Drei intellektuelle Frauen des 20. Jahrhunderts - die Bibliothekarin Helene Nathan, die Schriftstellerin Anna Seghers und die Philosophin Hannah Arendt - sind die Heldinnen dieser Graphic Novel. Nicht nur ihre jüdische Identität, auch ihr Denken machte ihnen ein Leben in Nazi-Deutschland unmöglich.Die drei Frauen sind auch die Heldinnen von Robin, Chioma und Irit - drei jungen Menschen, die im heutigen Berlin leben. In Begegnungen und Gesprächen erwecken sie die Schicksale der drei Andersdenkerinnen zum Leben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.07.2022Begabt, aber nicht gefährlich
Anna Faroqhis Graphic Novel "Andersdenkerinnen"
Es gab und gibt genialische Comiczeichner wie Hal Foster, der Sprechblasen durch fortlaufende Texte ersetzte und sowohl Tarzan als auch Prinz Eisenherz zu Ikonen der Pop-Art machte, oder Hugo Pratt, der, aus dem Fundus der Kolonialgeschichte schöpfend, in der Figur des Corto Maltese die Globalisierung vorwegnahm. Von hier aus führt ein gewundener Weg über Italowestern und Krimis zu postmodernen Graphic Novels, die höchsten intellektuellen Anspruch mit oft ungelenken Bildern verbinden. Ihre Helden heißen nicht Tim und Struppi, Donald oder Dagobert Duck, sondern Stephen Dedalus und Josef K.
Anknüpfend an diese Tradition, hat Anna Faroqhi, die an der Hanns-Eisler-Hochschule für Musik Filmschreiben lehrt, eine Graphic Novel über "Andersdenkerinnen" verfasst: einen Romanessay besser gesagt, in dem sie ihren persönlichen Heldinnen ein Denkmal setzt. Werke und Tage der Bibliothekarin Helene Nathan, der Schriftstellerin Anna Seghers und der Philosophin Hannah Arendt werden nicht einfach referiert, sondern gespiegelt im Leben zweier heutiger Jugendlicher namens Robin und Chioma. Beide haben einen Migrationshintergrund und sich, wie die Autorin des Comics, die drei Andersdenkerinnen zu Vorbildern erkoren. Auf diese Weise entsteht ein komplexes, vielfach gebrochenes Bild des widrigen Umständen abgetrotzten Lebens und Schaffens dreier jüdischer Frauen, das die Schwierigkeiten der jüngeren Generation reflektiert, Vor- und Nachgeschichte der NS-Zeit einschließlich des Stalinismus adäquat zu erfassen.
Das historische Ambiente - von Bubikopf oder Knotenfrisur bis zur Kaffeetasse und qualmenden Zigarette - ist wunderbar dargestellt, und es tut nichts zur Sache, dass die Auflösung des Reichstags falsch datiert und Georg Lukács falsch geschrieben wird, denn gerade das Improvisierte und Unfertige macht den Reiz des Buches aus, das Anna Seghers' desillusionierende Erfahrung in der DDR so zusammenfasst: "Am Ende stand sie doch vor einem Scherbenhaufen - selbstbewusste Frau, Mutter, Funktionärin, machtlos: Werte Schriftstellerkollegen, dieser Müller ist begabt, aber nicht gefährlich . . ."
Was die Autorin so sympathisch macht, ist, dass sie ihre Mühsal beim Nachvollzug von Hannah Arendts philosophischen Ideen nicht verschweigt, sondern offen benennt: "Für 'Vita Activa' und das Totalitarismus-Buch musste ich viele Anläufe nehmen, um wenigstens die Grundzüge zu erahnen." Das ist Didaktik im ursprünglichen Sinn, ohne akademische Besserwisserei - auf diesem Weg kehrt der Comic zu seinen Anfängen als Fibel und Flugblatt zurück. Und in einer Sprechblase verweist Anna Faroqhi auf die persönliche Motivation beim Schreiben des Buchs. Es ist eine indirekte Hommage an ihren 2014 verstorbenen Vater, den Filmkünstler Harun Farocki, dem sogar das Museum of Modern Art eine Werkschau gewidmet hat: "Durch die Beschäftigung mit Seghers habe ich angefangen, mit meinem Vater zu sprechen, auf eine Weise, die für mich neu ist." HANS CHRISTOPH BUCH
Anna Faroqhi: "Andersdenkerinnen". Annäherungen an Helene Nathan, Anna Seghers und Hannah Arendt.
Edition q im Bebraverlag, Berlin 2022. 192 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Anna Faroqhis Graphic Novel "Andersdenkerinnen"
Es gab und gibt genialische Comiczeichner wie Hal Foster, der Sprechblasen durch fortlaufende Texte ersetzte und sowohl Tarzan als auch Prinz Eisenherz zu Ikonen der Pop-Art machte, oder Hugo Pratt, der, aus dem Fundus der Kolonialgeschichte schöpfend, in der Figur des Corto Maltese die Globalisierung vorwegnahm. Von hier aus führt ein gewundener Weg über Italowestern und Krimis zu postmodernen Graphic Novels, die höchsten intellektuellen Anspruch mit oft ungelenken Bildern verbinden. Ihre Helden heißen nicht Tim und Struppi, Donald oder Dagobert Duck, sondern Stephen Dedalus und Josef K.
Anknüpfend an diese Tradition, hat Anna Faroqhi, die an der Hanns-Eisler-Hochschule für Musik Filmschreiben lehrt, eine Graphic Novel über "Andersdenkerinnen" verfasst: einen Romanessay besser gesagt, in dem sie ihren persönlichen Heldinnen ein Denkmal setzt. Werke und Tage der Bibliothekarin Helene Nathan, der Schriftstellerin Anna Seghers und der Philosophin Hannah Arendt werden nicht einfach referiert, sondern gespiegelt im Leben zweier heutiger Jugendlicher namens Robin und Chioma. Beide haben einen Migrationshintergrund und sich, wie die Autorin des Comics, die drei Andersdenkerinnen zu Vorbildern erkoren. Auf diese Weise entsteht ein komplexes, vielfach gebrochenes Bild des widrigen Umständen abgetrotzten Lebens und Schaffens dreier jüdischer Frauen, das die Schwierigkeiten der jüngeren Generation reflektiert, Vor- und Nachgeschichte der NS-Zeit einschließlich des Stalinismus adäquat zu erfassen.
Das historische Ambiente - von Bubikopf oder Knotenfrisur bis zur Kaffeetasse und qualmenden Zigarette - ist wunderbar dargestellt, und es tut nichts zur Sache, dass die Auflösung des Reichstags falsch datiert und Georg Lukács falsch geschrieben wird, denn gerade das Improvisierte und Unfertige macht den Reiz des Buches aus, das Anna Seghers' desillusionierende Erfahrung in der DDR so zusammenfasst: "Am Ende stand sie doch vor einem Scherbenhaufen - selbstbewusste Frau, Mutter, Funktionärin, machtlos: Werte Schriftstellerkollegen, dieser Müller ist begabt, aber nicht gefährlich . . ."
Was die Autorin so sympathisch macht, ist, dass sie ihre Mühsal beim Nachvollzug von Hannah Arendts philosophischen Ideen nicht verschweigt, sondern offen benennt: "Für 'Vita Activa' und das Totalitarismus-Buch musste ich viele Anläufe nehmen, um wenigstens die Grundzüge zu erahnen." Das ist Didaktik im ursprünglichen Sinn, ohne akademische Besserwisserei - auf diesem Weg kehrt der Comic zu seinen Anfängen als Fibel und Flugblatt zurück. Und in einer Sprechblase verweist Anna Faroqhi auf die persönliche Motivation beim Schreiben des Buchs. Es ist eine indirekte Hommage an ihren 2014 verstorbenen Vater, den Filmkünstler Harun Farocki, dem sogar das Museum of Modern Art eine Werkschau gewidmet hat: "Durch die Beschäftigung mit Seghers habe ich angefangen, mit meinem Vater zu sprechen, auf eine Weise, die für mich neu ist." HANS CHRISTOPH BUCH
Anna Faroqhi: "Andersdenkerinnen". Annäherungen an Helene Nathan, Anna Seghers und Hannah Arendt.
Edition q im Bebraverlag, Berlin 2022. 192 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der hier rezensierende Autor Hans Christoph Buch freut sich über das Unfertige in dieser Graphic Novel von Anna Faroqhi. Wie die Autorin ihren eigenen Heldinnen Hannah Arendt, Helene Nathan und Anna Seghers huldigt, indem sie die heutige Geschichte zweier MigrantInnen erzählt und darin sowohl Probleme der jetzigen Generation als auch Erfahrungen mit der NS-Zeit reflektiert, findet Buch stark, in den historischen Details überzeugend und ehrlich in der Feststellung, dass Arendt zu lesen keine einfache Sache ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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