Kis' Buch 'Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch' stieß bei seinem Erscheinen in Jugoslawien auf heftigste Kritik - der tatsächliche Grund war politischer Natur. 'Anatomiestunde' ist Kis' Antwort auf die Vorwürfe und gilt heute als sein poetologisches Vermächtnis. Diese hinreißende Polemik gegen jede doktrinäre Form von Literatur und Kritik ist gleichzeitig einer der wichtigsten Beiträge zur Poetologie des 20. Jahrhunderts.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.1998Eine Sackgasse für den Dieb
Danilo Kis und die nationalen Folgen einer Anatomiestunde / Von Karl-Markus Gauß
Mit dem pompösen Grabmal hätte er gewiß seine Schwierigkeiten gehabt - dieser Zug ins Monumentale! Die Straße hingegen, die jetzt seinen Namen trägt, hätte ihm wahrscheinlich gefallen: Die ulica Danila Kisa in Belgrad hat nur eine Nummer und endet als Sackgasse.
Im Jahr 1976 war der Schriftsteller Danilo Kis in seiner Heimat mit Schimpf und Schande bedeckt, vor ein Gericht gezerrt und als Plagiator verhöhnt worden. Damals hatte er die Volksrepublik Jugoslawien, deren Utopie der vielen Völker er schätzte, deren Verrat an dieser Utopie er früher als andere erkannte, verlassen und war in das Exil nach Paris gegangen.
Als er dort im Jahr 1989, gerade vierundfünfzigjährig, starb, hatte ihm seine fortgesetzte poetische Chronik des ausgelöschten Mitteleuropa schon Weltruhm eingetragen; derselbe Schriftstellerverband, der ihn zuvor drangsaliert und außer Landes geekelt hatte, fand es daher nun doch angeraten, den Verstorbenen mit viel Pomp und viel Trara heimzuholen und seine sterblichen Überreste in die heilige Erde des Vaterlandes ein für allemal zu verpflanzen.
Vergessen war, daß sich im Jahr 1976 über Danilo Kis eine wahre Sturzflut nationaler Empörung ergossen hatte und ein Skandal entfesselt wurde, der als "der größte jugoslawische Literaturstreit" in die Geschichte eingegangen ist. Kis war gerade vierzig Jahre alt gewesen, als er "Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch" veröffentlichte, jene "Sieben Kapitel ein und derselben Geschichte", die Stalinismus heißt. In keinem anderen Werk hat er das Geflecht aus Fakten und Fiktionen so unentwirrbar dicht gewebt wie in diesem ergreifenden Roman, der die Selbstvernichtung der bolschewistischen Revolution an sieben exemplarischen Lebensläufen von jüdischen Revolutionären weniger zu erklären als vielmehr in ihrem fatalen Mechanismus aufzudecken sucht.
Kaum war das Buch erschienen, wurde sein Verfasser von offiziösen Literaturverwesern und halbamtlichen Dichtern, von eifrigen serbischen Nationalisten und kaum verhohlenen Antisemiten wild attackiert. Warum wurde diesem zuvor noch mit manchem Literaturpreis bedachten und geehrten Schriftsteller mit einem Mal so reichlich Mißgunst zuteil? Wie konnte es ihm gelingen, zugleich die in ihren Privilegien eingepanzerte Nomenklatura und die vielen Zukurzgekommenen unter seinen Kollegen im Haß zu einen?
Kis wollte es selbst ergründen und hat seine Gegner, ihre Motive, Argumente, Absichten gnadenlos in der "Anatomiestunde" untersucht, einem fieberhaft verfertigten Buch, das literaturwissenschaftliche Studie, funkelndes Pamphlet und persönliches Dokument in einem ist - und in Jugoslawien bis heute ein Kultbuch geblieben ist.
"Die Anatomiestunde ist der Schlüssel zu meinem Werk", behauptete Danilo Kis jedenfalls selbst, und tatsächlich hat er nirgendwo sonst so resolut und so zusammenhängend über die Grundlagen seines Schaffens geschrieben wie in dieser Verteidigungsschrift, die zu einem Sturmangriff auf die Angreifer geriet. Vorgeblich war es diesen ja um Fragen des geistigen Eigentums und des literarischen Stils zu tun gewesen.
Da Kis auch im "Grabmal des Boris Dawidowitsch" allerlei literarische und wissenschaftliche Zitate in seinen Text hineinmontierte, stellten sie ihn unter Plagiatsverdacht. In Wahrheit ging es hierbei freilich nicht um den läppischen Vorwurf des Plagiats, sondern vielmehr um Ideologie und um den Auftrieb einer nationalen Gesinnung: Im vermeintlichen literarischen Dieb sollte der heimatlose Geselle, der unerbittliche Kritiker von Obrigkeitsstaat und Parteiherrschaft, von nationalem Eifer und Geifer ein für allemal dingfest gemacht werden.
Der Titel spielt auf das berühmte Bild von Rembrandt an, auf dem eine Anatomiestunde des Dr. Tulp dargestellt ist, der unter dem gebannten Blick seiner Schüler und Kollegen gerade die Hand eines nach dem Bildnis Christi gemalten Toten seziert. Kis hingegen hatte einen "anatomischen Schnitt durch das moralische und literarische Profil unserer Cosa Nostra" vor Augen, als er sich an die "Anatomiestunde" machte.
Das ist der polemisch brillante, aber doch zeitbedingte, vergängliche Teil seiner Arbeit, denn die kleinen und großen Schurken der literarischen Mafia, die er mitleidlos und mit klinisch kaltem Blick zur Vivisektion zwang, wurden außerhalb ihrer Heimat nur wenigen Lesern bekannt. Gültig hingegen muten bis auf den heutigen Tag die stilistischen Analysen an, mit denen Danilo Kis sein eigenes literarisches Verfahren legimitierte, indem er es, manchmal witzig, manchmal gelehrsam, aus der Geschichte der modernen Literatur von Ivo Andric bis hin zu Jorge Luis Borges herleitete.
Bei all dem frappiert die verzweifelte Hellsicht, mit der Kis schon damals den Zerfall Jugoslawiens vorausahnte. Am eigenen Schicksal legt er dar, was der Zwang zur nationalen Identität bedeutet. Der Vater war ein ungarischer Jude, der im Holocaust ermordet wurde, die Mutter eine christlich-orthodoxe Montenegrinerin, die ihren Sohn taufen ließ, um ihn über die Jahre der Pogrome und Vernichtungslager zu retten . . .
Kis wollte sich dieses Erbes nicht entschlagen, und so hat er, im montenegrinischen Cetinje aufgewachsen, später zwar zumeist in Belgrad gelebt, sich aber geweigert, seine gebrochene Identität nach den Zwangsvorstellungen ethnischer Reinheit zu entwerfen. Das wurde ihm, als in den siebziger Jahren der offiziell verpönte Nationalismus zu gären begann, als Unzuverlässigkeit, als Undankbarkeit ausgelegt, und Kis spürte, daß "manche Kritiker mich am liebsten in die hebräische Literatur einordnen" und drängen würden, "wenn schon nicht hebräisch, dann wenigstens jiddisch zu schreiben".
Im Jahr 1976, fünfzehn Jahre bevor das explosive Gemisch aus nationalem Überlegenheitsdünkel und nationalem Minderwertigkeitsgefühl Jugoslawien in Trümmer legte, hat Kis jenen Moment vorausgesehen, da von einem jeden das Bekenntnis für die eine oder die andere Seite, also Verrat an der prägenden Vielfalt des einzelnen, verlangt werde. "Und da ist jedes Argument, jede Erklärung vergebens, denn im entscheidenden Augenblick, da die nationalistischen Posaunen ertönen, muß man sich für ein Volk, für eine Provinz und für eine Region entscheiden, man muß laut und deutlich erklären, ob du zu uns gehörst oder zu ihnen, denn zu jemandem mußt du ja gehören."
Das Buch, in dem Kis die Anatomie einer literaturpolitischen Clique bloßlegte, aber auch die Wirkungsweise bestimmter ästhetischer Methoden der Moderne untersuchte, hatte ein Nachspiel, und dieses wurde im Gerichtssaal gegeben. Weil sie sich verhöhnt fühlten, haben seine bis auf die Knochen blamierten Gegner Kis vor Gericht gebracht und außer einer horrenden Summe Geldes und der Psychiatrierung des Autors auch dessen zeitweilige "Entfernung aus der Gesellschaft" verlangt. Wiewohl er, ohne Anwalt angetreten und auf die Kraft seines eigenen Wortes vertrauend, freigesprochen wurde, hat Kis Jugoslawien daraufhin verlassen. Das andere ist Geschichte und hat, wie die Geschichte zumeist, seine tragischen und komischen Seiten: Das Drama der Verstoßung endete jedenfalls als Farce der Heimholung.
Danilo Kis: "Anatomiestunde". Aus dem Serbokroatischen von Katharina Wolf-Grieshaber, Carl Hanser Verlag, München 1998. 375 S., geb., 49,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Danilo Kis und die nationalen Folgen einer Anatomiestunde / Von Karl-Markus Gauß
Mit dem pompösen Grabmal hätte er gewiß seine Schwierigkeiten gehabt - dieser Zug ins Monumentale! Die Straße hingegen, die jetzt seinen Namen trägt, hätte ihm wahrscheinlich gefallen: Die ulica Danila Kisa in Belgrad hat nur eine Nummer und endet als Sackgasse.
Im Jahr 1976 war der Schriftsteller Danilo Kis in seiner Heimat mit Schimpf und Schande bedeckt, vor ein Gericht gezerrt und als Plagiator verhöhnt worden. Damals hatte er die Volksrepublik Jugoslawien, deren Utopie der vielen Völker er schätzte, deren Verrat an dieser Utopie er früher als andere erkannte, verlassen und war in das Exil nach Paris gegangen.
Als er dort im Jahr 1989, gerade vierundfünfzigjährig, starb, hatte ihm seine fortgesetzte poetische Chronik des ausgelöschten Mitteleuropa schon Weltruhm eingetragen; derselbe Schriftstellerverband, der ihn zuvor drangsaliert und außer Landes geekelt hatte, fand es daher nun doch angeraten, den Verstorbenen mit viel Pomp und viel Trara heimzuholen und seine sterblichen Überreste in die heilige Erde des Vaterlandes ein für allemal zu verpflanzen.
Vergessen war, daß sich im Jahr 1976 über Danilo Kis eine wahre Sturzflut nationaler Empörung ergossen hatte und ein Skandal entfesselt wurde, der als "der größte jugoslawische Literaturstreit" in die Geschichte eingegangen ist. Kis war gerade vierzig Jahre alt gewesen, als er "Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch" veröffentlichte, jene "Sieben Kapitel ein und derselben Geschichte", die Stalinismus heißt. In keinem anderen Werk hat er das Geflecht aus Fakten und Fiktionen so unentwirrbar dicht gewebt wie in diesem ergreifenden Roman, der die Selbstvernichtung der bolschewistischen Revolution an sieben exemplarischen Lebensläufen von jüdischen Revolutionären weniger zu erklären als vielmehr in ihrem fatalen Mechanismus aufzudecken sucht.
Kaum war das Buch erschienen, wurde sein Verfasser von offiziösen Literaturverwesern und halbamtlichen Dichtern, von eifrigen serbischen Nationalisten und kaum verhohlenen Antisemiten wild attackiert. Warum wurde diesem zuvor noch mit manchem Literaturpreis bedachten und geehrten Schriftsteller mit einem Mal so reichlich Mißgunst zuteil? Wie konnte es ihm gelingen, zugleich die in ihren Privilegien eingepanzerte Nomenklatura und die vielen Zukurzgekommenen unter seinen Kollegen im Haß zu einen?
Kis wollte es selbst ergründen und hat seine Gegner, ihre Motive, Argumente, Absichten gnadenlos in der "Anatomiestunde" untersucht, einem fieberhaft verfertigten Buch, das literaturwissenschaftliche Studie, funkelndes Pamphlet und persönliches Dokument in einem ist - und in Jugoslawien bis heute ein Kultbuch geblieben ist.
"Die Anatomiestunde ist der Schlüssel zu meinem Werk", behauptete Danilo Kis jedenfalls selbst, und tatsächlich hat er nirgendwo sonst so resolut und so zusammenhängend über die Grundlagen seines Schaffens geschrieben wie in dieser Verteidigungsschrift, die zu einem Sturmangriff auf die Angreifer geriet. Vorgeblich war es diesen ja um Fragen des geistigen Eigentums und des literarischen Stils zu tun gewesen.
Da Kis auch im "Grabmal des Boris Dawidowitsch" allerlei literarische und wissenschaftliche Zitate in seinen Text hineinmontierte, stellten sie ihn unter Plagiatsverdacht. In Wahrheit ging es hierbei freilich nicht um den läppischen Vorwurf des Plagiats, sondern vielmehr um Ideologie und um den Auftrieb einer nationalen Gesinnung: Im vermeintlichen literarischen Dieb sollte der heimatlose Geselle, der unerbittliche Kritiker von Obrigkeitsstaat und Parteiherrschaft, von nationalem Eifer und Geifer ein für allemal dingfest gemacht werden.
Der Titel spielt auf das berühmte Bild von Rembrandt an, auf dem eine Anatomiestunde des Dr. Tulp dargestellt ist, der unter dem gebannten Blick seiner Schüler und Kollegen gerade die Hand eines nach dem Bildnis Christi gemalten Toten seziert. Kis hingegen hatte einen "anatomischen Schnitt durch das moralische und literarische Profil unserer Cosa Nostra" vor Augen, als er sich an die "Anatomiestunde" machte.
Das ist der polemisch brillante, aber doch zeitbedingte, vergängliche Teil seiner Arbeit, denn die kleinen und großen Schurken der literarischen Mafia, die er mitleidlos und mit klinisch kaltem Blick zur Vivisektion zwang, wurden außerhalb ihrer Heimat nur wenigen Lesern bekannt. Gültig hingegen muten bis auf den heutigen Tag die stilistischen Analysen an, mit denen Danilo Kis sein eigenes literarisches Verfahren legimitierte, indem er es, manchmal witzig, manchmal gelehrsam, aus der Geschichte der modernen Literatur von Ivo Andric bis hin zu Jorge Luis Borges herleitete.
Bei all dem frappiert die verzweifelte Hellsicht, mit der Kis schon damals den Zerfall Jugoslawiens vorausahnte. Am eigenen Schicksal legt er dar, was der Zwang zur nationalen Identität bedeutet. Der Vater war ein ungarischer Jude, der im Holocaust ermordet wurde, die Mutter eine christlich-orthodoxe Montenegrinerin, die ihren Sohn taufen ließ, um ihn über die Jahre der Pogrome und Vernichtungslager zu retten . . .
Kis wollte sich dieses Erbes nicht entschlagen, und so hat er, im montenegrinischen Cetinje aufgewachsen, später zwar zumeist in Belgrad gelebt, sich aber geweigert, seine gebrochene Identität nach den Zwangsvorstellungen ethnischer Reinheit zu entwerfen. Das wurde ihm, als in den siebziger Jahren der offiziell verpönte Nationalismus zu gären begann, als Unzuverlässigkeit, als Undankbarkeit ausgelegt, und Kis spürte, daß "manche Kritiker mich am liebsten in die hebräische Literatur einordnen" und drängen würden, "wenn schon nicht hebräisch, dann wenigstens jiddisch zu schreiben".
Im Jahr 1976, fünfzehn Jahre bevor das explosive Gemisch aus nationalem Überlegenheitsdünkel und nationalem Minderwertigkeitsgefühl Jugoslawien in Trümmer legte, hat Kis jenen Moment vorausgesehen, da von einem jeden das Bekenntnis für die eine oder die andere Seite, also Verrat an der prägenden Vielfalt des einzelnen, verlangt werde. "Und da ist jedes Argument, jede Erklärung vergebens, denn im entscheidenden Augenblick, da die nationalistischen Posaunen ertönen, muß man sich für ein Volk, für eine Provinz und für eine Region entscheiden, man muß laut und deutlich erklären, ob du zu uns gehörst oder zu ihnen, denn zu jemandem mußt du ja gehören."
Das Buch, in dem Kis die Anatomie einer literaturpolitischen Clique bloßlegte, aber auch die Wirkungsweise bestimmter ästhetischer Methoden der Moderne untersuchte, hatte ein Nachspiel, und dieses wurde im Gerichtssaal gegeben. Weil sie sich verhöhnt fühlten, haben seine bis auf die Knochen blamierten Gegner Kis vor Gericht gebracht und außer einer horrenden Summe Geldes und der Psychiatrierung des Autors auch dessen zeitweilige "Entfernung aus der Gesellschaft" verlangt. Wiewohl er, ohne Anwalt angetreten und auf die Kraft seines eigenen Wortes vertrauend, freigesprochen wurde, hat Kis Jugoslawien daraufhin verlassen. Das andere ist Geschichte und hat, wie die Geschichte zumeist, seine tragischen und komischen Seiten: Das Drama der Verstoßung endete jedenfalls als Farce der Heimholung.
Danilo Kis: "Anatomiestunde". Aus dem Serbokroatischen von Katharina Wolf-Grieshaber, Carl Hanser Verlag, München 1998. 375 S., geb., 49,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main