Ein bildstarker literarischer Thriller voller unerwarteter Wendungen um einen spektakulären Prozess und eine verhängnisvolle AffäreDie Jugendliche Anca Butler ist angeklagt, ihren Babybruder getötet zu haben. Fraglich ist jedoch, ob sie als Autistin überhaupt schuldfähig und ihre Zwillingsschwester als Zeugin glaubwürdig ist. Die Jurymitglieder werden über Wochen in Gerichtssaal und Motel abgekapselt; unter ihnen eine verheiratete Fotografin, die sich - »auf der Suche nach einem letzten Abenteuer, bevor sie zu alt dafür ist« - auf eine Affäre mit einem Mitgeschworenen einlässt. Schon bald finden die beiden sich in einem ausweglosen Konflikt aus körperlichem Begehren und moralischen Bedenken wieder - in einem bildstarken literarischen Thriller, der kein Wort zu viel enthält.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Eine etwas unentschiedene Katrin Doerksen bespricht diesen offenbar routiniert geschriebenen Roman. Einerseits wird das Publikum durch das "Gedankenkleinklein" der Hauptprotagonistin - die in der dritten Person Präsens dargestellt ist - sehr nahe in die Handlung hineingetragen. Aber dann verliere man sich auch wieder darin und der zu entscheidende Mordprozess, seine Motive und gar das schlussendliche Urteil, werden unwichtig; dagegen überwuchern die heimlichen Verabredungen des offenbar weder menschlich noch sonstwie attraktiven Paares das Geschehen. Die Kritikerin begreift schon, dass hier anderes verhandelt werde, etwa die Spannung zwischen "Literatur und Trivialität". Aber richtig zufrieden ist sie nicht mit der "ausufernden Introspektion" der literarischen Figuren. Nur am Ende ist sie wieder froh, dass gegen das reine Dokumentieren hier einmal mehr das "Geschichtenerzählen" hochgehalten wird.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.11.2020Interessiert uns Gerechtigkeit wirklich?
Weibliche Perspektive I: Jill Ciment entzaubert in einem Gerichts-Thriller Geschworene auf Abwegen
C-2: Fotografin, zweiundfünfzig Jahre alt, verheiratet. Und F-17: Anatomieprofessor, geringfügig jünger, ledig. Zwei verdiente Exemplare ihrer Spezies und dabei doch in vielerlei Hinsicht so ganz und gar durchschnittlich. Dieser Tatsache sind sie sich nur allzu bewusst, wenn sie sich vor der Tür herumdrücken und so tun, als würden sie eine Zigarettenpause einlegen, denn das ist der einzige Weg, der ständigen Aufsicht zu entgehen. Nach knapp zwei Wochen rauchen sie die Zigaretten wirklich.
Für ihren sechsten Roman "Anatomie eines Prozesses" hat die amerikanische Autorin Jill Ciment eine Frau mittleren Alters und mittlerer Attraktivität erdacht. In ihrem Job erfolgreich, aber in jenem Stadium angekommen, in dem kaum noch etwas Aufregung verspricht; mit einem wesentlich älteren Ehemann, der jeden Tag ein bisschen klappriger wird. Kurz: Sie ist an einem Punkt, an dem es sich so anfühlt, als würde sich ihr ganzes Leben in Banalitäten auflösen. Dass sie als Geschworene in einem Mordprozess auf unbestimmte Zeit hinter der Aktennummer C-2 verschwinden und sich vor ihrem Alltag verstecken kann, kommt ihr gelegen. Erst recht, als sich mit F-17 die Gelegenheit zu ihrer womöglich letzten Affäre ergibt.
Ciment schreibt in der dritten Person Präsens. Die Form erlaubt es ihr, tief in die Gedankengänge von C-2 vorzudringen, erweist sich aber als tückisch. Im eins zu eins beschriebenen Gedankenkleinklein verkümmert schnell mal der Thrill. Doch Ciments Sprache, so abgeklärt, geradezu anthropologisch in ihrem Benennen unschmeichelhafter Tatsachen, ist vielleicht das Brutalste in "Anatomie eines Prozesses". Erstaunlich angesichts des Mordfalls, über den die nur bei Nummer und Spitznamen genannten Geschworenen zu urteilen haben: Eine Teenagerin, in Kindertagen aus einem rumänischen Waisenhaus adoptiert, hat ihren Säuglingsbruder angezündet. Es gibt sogar ein Geständnis, doch ihr Motiv bleibt ungeklärt, ebenso die Rolle, die ihre dominante Zwillingsschwester bei der Sache spielt. Ein tragischer Stoff wie aus kühnsten Träumen von Klatschreportern und True-Crime-Podcastern. Nur C-2 und F-17 könnte nichts gleichgültiger sein. Wie sich auf Vorträge von Brandexperten und Gutachtern konzentrieren, wenn es stattdessen die eigenen Gefühle zu ordnen und die nächste gemeinsame Nacht zu planen gilt?
Die Autorin setzt ihre Figuren wie Fische aufs Trockene: Die Künstlerin und der Intellektuelle, durch die Erfordernisse des amerikanischen Geschworenensystems isoliert in einem Motel am Highway, mit dem Fraß aus Restaurantketten und einem Kulturprogramm, das sich in der Auswahl zwischen Blockbusterkino oder Bowling erschöpft. Statt soziale Schichten gegeneinander auszuspielen, nutzt Ciment diese Konstellation jedoch für einen Denkversuch über das Aufeinanderprallen von Idealen und Realität, Schlagzeilen und komplexen Tathergängen, Literatur und Trivialität.
"Nachdem sie gehört hat, wie Caleb verbrannt worden ist, werden ihr die Horrorszenen im Thriller zahm und der Ehebruch von Madame Bovary albern vorkommen", denkt C-2, als sie ihre mitgebrachte Lektüre vom Nachttisch räumt. Ihre eigenen im Gerichtssaal verfassten Notizen setzt Ciment in Kursivschrift vom Rest des Textes ab: Poetische Satzfetzen, originelle Gedanken, ganz dem geschärften Auge einer Fotografin entsprechend, aber in ihrer Subjektivität ebenso wenig hilfreich wie die Affäre, wenn es darum geht. über das Leben einer angeklagten Teenagerin zu entscheiden. Nur: Interessiert uns wirklich die mutmaßlich wiederhergestellte Gerechtigkeit am Ende eines Prozesses?
Bei Ciment wird sie zur Randnotiz neben den privaten Dramen der Figuren, neben ihrer ausufernden Introspektion, den Spekulationen der aufgepeitschten Öffentlichkeit. Die neugierig befremdete und dabei dezidiert weibliche Perspektive auf das gesellschaftliche und literarische Interesse an True Crime macht "Anatomie eines Prozesses" zur idealen Lektüre im Tandem mit Maggie Nelsons Anfang des Jahres bei Hanser Berlin erschienenen Memoir "Die roten Stellen". Wo Letztere eine regelrechte Aversion gegen das Fiktionale entwickelt, formuliert Ciment gewissermaßen die Antithese und nutzt gerade das Geschichtenerzählen, das hochgradig Stilisierte, um an die emotionale Intelligenz ihrer Leser zu appellieren.
KATRIN DOERKSEN
Jill Ciment: "Anatomie eines Prozesses". Roman.
Aus dem Englischen von Max Stadler.
Ars Vivendi Verlag, Cadolzburg 2020.
200 S., br., 20.- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Weibliche Perspektive I: Jill Ciment entzaubert in einem Gerichts-Thriller Geschworene auf Abwegen
C-2: Fotografin, zweiundfünfzig Jahre alt, verheiratet. Und F-17: Anatomieprofessor, geringfügig jünger, ledig. Zwei verdiente Exemplare ihrer Spezies und dabei doch in vielerlei Hinsicht so ganz und gar durchschnittlich. Dieser Tatsache sind sie sich nur allzu bewusst, wenn sie sich vor der Tür herumdrücken und so tun, als würden sie eine Zigarettenpause einlegen, denn das ist der einzige Weg, der ständigen Aufsicht zu entgehen. Nach knapp zwei Wochen rauchen sie die Zigaretten wirklich.
Für ihren sechsten Roman "Anatomie eines Prozesses" hat die amerikanische Autorin Jill Ciment eine Frau mittleren Alters und mittlerer Attraktivität erdacht. In ihrem Job erfolgreich, aber in jenem Stadium angekommen, in dem kaum noch etwas Aufregung verspricht; mit einem wesentlich älteren Ehemann, der jeden Tag ein bisschen klappriger wird. Kurz: Sie ist an einem Punkt, an dem es sich so anfühlt, als würde sich ihr ganzes Leben in Banalitäten auflösen. Dass sie als Geschworene in einem Mordprozess auf unbestimmte Zeit hinter der Aktennummer C-2 verschwinden und sich vor ihrem Alltag verstecken kann, kommt ihr gelegen. Erst recht, als sich mit F-17 die Gelegenheit zu ihrer womöglich letzten Affäre ergibt.
Ciment schreibt in der dritten Person Präsens. Die Form erlaubt es ihr, tief in die Gedankengänge von C-2 vorzudringen, erweist sich aber als tückisch. Im eins zu eins beschriebenen Gedankenkleinklein verkümmert schnell mal der Thrill. Doch Ciments Sprache, so abgeklärt, geradezu anthropologisch in ihrem Benennen unschmeichelhafter Tatsachen, ist vielleicht das Brutalste in "Anatomie eines Prozesses". Erstaunlich angesichts des Mordfalls, über den die nur bei Nummer und Spitznamen genannten Geschworenen zu urteilen haben: Eine Teenagerin, in Kindertagen aus einem rumänischen Waisenhaus adoptiert, hat ihren Säuglingsbruder angezündet. Es gibt sogar ein Geständnis, doch ihr Motiv bleibt ungeklärt, ebenso die Rolle, die ihre dominante Zwillingsschwester bei der Sache spielt. Ein tragischer Stoff wie aus kühnsten Träumen von Klatschreportern und True-Crime-Podcastern. Nur C-2 und F-17 könnte nichts gleichgültiger sein. Wie sich auf Vorträge von Brandexperten und Gutachtern konzentrieren, wenn es stattdessen die eigenen Gefühle zu ordnen und die nächste gemeinsame Nacht zu planen gilt?
Die Autorin setzt ihre Figuren wie Fische aufs Trockene: Die Künstlerin und der Intellektuelle, durch die Erfordernisse des amerikanischen Geschworenensystems isoliert in einem Motel am Highway, mit dem Fraß aus Restaurantketten und einem Kulturprogramm, das sich in der Auswahl zwischen Blockbusterkino oder Bowling erschöpft. Statt soziale Schichten gegeneinander auszuspielen, nutzt Ciment diese Konstellation jedoch für einen Denkversuch über das Aufeinanderprallen von Idealen und Realität, Schlagzeilen und komplexen Tathergängen, Literatur und Trivialität.
"Nachdem sie gehört hat, wie Caleb verbrannt worden ist, werden ihr die Horrorszenen im Thriller zahm und der Ehebruch von Madame Bovary albern vorkommen", denkt C-2, als sie ihre mitgebrachte Lektüre vom Nachttisch räumt. Ihre eigenen im Gerichtssaal verfassten Notizen setzt Ciment in Kursivschrift vom Rest des Textes ab: Poetische Satzfetzen, originelle Gedanken, ganz dem geschärften Auge einer Fotografin entsprechend, aber in ihrer Subjektivität ebenso wenig hilfreich wie die Affäre, wenn es darum geht. über das Leben einer angeklagten Teenagerin zu entscheiden. Nur: Interessiert uns wirklich die mutmaßlich wiederhergestellte Gerechtigkeit am Ende eines Prozesses?
Bei Ciment wird sie zur Randnotiz neben den privaten Dramen der Figuren, neben ihrer ausufernden Introspektion, den Spekulationen der aufgepeitschten Öffentlichkeit. Die neugierig befremdete und dabei dezidiert weibliche Perspektive auf das gesellschaftliche und literarische Interesse an True Crime macht "Anatomie eines Prozesses" zur idealen Lektüre im Tandem mit Maggie Nelsons Anfang des Jahres bei Hanser Berlin erschienenen Memoir "Die roten Stellen". Wo Letztere eine regelrechte Aversion gegen das Fiktionale entwickelt, formuliert Ciment gewissermaßen die Antithese und nutzt gerade das Geschichtenerzählen, das hochgradig Stilisierte, um an die emotionale Intelligenz ihrer Leser zu appellieren.
KATRIN DOERKSEN
Jill Ciment: "Anatomie eines Prozesses". Roman.
Aus dem Englischen von Max Stadler.
Ars Vivendi Verlag, Cadolzburg 2020.
200 S., br., 20.- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Eine grandiose Darstellung von weiblichem Begehren.« The New York Times Ciment schreibt mit absolutem Mitgefühl...voller Humor, Großzügigkeit und erstaunlicher Beharrlichkeit. Los Angeles Times Leuchtend, traurig, lustig und berührend ... Eine Schriftstellerin, die mit einem außergewöhnlichen sprachlichen Talent gesegnet ist. New York Times »Ciment schreibt in der dritten Person Präsens. Die Form erlaubt es ihr, tief in die Gedankengänge von C-2 vorzudringen« »Doch Ciments Sprache, so abgeklärt, geradezu anthropologisch in ihrem Benennen unschmeichelhafter Tatsachen, ist vielleicht das Brutalste in »Anatomie eines Prozesses«.« - »Statt soziale Schichten gegeneinander auszuspielen, nutzt Ciment diese Konstellation jedoch für einen Denkversuch über das Aufeinanderprallen von Idealen und Realität, Schlagzeilen und komplexen Tathergängen, Literatur und Trivialität.« - Katrin Doerksen FAZ