In der Nacht vom 31. August auf den 1. September 2008 nehmen sich in einer kleinen Stadt im Osten Grönlands elf Menschen das Leben. Wie eine Epidemie breitet sich der Freitod in allen gesellschaftlichen Schichten und Altersgruppen des Ortes aus, dessen Bewohner sich »durch eine Berührung oder einen Blick infiziert« zu haben scheinen. Oberflächlich betrachtet, stehen diese Selbstmorde in keinerlei Zusammenhang, nur einige der Toten kannten sich flüchtig. Und doch fragt sich der außenstehende Beobachter: »Ist es nicht ein Trugschluss zu glauben, das Leben eines Einzelnen habe Bedeutung nur für sich betrachtet? Genauso wenig wie der Tod eines Einzelnen Sinn macht, isoliert vom Leben der anderen.« Der Roman »Anatomie einer Nacht« erzählt die letzten Stunden von elf Menschen, und er erzählt von Grönland, diesem Land der Extreme, über dem so viel Kälte und Einsamkeit und tröstlicher Zauber zugleich liegt. Behutsam und in eindringlichen Bildern folgt Anna Kim den lebensgeschichtlichen Verzweigungen und gibt Antwort darauf, warum diese eine Nacht nur so ablaufen konnte, wie sie ablief.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.06.2013Tödliches Eis
Anna Kims Grönland-Roman „Anatomie einer Nacht“
Ein Drittel der grönländischen Mädchen unter fünfzehn Jahren sei sexuell missbraucht worden, berichtete Danmarks Radio im Jahre 2007, und ein Viertel der Jugendlichen dort werde Selbstmord begehen. Man kann sich vorstellen, welche Reaktionen solche Statistiken ausgelöst hätten, wenn es sich um Robbenbabys gehandelt hätte. So aber wurde dadurch nur ein Romantitel John Griesemers bestätigt: „Niemand denkt an Grönland“.
Für die österreichische Autorin Anna Kim war Grönland deshalb „das exotischste Land der Welt“. So heißt es in einem Exposé ihres Projektes zum Thema „Kolonialismus und Identität“, dessen öffentliche Förderung ihr eine Reise in den hohen Norden ermöglichte. Dass Anna Kim dort „grönländischer“ aussah als manche Einheimische, hat mit ihrer Herkunft zu tun. 1977 in Südkorea geboren, kam sie 1984 nach Wien. In Grönland hat sie Stoff für ihre 2011 erschienene Reportage „Invasion des Privaten“ gesammelt und für diesen Roman: „Anatomie einer Nacht“.
Die Schicksale von elf Menschen, die in jener Nacht Selbstmord begehen, sind in einem fatalen Reigen verstrickt. Impressionistisch wirkt der irritierende Wechsel der Perspektiven über wechselnde Zeitebenen hinweg, das Changieren zwischen Figurensicht und auktorialer Allwissenheit, zwischen der Geschichte einer Nacht und bis ins Historische reichenden Rückblenden. So erscheint der Polizist Jens mal als groß, mal als klein, denn er wird zweimal und aus Sicht zweier Frauen beschrieben, deren Schicksale durch die Begegnung mit ihm besiegelt werden. Eine der beiden, die vierzehnjährige Julie, gehört zu jenem Drittel missbrauchter Mädchen. Doch erst die Enttäuschung ihrer ersten „wahren“ Liebe wird ihr den Todesstoß versetzen.
Auch die Spontaneität, mit der Kims Gestalten hier zum Strick, zum Schal, zum Gewehr greifen oder ins Wasser gehen, lässt diese Selbstmord-Epidemie nie als Nummernrevue erscheinen. Obwohl „Anatomie einer Nacht“ von 22 bis 3 Uhr in einem strengen Stundentakt gegliedert zu sein scheint, gewinnt der Reigen doch die Form eines Kreises, der jene „schwarze Masse“ umfasst, in die sich der fiktive 1500-Seelen-Ort Amarâq in Ostgrönland nachts verwandelt – „ein Nichts, das sich fleckenweise über die Landschaft verteilt“. Das dunkle Nichts ist hier die Stadt und nicht die Nacht, die sie umhüllt.
Julies Schicksalsgenossinnen und -genossen wissen, dass der Hafen sie hier nur mit noch abgelegeneren Häfen verbindet und dass sie in der Welt, die über den Hubschrauber des Heliports erreichbar wäre, nicht willkommen sind. Rückblenden werfen Schlaglichter auf den dänischen Kolonialismus, der eine perfekt an ihre Umwelt angepasste Jägerkultur in die Zeiten aufkommenden Artenschutzes überführte. Drastisch beschriebene Fälle von Hunger und Kannibalismus gehen so mit einer „Sonderanweisung aus Kopenhagen“ einher, „dass der Moschusochse eine vom Aussterben bedrohte Spezies sei, die nicht mehr gejagt werden dürfe“.
In vielen kleinen Schritten nähern sich Kims Gestalten einem Abgrund, der Geschichte und Gegenwart umfasst. Obwohl dieser Roman Szenen enthält, für die mancher Thriller-Autor seinen Agenten geopfert hätte, gewinnt er seine Spannung nicht aus ausgereizten Handlungssträngen. Zwar hätte manches anders kommen können, wenn der Arzt im Ort kein nach Grönland entwichener Pädophiler gewesen wäre. Doch selbst ein Alkoholverbot hätte nichts daran geändert, dass man die Grönländer aus ihrer Welt, an die sie perfekt angepasst waren, an das Ende einer größeren verbannt hat, in der fast niemand an sie denkt.
Unter den vielen Bildern der tödlichen Melancholie, die auf Amarâq und seinen Einwohnern lastet, ist der Weg, den Julie nach ihrer Liebesenttäuschung geht, das eindringlichste: „Sie folgte der Straße bis an ihr Ende, wissend, dass sie im Nichts enden wird, (. . .) als wäre nichts normaler als eine Straße, die plötzlich aufhört.“
Man muss nicht bis nach Grönland reisen, um solche losen Enden zu entdecken, und man muss keine begabte Schriftstellerin sein, um ein solches Straßenstück zu beschreiben. Doch man muss nach Grönland gereist sein und zudem eine hochbegabte Schriftstellerin sein, um diesem Bild empathisch, aber auch mit provozierend beiläufiger Sachlichkeit einen Kontext zu verleihen, in dem es zum Sinnbild einer Situation wird, aus der es nur einen Ausweg gibt.
ULRICH BARON
Anna Kim:
Anatomie einer Nacht.
Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 303 Seiten, 19,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Anna Kims Grönland-Roman „Anatomie einer Nacht“
Ein Drittel der grönländischen Mädchen unter fünfzehn Jahren sei sexuell missbraucht worden, berichtete Danmarks Radio im Jahre 2007, und ein Viertel der Jugendlichen dort werde Selbstmord begehen. Man kann sich vorstellen, welche Reaktionen solche Statistiken ausgelöst hätten, wenn es sich um Robbenbabys gehandelt hätte. So aber wurde dadurch nur ein Romantitel John Griesemers bestätigt: „Niemand denkt an Grönland“.
Für die österreichische Autorin Anna Kim war Grönland deshalb „das exotischste Land der Welt“. So heißt es in einem Exposé ihres Projektes zum Thema „Kolonialismus und Identität“, dessen öffentliche Förderung ihr eine Reise in den hohen Norden ermöglichte. Dass Anna Kim dort „grönländischer“ aussah als manche Einheimische, hat mit ihrer Herkunft zu tun. 1977 in Südkorea geboren, kam sie 1984 nach Wien. In Grönland hat sie Stoff für ihre 2011 erschienene Reportage „Invasion des Privaten“ gesammelt und für diesen Roman: „Anatomie einer Nacht“.
Die Schicksale von elf Menschen, die in jener Nacht Selbstmord begehen, sind in einem fatalen Reigen verstrickt. Impressionistisch wirkt der irritierende Wechsel der Perspektiven über wechselnde Zeitebenen hinweg, das Changieren zwischen Figurensicht und auktorialer Allwissenheit, zwischen der Geschichte einer Nacht und bis ins Historische reichenden Rückblenden. So erscheint der Polizist Jens mal als groß, mal als klein, denn er wird zweimal und aus Sicht zweier Frauen beschrieben, deren Schicksale durch die Begegnung mit ihm besiegelt werden. Eine der beiden, die vierzehnjährige Julie, gehört zu jenem Drittel missbrauchter Mädchen. Doch erst die Enttäuschung ihrer ersten „wahren“ Liebe wird ihr den Todesstoß versetzen.
Auch die Spontaneität, mit der Kims Gestalten hier zum Strick, zum Schal, zum Gewehr greifen oder ins Wasser gehen, lässt diese Selbstmord-Epidemie nie als Nummernrevue erscheinen. Obwohl „Anatomie einer Nacht“ von 22 bis 3 Uhr in einem strengen Stundentakt gegliedert zu sein scheint, gewinnt der Reigen doch die Form eines Kreises, der jene „schwarze Masse“ umfasst, in die sich der fiktive 1500-Seelen-Ort Amarâq in Ostgrönland nachts verwandelt – „ein Nichts, das sich fleckenweise über die Landschaft verteilt“. Das dunkle Nichts ist hier die Stadt und nicht die Nacht, die sie umhüllt.
Julies Schicksalsgenossinnen und -genossen wissen, dass der Hafen sie hier nur mit noch abgelegeneren Häfen verbindet und dass sie in der Welt, die über den Hubschrauber des Heliports erreichbar wäre, nicht willkommen sind. Rückblenden werfen Schlaglichter auf den dänischen Kolonialismus, der eine perfekt an ihre Umwelt angepasste Jägerkultur in die Zeiten aufkommenden Artenschutzes überführte. Drastisch beschriebene Fälle von Hunger und Kannibalismus gehen so mit einer „Sonderanweisung aus Kopenhagen“ einher, „dass der Moschusochse eine vom Aussterben bedrohte Spezies sei, die nicht mehr gejagt werden dürfe“.
In vielen kleinen Schritten nähern sich Kims Gestalten einem Abgrund, der Geschichte und Gegenwart umfasst. Obwohl dieser Roman Szenen enthält, für die mancher Thriller-Autor seinen Agenten geopfert hätte, gewinnt er seine Spannung nicht aus ausgereizten Handlungssträngen. Zwar hätte manches anders kommen können, wenn der Arzt im Ort kein nach Grönland entwichener Pädophiler gewesen wäre. Doch selbst ein Alkoholverbot hätte nichts daran geändert, dass man die Grönländer aus ihrer Welt, an die sie perfekt angepasst waren, an das Ende einer größeren verbannt hat, in der fast niemand an sie denkt.
Unter den vielen Bildern der tödlichen Melancholie, die auf Amarâq und seinen Einwohnern lastet, ist der Weg, den Julie nach ihrer Liebesenttäuschung geht, das eindringlichste: „Sie folgte der Straße bis an ihr Ende, wissend, dass sie im Nichts enden wird, (. . .) als wäre nichts normaler als eine Straße, die plötzlich aufhört.“
Man muss nicht bis nach Grönland reisen, um solche losen Enden zu entdecken, und man muss keine begabte Schriftstellerin sein, um ein solches Straßenstück zu beschreiben. Doch man muss nach Grönland gereist sein und zudem eine hochbegabte Schriftstellerin sein, um diesem Bild empathisch, aber auch mit provozierend beiläufiger Sachlichkeit einen Kontext zu verleihen, in dem es zum Sinnbild einer Situation wird, aus der es nur einen Ausweg gibt.
ULRICH BARON
Anna Kim:
Anatomie einer Nacht.
Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 303 Seiten, 19,95 Euro.
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»Anna Kims Roman Anatomie einer Nacht erzählt gekonnt vom gesellschaftlichen Abseits in Grönland.«