Kurt Anderland ist Vorstandsvorsitzender der Wolfer AG in München. Die Firma ist von einem Großkonzern übernommen worden. Sie soll in ihre Teile zerlegt und verkauft werden. Anderland, der in der Wirtschaftswelt einen guten Ruf genießt, soll die Zerschlagung decken. Aber im letzten Moment entscheidet er sich, nicht mitzumachen. Er tritt zurück. Das ist der Ausgangspunkt eines einzigartigen Wirtschaftskrimis aus der Feder eines Mannes, der selber einer der großen Industriellen Deutschlands war.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.07.2005Nach dem Geld
Roman der Stunde: Hans Graf von der Goltz' "Anderland"
Enron, Flowtex, WorldCom und hierzulande das Mannesmann-Verfahren haben die Öffentlichkeit zu Recht beunruhigt, weil sich darin die Praktiken und Denkungsarten offenbarten, die bislang nur gestandene Antikapitalisten den Managern und Unternehmenseignern zugetraut hätten. Aber jeder Fall war anders gelagert, und es fällt Außenstehenden schwer nachzuvollziehen, wie sich solche Machenschaften entwickeln, was für Personen solche Dinge aushecken, wie auch Unschuldige hineingeraten. Hier können die Mittel des Romans helfen.
"Anderland" von Hans Graf von Goltz entwickelt sich gerade - zugegebenermaßen einige Monate nach seiner Veröffentlichung - zum Roman der Stunde. Diese Geschichte eines angesehenen Managers, der sich kurz vor dem Ende seiner Karriere noch auf ein unternehmerisches Abenteuer einläßt und einer Bande von Wirtschaftskriminellen auf den Leim geht, paßt perfekt in die aktuelle Debatte um Heuschrecken, Wirtschaftsskandale, die Moral des "Neuen Markts" und die Problematik des Generationenwechsels unter den deutschen Unternehmensführern.
Dies ist um so brisanter, als hier kein engagierter Absolvent eines Literaturinstituts schreibt, der sich einmal die Wirtschaftswelt statt der seelischen Innenwelt vorgenommen hätte, sondern einer der bedeutenden Industriellen der Bundesrepublik. Der Autor war dabei, als Herbert Quandt sein Imperium aufbaute, und saß in zahllosen Aufsichtsräten. Er weiß also, wovon er schreibt, wenn er die flüchtige und suspekte Allianz von Medien und Neuem Markt beschreibt, den blitzschnellen Zerfall angesehener Familienunternehmen, aber auch die neue persönliche Unsicherheit der Manager angesichts der vom einzelnen kaum noch zu kontrollierenden Komplexität internationalen Wirtschaftslebens.
Der besondere Clou des Romans ist die Differenz zwischen der sinnlichen, beruhigend luxuriösen Umgebung, in der sich der Protagonist tagtäglich bewegt, der sicheren Routine aus Besprechungen, Essenseinladungen, den komfortablen Paraphernalia des Managerlebens, die eine entspannte Kontrolle über alles und jeden in der Firma suggeriert, und den sich im verborgenen entwickelnden kriminellen Machenschaften.
Kurt Anderland wird geschickt als honoriger und reflektierter Wirtschaftsführer und als ein Mann von Welt geschildert, der klarsichtig auch seine Affäre mit der um einiges jüngeren Valerie steuert. Daß aber gerade Anderland sich so verstricken läßt, macht dem Leser eindrücklich klar, daß selbst die erfahrensten Manager unter der neuen Unübersichtlichkeit einer globalisierten Wirtschaft und der Erosion moralischer Standards leiden. Die Sprache erinnert dabei nicht zufällig an den frühen Martin Walser: Auch hier ist die Unsicherheit des einzelnen in angeblich so sicheren bürgerlichen Verhältnissen das zentrale Thema.
Das zweite Leben des Kurt Anderland sollte ein Management-Buyout beginnen, doch das ging gründlich schief. Nur mit knapper Not ist es ihm überhaupt möglich, eine dritte Karriere anzufangen, schließlich nämlich als freier Schriftsteller im Prenzlauer Berg in Berlin, in einer Wohnung mit "gardinenlosen Fenstern".
Diese Pointe, die Erleichterung, mit der hier von Berlin als einer völlig neuen lebensgeschichtlichen Möglichkeit geschrieben wird, läßt einen auch nach der Lektüre nicht los: Berlin als Ort jenseits der Wirtschaft, für Leute, die sich ein Leben nach der Karriere, ohne oder nach dem Geld gestalten wollen. Und diese Wendung macht "Anderland" - auch wenn nur ein kleiner Teil der Geschichte tatsächlich dort spielt - ganz nebenbei auch noch zu einem bemerkenswerten Berlin-Roman.
NILS MINKMAR
Hans Graf von der Goltz: "Anderland". Roman. Berlin Verlag, Berlin 2004. 210 S., geb., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Roman der Stunde: Hans Graf von der Goltz' "Anderland"
Enron, Flowtex, WorldCom und hierzulande das Mannesmann-Verfahren haben die Öffentlichkeit zu Recht beunruhigt, weil sich darin die Praktiken und Denkungsarten offenbarten, die bislang nur gestandene Antikapitalisten den Managern und Unternehmenseignern zugetraut hätten. Aber jeder Fall war anders gelagert, und es fällt Außenstehenden schwer nachzuvollziehen, wie sich solche Machenschaften entwickeln, was für Personen solche Dinge aushecken, wie auch Unschuldige hineingeraten. Hier können die Mittel des Romans helfen.
"Anderland" von Hans Graf von Goltz entwickelt sich gerade - zugegebenermaßen einige Monate nach seiner Veröffentlichung - zum Roman der Stunde. Diese Geschichte eines angesehenen Managers, der sich kurz vor dem Ende seiner Karriere noch auf ein unternehmerisches Abenteuer einläßt und einer Bande von Wirtschaftskriminellen auf den Leim geht, paßt perfekt in die aktuelle Debatte um Heuschrecken, Wirtschaftsskandale, die Moral des "Neuen Markts" und die Problematik des Generationenwechsels unter den deutschen Unternehmensführern.
Dies ist um so brisanter, als hier kein engagierter Absolvent eines Literaturinstituts schreibt, der sich einmal die Wirtschaftswelt statt der seelischen Innenwelt vorgenommen hätte, sondern einer der bedeutenden Industriellen der Bundesrepublik. Der Autor war dabei, als Herbert Quandt sein Imperium aufbaute, und saß in zahllosen Aufsichtsräten. Er weiß also, wovon er schreibt, wenn er die flüchtige und suspekte Allianz von Medien und Neuem Markt beschreibt, den blitzschnellen Zerfall angesehener Familienunternehmen, aber auch die neue persönliche Unsicherheit der Manager angesichts der vom einzelnen kaum noch zu kontrollierenden Komplexität internationalen Wirtschaftslebens.
Der besondere Clou des Romans ist die Differenz zwischen der sinnlichen, beruhigend luxuriösen Umgebung, in der sich der Protagonist tagtäglich bewegt, der sicheren Routine aus Besprechungen, Essenseinladungen, den komfortablen Paraphernalia des Managerlebens, die eine entspannte Kontrolle über alles und jeden in der Firma suggeriert, und den sich im verborgenen entwickelnden kriminellen Machenschaften.
Kurt Anderland wird geschickt als honoriger und reflektierter Wirtschaftsführer und als ein Mann von Welt geschildert, der klarsichtig auch seine Affäre mit der um einiges jüngeren Valerie steuert. Daß aber gerade Anderland sich so verstricken läßt, macht dem Leser eindrücklich klar, daß selbst die erfahrensten Manager unter der neuen Unübersichtlichkeit einer globalisierten Wirtschaft und der Erosion moralischer Standards leiden. Die Sprache erinnert dabei nicht zufällig an den frühen Martin Walser: Auch hier ist die Unsicherheit des einzelnen in angeblich so sicheren bürgerlichen Verhältnissen das zentrale Thema.
Das zweite Leben des Kurt Anderland sollte ein Management-Buyout beginnen, doch das ging gründlich schief. Nur mit knapper Not ist es ihm überhaupt möglich, eine dritte Karriere anzufangen, schließlich nämlich als freier Schriftsteller im Prenzlauer Berg in Berlin, in einer Wohnung mit "gardinenlosen Fenstern".
Diese Pointe, die Erleichterung, mit der hier von Berlin als einer völlig neuen lebensgeschichtlichen Möglichkeit geschrieben wird, läßt einen auch nach der Lektüre nicht los: Berlin als Ort jenseits der Wirtschaft, für Leute, die sich ein Leben nach der Karriere, ohne oder nach dem Geld gestalten wollen. Und diese Wendung macht "Anderland" - auch wenn nur ein kleiner Teil der Geschichte tatsächlich dort spielt - ganz nebenbei auch noch zu einem bemerkenswerten Berlin-Roman.
NILS MINKMAR
Hans Graf von der Goltz: "Anderland". Roman. Berlin Verlag, Berlin 2004. 210 S., geb., 19,- [Euro].
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