Buczacz war jahrhundertelang eine vielsprachige Kleinstadt in einer osteuropäischen Grenzregion. Als die polnischen und ukrainischen Nationalbewegungen sich gegen die imperiale Macht auflehnten, geriet eine Gruppe zwischen alle Fronten: die Juden. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden sie zu den Leidtragenden einer gescheiterten Minderheitenpolitik.
1942/1943 richteten sich die Angehörigen der deutschen Besatzungsmacht mit ihren Familien in der Stadt ein. Angestellte der Firma Ackermann, die bei Brückenarbeiten die Erschießung jüdischer Zwangsarbeiter mitansehen. Oder eine Frau wie Berta Herzig, die ein jüdisches Kindermädchen beschäftigt und sich mit Henriette Lissberg, der Frau des Landkommissars, die Friseurin teilt. Ungerührt genießen sie die idyllische Provinz. Etwa 10 000 Juden wurden damals in Buczacz umgebracht - vor aller Augen.
Ausgehend von einem Gespräch mit der Mutter in Tel Aviv kurz vor ihrem Tod, beginnt Bartov seine Recherchen, die ihn durch unzählige Archive führen. Seine glänzend geschriebene Mikrogeschichte der ostgalizischen Stadt ist ein Meilenstein der Holocaust-Forschung.
1942/1943 richteten sich die Angehörigen der deutschen Besatzungsmacht mit ihren Familien in der Stadt ein. Angestellte der Firma Ackermann, die bei Brückenarbeiten die Erschießung jüdischer Zwangsarbeiter mitansehen. Oder eine Frau wie Berta Herzig, die ein jüdisches Kindermädchen beschäftigt und sich mit Henriette Lissberg, der Frau des Landkommissars, die Friseurin teilt. Ungerührt genießen sie die idyllische Provinz. Etwa 10 000 Juden wurden damals in Buczacz umgebracht - vor aller Augen.
Ausgehend von einem Gespräch mit der Mutter in Tel Aviv kurz vor ihrem Tod, beginnt Bartov seine Recherchen, die ihn durch unzählige Archive führen. Seine glänzend geschriebene Mikrogeschichte der ostgalizischen Stadt ist ein Meilenstein der Holocaust-Forschung.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensentin Judith Leister zollt Omar Bartovs Studie über die vom Genozid geprägte Stadt Buczacz Respekt. Wie Bartov geht sie dabei ausführlich auf die gewaltsame Vorgeschichte des Holocaust und auf das komplizierte Verhältnis zwischen Juden, Polen und Ukrainern ein, das seit dem frühen 17. Jahrhundert immer wieder von Gewaltexzessen erschüttert wurde. Aus den Beschreibungen des Holocaust-Forschers Bartov, dessen Mutter aus Buczacz stammte, und aus eindrücklichen Fotos, die deutsche Männer in der ostgalizischen Kleinstadt beim fröhlichen Ski-Fahren, Trinken oder glücklich mit ihren Familien zeigen, während draußen gemordet wurde, lernt sie, dass die Täter ihre Opfer hier anders als in den KZ meist kannten. Eine "erschütternde" Studie und ein "eindrucksvolles" Denkmal für die rund 8000 ermordeten Juden der Stadt, schließt Leister.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.07.2021Zwischen Rettern, Profiteuren und Zuschauern
Der Historiker Omer Bartov schreibt die Geschichte eines polnischen Städtchens, das Schauplatz der Judenverfolgung wurde
Der Untergang Galiziens liegt Jahrzehnte zurück, doch der Strom jener, die dorthin fahren, um nach Spuren der eigenen Familiengeschichte zu suchen, reißt nicht ab. Einer von ihnen ist Omer Bartov, ein 1954 in Israel geborener und in Amerika lehrender Geschichtsprofessor. Er reiste nach Buczacz, einst eine malerische Kleinstadt, heute ein ukrainisches Provinznest, das höchstens noch als Geburtsort des Literaturnobelpreisträgers Samuel Agnon, des Nazi-Jägers Simon Wiesenthal oder des Schöpfers des Warschauer Ghettoarchivs, Emanuel Ringelblum, erwähnt wird.
Buczacz war auch der Geburtsort von Bartovs Mutter, die ihm im Sommer 1995 in Tel Aviv einiges über ihre Kindheit erzählte. Und da diese in eine Zeit fiel, in der Buczacz zwar zu Polen gehörte, gleichzeitig aber eine multinationale Stadt war, wurde ihre Erzählung für Bartov zu einem Impuls, die Geschichte von Buczacz zu ergründen, eine sehr konfliktreiche Geschichte, wie er während seiner jahrelangen Recherchen feststellen sollte.
Besonders schwierig in Buczacz, aber auch in der ganzen Region war die Beziehung zwischen Polen und Ukrainern: Die Letzteren waren die größte Minderheit in den östlichen Randgebieten, trotzdem wurden sie nach ihrem Empfinden wie die Bürger zweiter Kategorie behandelt. Das führte zu ständigen Spannungen zwischen ihnen und den polnischen Nachbarn und wurde zudem von den ukrainischen Nationalisten für ihre separatistische Agitation genutzt. Dass all dies eines Tages katastrophale Folgen haben könnte, war manchem Politiker im Vorkriegspolen durchaus bewusst. "Das polnische Volk", warnte Anfang 1938 der Ministerpräsident Felicjan Slawoj Skladkowski in einer Parlamentsrede, "sollte sich dessen bewusst sein, dass das Schicksal Polens zum großen Teil von seinem Verhältnis zu den nationalen Minderheiten abhängt. Ihnen mit Hass oder Ungeduld zu begegnen, halte ich für einen schweren Fehler, der sich früher oder später rächen muss."
Und so kam es auch: Allerdings konnte 1938 kaum jemand ahnen, dass die schlimmste Katastrophe von außen heranziehen und am stärksten die Gruppe treffen würde, die an diesen Konflikten kaum beteiligt war: die Juden. Sie spielten mal für die eine, mal für die andere Seite die Rolle der Sündenböcke. Dennoch war das kaum damit zu vergleichen, was der Zweite Weltkrieg mit sich brachte. Genauer, der im September 1939 erfolgte doppelte Überfall auf Polen, der Wehrmacht im Westen und der Roten Armee im Osten, und vor allem der Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges und der Einmarsch der Deutschen in die Stadt im Juli 1941.
Das erste große Massaker auf dem nahe liegenden Berg Fedor, dem wenige Wochen später 350 Juden zum Opfer fielen, erwies sich nur als eine Art Vorspiel. Was in den nächsten vier Jahren folgte, war eine nicht enden wollende Verfolgung, deren blutigste Höhepunkte weitere, diesmal Tausende von Menschenleben fordernde Massaker auf dem Fedor im Frühjahr 1943 und zahllose Tötungen auf den Straßen waren. Zu Letzteren kam es nicht zuletzt dadurch, dass Buczacz zum Umschlagort für die jüdischen Bewohner der ganzen Gegend wurde, die in das Vernichtungslager Belzec deportiert werden sollten. Zwischen dem Ende der deutschen Aktionen im Mai 1943 und dem abermaligen Einmarsch der Roten Armee im März 1944 gelang es gerade einmal achthundert von etwa 10 000 Juden, in Buczacz zu überleben, und als im Juli 1944 die Stadt endgültig von den Sowjets befreit wurde - zwischendurch fiel sie noch einmal kurz in die Hände der Deutschen -, waren auch die meisten von ihnen tot.
All das erzählt Bartov, indem er das Geschehen aus drei Perspektiven, der Opfer, der Täter und der Beobachter, beleuchtet. Doch während die erste Gruppe übersichtlich und in ihrem Verhalten eindeutig bleibt, wird es bei den beiden anderen komplizierter. Die Angehörigen der SS und der Gestapo, die Soldaten der Wehrmacht, die ihrem einstigen guten Ruf entgegen "beispiellose Verbrechen" auf dem Gewissen hatten, die Mitarbeiter deutscher Betriebe, die mit ihren Familien in der Stadt lebten und sich "in verschiedener Form an den Aktionen" beteiligten, "etwa, indem sie verlassene jüdische Häuser plünderten", die von den Deutschen "ausgebildeten, finanzierten und bewaffneten" ukrainischen Nationalisten und nicht zuletzt die polnischen Nachbarn, Kollegen und Freunde: sie alle nahmen an dem dramatischen Geschehen teil - manchmal als Retter und Helfer, meistens aber als Mörder, Denunzianten, Profiteure oder passive Augenzeugen.
Die Formen, die Bartov nutzt, um dies zu zeigen, all die Tagebücher, Gesprächsprotokolle, Gerichtsaussagen, Zeitungsartikel und Notizen, die er zitiert, geben seinem Buch eine große Plastizität und Überzeugungskraft. Der Eindruck ist umso stärker, als man dank seiner akribischen Rekonstruktion jener Zeit schnell die Allgemeingültigkeit des Beschriebenen erkennt. Die Tatsache also, dass der Genozid der Juden in Buczacz, aber auch in jedem anderen Ort der Region, nicht nur auf die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung und die damalige politische Situation, sondern auch auf bestimmte soziologische und psychologische Dispositionen zurückzuführen ist, die zum Teil schon seit Langem vorgeprägt waren.
Um dies sichtbar zu machen, hätte Bartov gar nicht die gesamte Geschichte der Stadt, von der ersten urkundlichen Erwähnung im Jahr 1260 an, nacherzählen müssen - gerade diese "älteren" Passagen ermüden durch die Fülle der Informationen und den wikipediaähnlichen Stil. Und man bedauert, dass der Wunsch von Bartovs Mutter, Buczacz wiederzusehen, nicht mehr in Erfüllung ging. Denn eine gemeinsame Reise von Mutter und Sohn hätte ein Buch zur Folge gehabt, das ihre persönliche Erzählung über die Stadt - ähnlich jener, die Alicia Appleman, eine andere Buczaczer Jüdin, in ihren Erinnerungen "Überleben, um Zeugnis zu geben" (1989) gab - sich mit seinem Wissen und Instrumentarium eines Historikers verbunden hätte.
MARTA KIJOWSKA
Omer Bartov: "Anatomie eines Genozids". Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz.
Aus dem Englischen von Anselm Bühling. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 486 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Historiker Omer Bartov schreibt die Geschichte eines polnischen Städtchens, das Schauplatz der Judenverfolgung wurde
Der Untergang Galiziens liegt Jahrzehnte zurück, doch der Strom jener, die dorthin fahren, um nach Spuren der eigenen Familiengeschichte zu suchen, reißt nicht ab. Einer von ihnen ist Omer Bartov, ein 1954 in Israel geborener und in Amerika lehrender Geschichtsprofessor. Er reiste nach Buczacz, einst eine malerische Kleinstadt, heute ein ukrainisches Provinznest, das höchstens noch als Geburtsort des Literaturnobelpreisträgers Samuel Agnon, des Nazi-Jägers Simon Wiesenthal oder des Schöpfers des Warschauer Ghettoarchivs, Emanuel Ringelblum, erwähnt wird.
Buczacz war auch der Geburtsort von Bartovs Mutter, die ihm im Sommer 1995 in Tel Aviv einiges über ihre Kindheit erzählte. Und da diese in eine Zeit fiel, in der Buczacz zwar zu Polen gehörte, gleichzeitig aber eine multinationale Stadt war, wurde ihre Erzählung für Bartov zu einem Impuls, die Geschichte von Buczacz zu ergründen, eine sehr konfliktreiche Geschichte, wie er während seiner jahrelangen Recherchen feststellen sollte.
Besonders schwierig in Buczacz, aber auch in der ganzen Region war die Beziehung zwischen Polen und Ukrainern: Die Letzteren waren die größte Minderheit in den östlichen Randgebieten, trotzdem wurden sie nach ihrem Empfinden wie die Bürger zweiter Kategorie behandelt. Das führte zu ständigen Spannungen zwischen ihnen und den polnischen Nachbarn und wurde zudem von den ukrainischen Nationalisten für ihre separatistische Agitation genutzt. Dass all dies eines Tages katastrophale Folgen haben könnte, war manchem Politiker im Vorkriegspolen durchaus bewusst. "Das polnische Volk", warnte Anfang 1938 der Ministerpräsident Felicjan Slawoj Skladkowski in einer Parlamentsrede, "sollte sich dessen bewusst sein, dass das Schicksal Polens zum großen Teil von seinem Verhältnis zu den nationalen Minderheiten abhängt. Ihnen mit Hass oder Ungeduld zu begegnen, halte ich für einen schweren Fehler, der sich früher oder später rächen muss."
Und so kam es auch: Allerdings konnte 1938 kaum jemand ahnen, dass die schlimmste Katastrophe von außen heranziehen und am stärksten die Gruppe treffen würde, die an diesen Konflikten kaum beteiligt war: die Juden. Sie spielten mal für die eine, mal für die andere Seite die Rolle der Sündenböcke. Dennoch war das kaum damit zu vergleichen, was der Zweite Weltkrieg mit sich brachte. Genauer, der im September 1939 erfolgte doppelte Überfall auf Polen, der Wehrmacht im Westen und der Roten Armee im Osten, und vor allem der Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges und der Einmarsch der Deutschen in die Stadt im Juli 1941.
Das erste große Massaker auf dem nahe liegenden Berg Fedor, dem wenige Wochen später 350 Juden zum Opfer fielen, erwies sich nur als eine Art Vorspiel. Was in den nächsten vier Jahren folgte, war eine nicht enden wollende Verfolgung, deren blutigste Höhepunkte weitere, diesmal Tausende von Menschenleben fordernde Massaker auf dem Fedor im Frühjahr 1943 und zahllose Tötungen auf den Straßen waren. Zu Letzteren kam es nicht zuletzt dadurch, dass Buczacz zum Umschlagort für die jüdischen Bewohner der ganzen Gegend wurde, die in das Vernichtungslager Belzec deportiert werden sollten. Zwischen dem Ende der deutschen Aktionen im Mai 1943 und dem abermaligen Einmarsch der Roten Armee im März 1944 gelang es gerade einmal achthundert von etwa 10 000 Juden, in Buczacz zu überleben, und als im Juli 1944 die Stadt endgültig von den Sowjets befreit wurde - zwischendurch fiel sie noch einmal kurz in die Hände der Deutschen -, waren auch die meisten von ihnen tot.
All das erzählt Bartov, indem er das Geschehen aus drei Perspektiven, der Opfer, der Täter und der Beobachter, beleuchtet. Doch während die erste Gruppe übersichtlich und in ihrem Verhalten eindeutig bleibt, wird es bei den beiden anderen komplizierter. Die Angehörigen der SS und der Gestapo, die Soldaten der Wehrmacht, die ihrem einstigen guten Ruf entgegen "beispiellose Verbrechen" auf dem Gewissen hatten, die Mitarbeiter deutscher Betriebe, die mit ihren Familien in der Stadt lebten und sich "in verschiedener Form an den Aktionen" beteiligten, "etwa, indem sie verlassene jüdische Häuser plünderten", die von den Deutschen "ausgebildeten, finanzierten und bewaffneten" ukrainischen Nationalisten und nicht zuletzt die polnischen Nachbarn, Kollegen und Freunde: sie alle nahmen an dem dramatischen Geschehen teil - manchmal als Retter und Helfer, meistens aber als Mörder, Denunzianten, Profiteure oder passive Augenzeugen.
Die Formen, die Bartov nutzt, um dies zu zeigen, all die Tagebücher, Gesprächsprotokolle, Gerichtsaussagen, Zeitungsartikel und Notizen, die er zitiert, geben seinem Buch eine große Plastizität und Überzeugungskraft. Der Eindruck ist umso stärker, als man dank seiner akribischen Rekonstruktion jener Zeit schnell die Allgemeingültigkeit des Beschriebenen erkennt. Die Tatsache also, dass der Genozid der Juden in Buczacz, aber auch in jedem anderen Ort der Region, nicht nur auf die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung und die damalige politische Situation, sondern auch auf bestimmte soziologische und psychologische Dispositionen zurückzuführen ist, die zum Teil schon seit Langem vorgeprägt waren.
Um dies sichtbar zu machen, hätte Bartov gar nicht die gesamte Geschichte der Stadt, von der ersten urkundlichen Erwähnung im Jahr 1260 an, nacherzählen müssen - gerade diese "älteren" Passagen ermüden durch die Fülle der Informationen und den wikipediaähnlichen Stil. Und man bedauert, dass der Wunsch von Bartovs Mutter, Buczacz wiederzusehen, nicht mehr in Erfüllung ging. Denn eine gemeinsame Reise von Mutter und Sohn hätte ein Buch zur Folge gehabt, das ihre persönliche Erzählung über die Stadt - ähnlich jener, die Alicia Appleman, eine andere Buczaczer Jüdin, in ihren Erinnerungen "Überleben, um Zeugnis zu geben" (1989) gab - sich mit seinem Wissen und Instrumentarium eines Historikers verbunden hätte.
MARTA KIJOWSKA
Omer Bartov: "Anatomie eines Genozids". Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz.
Aus dem Englischen von Anselm Bühling. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 486 S., geb., 28,- [Euro].
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»... in seiner erschütternden Studie Anatomie eines Genozids hat [Bartov] den jüdischen Bewohnern der Kleinstadt [Buczacz] ein bleibendes Denkmal gesetzt.« Judith Leister Neue Zürcher Zeitung 20211007