Myriam ist fast vierzig, als sie erstmals wieder ihre Heimat besucht. Fünfzehn Jahre sind vergangen, seit sie mit ihren drusischen Eltern vor dem Bürgerkrieg im Libanon nach Australien flüchtete. Ihr Bruder wurde von einer Granate zerfetzt, der Vater verlor den Verstand, die Mutter erlitt einen Schock und spricht seither kaum mehr. Seit elf Jahren ist Myriam mit dem Hausarzt ihres Vaters verheiratet und lebt mit ihm in Mombasa. Der Anlass ihrer Reise nach Beirut ist der Verkauf des elterlichen Hauses, doch der eigentliche Grund ist Heimweh nach dem Land ihrer Jugend. Ihre Großmutter und ihre schwerkranke Freundin Olga, mit der sie all die Jahre korrespondiert hat, leben noch immer hier. Auch ihre große Liebe Georges ist hier verschollen. Vieles hat sich in ihrer Abwesenheit verändert. In der Stadt herrscht eine fieberhaft-hektische Aufbruchstimmung, die die Kriegsgräuel vergessen machen will. Doch Myriam will sich erinnern. Iman Humaidan entwirft in ihrem Roman in dichter, sinnlicher Prosa das Bild einer traumatisierten Nachkriegsgeneration, ein Stück libanesischer Zeitgeschichte. Sie ergründet, was Menschen durch Emigration verlieren und bei ihrer Rückkehr wiederzuerlangen hoffen, aber auch die Alternativen des Daseins, die sich an jedem neuen Ort auftun: 'Andere Leben'.
Iman Humaidan erzählt von den Wunden, die der libanesische Bürgerkrieg schlug und die auch im Exil nicht verheilen
Die Mutter hat viel zu erzählen. Thema um Thema greift sie auf, berichtet der Tochter von der Arbeit, der Familie, diesem und jenem. Ihr Englisch ist flüssig, die fremde Sprache fällt ihr leicht. Zu leicht womöglich. Jedenfalls im Gespräch mit der Tochter. Denn warum gebraucht sie nicht ihre Muttersprache, das Arabische, sondern setzt stattdessen auf die Sprache der neuen Heimat? Fünfzehn Jahre lebt die Familie nun schon in Australien, und diese Zeit hat die alte Sprache verdrängt. Möglich aber auch, ja sogar wahrscheinlich, dass die Mutter mit dem Arabischen auch etwas anderes loszuwerden hofft - die schmerzende Erinnerung.
Anfang der achtziger Jahre hat die Familie die Heimat verlassen, die damals keine Heimat mehr sein konnte. In den frühen Achtzigern brennt der Libanon. Seit mehreren Jahren herrscht Bürgerkrieg. Die Fronten verlaufen entlang konfessioneller Linien, werden aber um internationale Allianzen erweitert. Bahâ stirbt, der Bruder und Sohn, ein Verlust, den Nadia, die Mutter, nie verwinden wird. Der Krieg hat ihr Leben zerstört. Der Riss in ihrem Herzen verheilt auch in Australien nicht, obwohl das Land so anders, so unendlich ruhiger ist. Dort herrscht Friede, die Gewaltgeschichte liegt weit zurück. Das Englische wird zum Synonym dieses Friedens - und damit zum Gegenpol des Arabischen, der Sprache des Krieges. Doch genau hier klafft die Wunde, glaubt Myriam, die Tochter und Erzählerin des Romans. Der Verzicht auf das Arabische ist Amputation und Verlust: "So jedenfalls empfand ich das Verstummen des Arabischen bei meiner Mutter - als Handicap einer verstümmelten, unvollkommenen Frau."
Die libanesische Schriftstellerin Iman Humaidan hat mit "Andere Leben" einen behutsamen, feinfühligen Roman über Beirut nach dem Krieg geschrieben - vor allem über jene Menschen, die dieser Stadt adieu gesagt haben. Die Libanesen haben eine lange Auswanderungstradition. Frucht des endlosen Reigens von Aufbruch und Rückkehr ist eine zumindest unter den gebildeten Libanesen anzutreffende stupende Vielsprachigkeit: Arabisch, Französisch und Englisch werden mit größter Selbstverständlichkeit benutzt. Doch der Preis der Vielsprachigkeit, Iman Humaidan zeigt es, ist hoch. Er wird in Tod und Verlust gerechnet, in Rissen der Erinnerung und in Entfremdung.
Das gilt zunächst für Myriam, die Erzählerin, selbst. Inzwischen lebt sie in Kenia, wo sie für die Vereinten Nationen Flüchtlinge betreut. Doch wirklich heimisch ist sie dort nicht. Im Gegenteil, immer steht sie kurz vor dem Aufbruch. Eine moderne Nomadenexistenz, die den Glauben, irgendwo vorbehaltlos heimisch werden zu können, längst aufgegeben hat.
Und so fliegt Myriam auch nicht ohne Skepsis zurück nach Beirut, um dort eine Erbschaftsangelegenheit zu regeln. In anderthalb Jahrzehnten verändert sich eine Stadt - vor allem, wenn sie in Schutt und Asche gebombt worden ist. Jetzt aber erscheint Beirut zumindest im sogenannten Central District rund um das Regierungsviertel nobel saniert und herausgeputzt, durchzogen von teuren Fußgängerzonen.
Auch Myriam zieht es für einen Abend hierher. Doch wer früher hier lebte, der spürt hinter dem postmodernen Stilmix der glitzernden Fassaden weiterhin die Vergangenheit, sieht immer noch die zerschossenen Häuser, die einst hier standen. Die Erinnerung an sie konnten auch die resoluten Renovierungs- und Aufbauarbeiten nicht hinwegsanieren: Ein Krieg lässt sich nicht so einfach verdrängen. Überall scheint er durch, und was an Stelle des Alten entsteht, lässt für die Zukunft nicht nur Gutes erahnen: "Die alten Häuser verwandelten sich in Schutthalden - Baugrund für die Wolkenkratzer - oder in Restaurants, Spielkasinos und religiöse Center." Und alle stehen sie in Spannung zum riesigen Rest der Stadt, für deren Renovierung sich die Wiederaufbaugesellschaft nicht interessierte. Dieses Geschäft übernahmen die Islamisten.
Mit feiner Beobachtungsgabe greift Iman Humaidan die gespannte Atmosphäre der Stadt auf, die Konflikte zwischen den religiös und wirtschaftlich gespaltenen Bevölkerungsgruppen, eine Gesellschaft, deren Grundenergie bis heute vor allem eines ist: der Hass. Es ist kein Trost in Beirut, und bald wird Myriam ihre Koffer wieder packen, aufbrechen in ein Zuhause, das sie wie so viele Exilanten gern hätte, aber nicht hat.
KERSTEN KNIPP
Iman Humaidan: "Andere Leben". Roman.
Aus dem Arabischen und mit einem Nachwort von Regina Karachouli. Lenos Verlag, Basel 2013. 188 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Enttäuscht zeigt sich Angela Schader vom dritten Buch der Libanesin Iman Humaidan. Die Mitte der 90er Jahre in Beirut angesiedelte Geschichte um eine junge Emigrantin, die in ihre Heimat zurückkehrt und deren Denken um ihre Familiengeschichte und die so verschiedene Gegenwart kreist, vermag Schader nicht mitzureißen. Für die Rezensentin liegt das vor allem daran, dass es der Autorin nicht gelingt, eigentlich gewichtige Themen, wie etwa die Frage nach den Tätern und den Opfern oder nach der moralischen Bewertung der Emigration, überzeugend und entsprechend substanziell anzupacken.
© Perlentaucher Medien GmbH
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