppen. Er war Lektor für deutsche Sprache an der Universität Salerno und an der Scuola Normale Superiore Pisa. Von 1985-1991 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin und habilitierte sich 1993. Von 1995 bis 2018 war Hans-Ulrich Treichel Professor am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. Seine Werke sind in 28 Sprachen übersetzt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.09.2008

Leben als Leerstelle

Suche Bruder, biete Psychotherapie: Hans-Ulrich Treichel variiert sein Leib-und-Magen-Thema der familiären Gefühlsschule und des Vexierspiels mit der deutschen Geschichte.

Hans-Ulrich Treichel ist nicht der erste Schriftsteller, der um ein einziges Thema kreist. Solange Unerledigtes in den Tiefen rumort und den Schriftsteller zu immer neuen, beunruhigenden Spielarten desselben Stoffes treibt, muss das kein Nachteil sein. Ein Autor, der nicht nur die Spitzen des Eisberges beleuchtet, sondern abtaucht in die Tiefenströmungen des Unbewussten, wo das Eis rätselhaft blaugrün leuchtet - dahin will Treichel mit seinem neuen Roman "Anatolin", der ein autobiographisches Kernthema wiederaufnimmt, das schon in der Erzählung "Der Verlorene" (1998) und im Roman "Menschenflug" (2005) umkreist wurde: die Suche nach dem auf der Flucht aus den deutschen Ostgebieten verschollenen Bruder. Ein deutsches Urtrauma und ein familiäres Geheimnis, das während der ganzen Kindheit von den Eltern lautstark beschwiegen wird, aber gerade darum das Kind nachhaltig verstört.

Während Treichels Roman "Menschenflug" ein historisches Vexierspiel präsentiert, in dem das Findelkind Nummer 2307 am Ende zwar aufgespürt, aber die leibhaftige Begegnung aus pekuniären Berechnungen vermieden wird, unternimmt der Held von "Anatolin" eine breit angelegte Suche, in deren Laufe er die weggebrochenen Teile der Familiengeschichte künstlich einsetzen will. Die autobiographische Leerstelle soll aufgefüllt werden mit der Rekonstruktion der elterlichen Lebensgeschichte. Der Erzähler diagnostiziert bei sich ein geheimes Leiden, den "Morbus biographicus", eine Form von biographischer Entleerung.

Symptom dieser Krankheit ist der Verlust jeglichen biographischen Gefühls. Als Folge dieses Mankos macht er bei sich eine schwankende Identität aus. Das Ich kennt keinen Halt und keine Gewissheiten, an denen es sich zuverlässig festklammern könnte. Damit zielt Treichel exemplarisch auf das Drama einer ganzen Generation: der Kinder der Kriegseltern, die ihre Biographie in einem Meer von Schweigen neu erfinden mussten.

Dies ist ein Versuch, den Familienroman literarisch zu synthetisieren. Vom Bild des Vaters ist dabei nicht viel mehr als ein bedrohlicher Schatten geblieben. Verbittert und erstarrt durch die Kriegserlebnisse, fasste das Oberhaupt den Sohn hart an. Ohne rechte Hand war er aus dem Gemetzel zurückgekehrt, das Kind kennt ihn nur als jähzornigen Mann mit dem schwarzen, zerschlissenen Lederhandschuh über der Prothese. Es ist eine freudlose Kindheit, deren seltene Glücksmomente vom Schellen der Klingel im kleinen Dorfladen und dem abendlichen Nachzählen der Münzhaufen abhängt. Die Angst vor Umsatzverlust hält die Familie in ständiger Panik, zum zweiten Mal Haus und Hof zu verlieren, in der Gosse zu landen oder nach Polen oder Russland zurück zu müssen.

Der zweite prägende Daueralarm wird verursacht durch den auf der Flucht verlorengegangenen Günter. Die Mutter schwört unter Tränen, dieser sei verhungert. In Wahrheit ist er verschollen.

Treichels Konzept zielt auf eine Schule der Gefühle, den Wiedergewinn des Empfindens, das Beleben der tauben Stelle im eigenen Seelenhaushalt. Was ihm fehle, sei eine "narrative Identität", meint der Erzähler einmal - eine allzu hellsichtige Diagnose für einen verstörten Protagonisten, der dem Unbegreiflichen ausgeliefert ist. Zwei Expeditionen unternimmt der Erzähler, um die Familiengeschichte zu finden und neu zu erfinden. Den Vater sucht er in Bryschtsche, einem ukrainischen Straßendorf, die Mutter im polnischen Warthegau, einer Region im Landkreis Waldrode, die, so erfährt er bei Wikipedia, exemplarisch für die Greueltaten stehe, welche die Nationalsozialisten an der polnischen Bevölkerung verübt hätten. Den Bruder aber macht er scheinbar mit Internetrecherchen ausfindig, bis sich auch diese Hoffnung durch einen DNA-Test definitiv zerstört.

Nichts spricht gegen die Wiederaufnahme desselben Lebensmotivs im eigenen Schreiben. Solange der suggestive Effekt auf den Leser nicht ausbleibt, ist es einem Schriftsteller unbenommen, ohne Unterlass an seinem Ich-Buch weiterzuschreiben. Genau da aber liegt das Dilemma von "Anatolin". In diesem dritten literarischen Versuch beißt sich die Katze in den Schwanz. Die Ergebnisse dieses Fiktionsspiels in der zweiten Potenz, das vom altklugen Ich-Erzähler fortwährend kommentiert, in Vergleiche zu den früheren Romanen gesetzt und mit psychoanalytischem und erzähltechnischem Basiswissen angereichert wird, bleiben doch etwas mager; der Funke will nicht zünden. Der Schreibende weiß viel, zu viel. Aber tut ihm die Wunde aus der Kindheit noch weh? Eher bekommt man den Eindruck, hier werde ein erzählerisches Pflichtprogramm absolviert, das sich im Roman "Menschenflug" als höchst erfolgreich erwiesen hat.

Wer so eloquent über verschüttete Konflikte zu räsonieren vermag, wer so geschliffen Therapievorschläge in eigener Angelegenheit zur Hand hat, ist den Umständen nicht mehr ausgeliefert. "Eine dieser möglichen Erzählungen kann ein Märchen sein - das Märchen der eigenen Kindheit beispielsweise. Ich hätte es gern geschrieben. Ich würde es gern erzählen. Aber ich kenne mich mit Märchen nicht gut aus." In solchen Passagen unterstellt der Autor dem Erzähler eine Naivität, die der Leser diesem nicht abnimmt und die den Eindruck der artifiziellen Konstruktion nur noch verstärkt. Auch die Anleihen bei Klassikern wirken prätentiös und abgegriffen, genauso wie die minutiösen Selbstbeobachtungen, die dem Leser vertrauensvoll mitgeteilt werden, nicht einer gewissen Koketterie entbehren. Allein die Untersuchung des Begriffs "Scham", der fröhlich erörtert und häufig verwendet wird, würde den Befund stützen, dass allzu oft doziert und viel zu wenig erzählt wird - auf Kosten der literarischen Authentizität. Scham spürt man im Verborgenen, verlegen, von sich selbst unangenehm berührt - offenherzig referieren darüber tut man eher nicht.

Treichels Rechnung geht nicht auf, der Leser wird durch die poetologischen Spielereien weder irritiert noch verstört und schon gar nicht fasziniert. Das könnte nicht zuletzt damit zu tun haben, dass die Zitrone inzwischen einfach ausgepresst ist.

PIA REINACHER

Hans-Ulrich Treichel: "Anatolin". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 189 S., geb., 17,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Diese Geschichte über Flucht und die Unfähigkeit zur Erinnerung ist für Christoph Schröder gegessen. Wieso Hans-Ulrich Treichel seinem "überragenden" Buch "Der Verlorene" dieses Gequassel aus dem Zettelkasten hinterherschicken musste, ist ihm ein Rätsel. Ärgerlich ist für Schröder nicht nur die kompositorische Unausgegorenheit des Textes, sondern eben auch der Mangel an neuen Ideen. Dass Treichel diese Lücke mit Banalitäten (Exkurse über die Schriftstellerexistenz, "touristische Anekdoten") füllt und, unnötig Verwirrung stiftend, Autobiografisches mit Erdachtem verquirlt, empfindet der Rezensent als Zumutung, nicht als Roman. Da hilft auch der "unverwechselbare" Treichel-Sound nichts.

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