Die Kunst Andrea Pozzos, vor allem sein Hauptwerk, die Ausmalung der römischen Kirche Sant Ignazio samt Langhaus und der berühmten Scheinkuppel, ist schon oft Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung gewesen. Im vorliegenden Band wird Pozzos Kunst nun aus einem neuen, bislang unberücksichtigten Blickwinkel betrachtet. Die moderne Videokunst dient gleichsam als Brille, durch die der Blick zurück auf Pozzos Werk gerichtet wird. Probleme und Fragestellungen, die dem heutigen Betrachter vor allem aus der Seherfahrung mit der modernen Video-Installationskunst vertraut sind, wie zum Beispiel die Bewegung des Betrachters durch den Raum des Kunstwerks, oder die permanente Veränderung des Kunstwerks durch die Interaktion des Betrachters, werden auf die barocke Kunst Pozzos übertragen. Dabei zeigt sich, dass in der Kunst des barocken Illusionismus bereits Themen relevant waren, die man gemeinhin erst mit der Kunst der Gegenwart assoziiert.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.07.2002Wage zu schauen, lerne zu staunen
Andrea Pozzo und die Videokunst: Felix Burda-Stengel geht zurück zu den barocken Ursprüngen unserer Wahrnehmung
Ist Wahrnehmung zeitgebunden? Läßt sich die Vergangenheit „an sich” rekonstruieren, oder ist nicht die Beschäftigung mit älteren Kunstwerken immer auch geprägt von ihrer eigenen Zeit? Dies sind Fragen, die sich historisch arbeitende Diziplinen wie die Kunstwissenschaft regelmäßig stellen und die innerhalb des Fachs stets zu Kontroversen führen. Zwischen den Verfechtern einer historisierenden Herangehensweise an Kunstwerke und den Befürwortern ihrer radikalen Dekontextualisierung bestehen bisweilen unüberbrückbare Gegensätze; gleichwohl gibt es zwischen beiden Extremen Abstufungen. Ein Beispiel hierfür ist Victor Stoichitas Buch über „Das selbstbewußte Bild”, das sich mit solchen frühneuzeitlichen Gemälden beschäftigt, die ihre eigenen Strukturprinzipien innerbildlich thematisieren. Diese Themenstellung kann und will ihre Prägung durch moderne und postmoderne Debatten zur „Metakunst” nicht verleugnen, doch bezeugt die Evidenz der Beispiele aus der Frühen Neuzeit, daß es sich in der Tat um ein relevantes historisches Phänomen handelt, auch wenn es in der italienischen und der holländischen Sprache um 1600 noch keinen Begriff für „Selbstbezüglichkeit” gab.
Anders als Stoichita stellt Felix Burda-Stengel in seinem Buch über barocke Illusionsmalerei den Bezug zwischen damaliger und heutiger Kunstpraxis ganz explizit her: „Andrea Pozzo und die Videokunst” lautet sein markanter Titel. Burda beginnt mit einer durchaus traditionellen Analyse der Hauptwerke des berühmtesten jesuitischen Freskanten des 17. Jahrhunderts, der vor allem mit zwei Kirchenausstattungen Aufsehen erregte. Beide entstanden unter interessanten Bedingungen: In S. Francesco Saverio im piemontesischen Mondovì diente die fingierte Säulenarchitektur des Deckenfreskos der Kaschierung eklatanter baulicher Mängel. Aus der Not eine Tugend machte Pozzo auch in Sant'Ignazio in Rom, verhinderten doch dort die benachbarten Dominikaner den Bau einer Vierungskuppel, weil sie die Verschattung ihrer Bibliothek befürchteten. Pozzo malte eine Scheinkuppel auf Leinwand, die, zunächst als Provisorium gedacht, allein durch ihre Verdunkelung mittlerweile ihren täuschenden Effekt eingebüßt hat.
Eine Frage des Standpunkts
Sein Meisterwerk ist jedoch das Fresko im Langhaus von Sant'Ignazio: die bravourös konstruierte fingierte Arkadenarchitektur mit monumentalen Säulen öffnet den Blick auf den imaginären Himmel, in dem sich die Apotheose des Ordensgründers Ignatius von Loyola ereignet. Malerische Fiktion und gebaute Wirklichkeit sind hier nicht mehr unterscheidbar, der Effekt ist auch bei mehrmaliger Betrachtung überwältigend. Doch funktioniert das Fluchten der Linien nur unter einer Bedingung, genauer, allein von einem Standpunkt aus, der durch eine Marmorscheibe im Fußboden markiert wird – „il punto” nennt ihn Pozzo in seinem Perspektivtraktat von 1693.
Burda bewertet dieses Faktum der Einansichtigkeit, das bereits von den Zeitgenossen als Manko empfunden wurde, positiv und knüpft eine Interpretation daran: Tatsächlich habe Pozzo gar nicht beabsichtigt, die Betrachter seiner Fresken auf einen Punkt zu fixieren, vielmehr sollen sie sich frei im Raum bewegen und bemerken, wie dicht Täuschung und „Enttäuschung” beieinander liegen. Indem er sie selbst in Gang setzt, hat der Betrachter quasi teil an der Illusionsmaschinerie, erkennt er die Bedingtheit von Wahrnehmung und die richtige Sichtweise als Frage des Standpunkts.
Was hier nach originär postmodernem Gedankengut klingt, sind in der Tat frühneuzeitliche Überlegungen; gerade die Perspektivität von Wahrheit gilt inzwischen als Merkmal der Episteme der Renaissance und des Barock. Doch geht es Burda nicht um die Kontextualisierung seines Objekts in frühneuzeitlichen Diskurswelten. Er schlägt den Bogen zur zeitgenössischen Kunst, insbesondere den Videoinstallationen von Bruce Nauman und Bill Viola, die offensichtlich seine Wahrnehmung für barocke Phänomene empfänglich gemacht haben.
Burda begründet diesen Schritt mit reziprokem Erkenntnisgewinn: Die Videokunst lasse sich in einer bislang so nicht gesehenen Tradition verorten; vor allem aber lassen sich mit den Wahrnehmungsmustern, die durch die neuen Medien angeregt sind, auch neue Kriterien für „Installationen” avant la lettre wie Pozzos Raumgestaltungen gewinnen: Diese bestehen in der Einbeziehung des Betrachters und im Verständnis vom Raum als konstitutivem Element des Kunstwerks. Denn auch in Naumans „Live Taped Video Corridor” von 1970 hat der Betrachter, der durch einen engen Korridor geschickt und dabei mit versetzt arrangierten Videoaufzeichnungen von sich selbst aus der Rückschau konfrontiert wird, seine Wahrnehmung zu überprüfen und seiner Täuschung gewahr zu werden.
Burdas unkonventionelle Parallelisierungen sind interessant, und man hätte sie sich ausführlicher gewünscht. Doch ist das Buch durch den viel zu frühen Tod seines Verfassers bedauerlicherweise Fragment geblieben: So verbleibt vieles im Bereich von Denkanstößen. Es ist zu hoffen, daß der Faden, den Burda gesponnen hat, noch einmal aufgenommen wird, um zu zeigen, worin sich frühneuzeitliche und postmoderne Subjektwahrnehmung überschneiden, vor allem aber auch, worin sie sich unterscheiden.
VALESKA VON ROSEN
FELIX BURDA STENGEL: Andrea Pozzo und die Videokunst. Neue Überlegungen zum barocken Illusionismus, Gebr. Mann Verlag, Berlin, 152 S., 52 Euro.
Andrea Pozzo: „Der zwölfjährige Jesus im Tempel – Der Disput”, 1690/95.
Foto: AKG
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Andrea Pozzo und die Videokunst: Felix Burda-Stengel geht zurück zu den barocken Ursprüngen unserer Wahrnehmung
Ist Wahrnehmung zeitgebunden? Läßt sich die Vergangenheit „an sich” rekonstruieren, oder ist nicht die Beschäftigung mit älteren Kunstwerken immer auch geprägt von ihrer eigenen Zeit? Dies sind Fragen, die sich historisch arbeitende Diziplinen wie die Kunstwissenschaft regelmäßig stellen und die innerhalb des Fachs stets zu Kontroversen führen. Zwischen den Verfechtern einer historisierenden Herangehensweise an Kunstwerke und den Befürwortern ihrer radikalen Dekontextualisierung bestehen bisweilen unüberbrückbare Gegensätze; gleichwohl gibt es zwischen beiden Extremen Abstufungen. Ein Beispiel hierfür ist Victor Stoichitas Buch über „Das selbstbewußte Bild”, das sich mit solchen frühneuzeitlichen Gemälden beschäftigt, die ihre eigenen Strukturprinzipien innerbildlich thematisieren. Diese Themenstellung kann und will ihre Prägung durch moderne und postmoderne Debatten zur „Metakunst” nicht verleugnen, doch bezeugt die Evidenz der Beispiele aus der Frühen Neuzeit, daß es sich in der Tat um ein relevantes historisches Phänomen handelt, auch wenn es in der italienischen und der holländischen Sprache um 1600 noch keinen Begriff für „Selbstbezüglichkeit” gab.
Anders als Stoichita stellt Felix Burda-Stengel in seinem Buch über barocke Illusionsmalerei den Bezug zwischen damaliger und heutiger Kunstpraxis ganz explizit her: „Andrea Pozzo und die Videokunst” lautet sein markanter Titel. Burda beginnt mit einer durchaus traditionellen Analyse der Hauptwerke des berühmtesten jesuitischen Freskanten des 17. Jahrhunderts, der vor allem mit zwei Kirchenausstattungen Aufsehen erregte. Beide entstanden unter interessanten Bedingungen: In S. Francesco Saverio im piemontesischen Mondovì diente die fingierte Säulenarchitektur des Deckenfreskos der Kaschierung eklatanter baulicher Mängel. Aus der Not eine Tugend machte Pozzo auch in Sant'Ignazio in Rom, verhinderten doch dort die benachbarten Dominikaner den Bau einer Vierungskuppel, weil sie die Verschattung ihrer Bibliothek befürchteten. Pozzo malte eine Scheinkuppel auf Leinwand, die, zunächst als Provisorium gedacht, allein durch ihre Verdunkelung mittlerweile ihren täuschenden Effekt eingebüßt hat.
Eine Frage des Standpunkts
Sein Meisterwerk ist jedoch das Fresko im Langhaus von Sant'Ignazio: die bravourös konstruierte fingierte Arkadenarchitektur mit monumentalen Säulen öffnet den Blick auf den imaginären Himmel, in dem sich die Apotheose des Ordensgründers Ignatius von Loyola ereignet. Malerische Fiktion und gebaute Wirklichkeit sind hier nicht mehr unterscheidbar, der Effekt ist auch bei mehrmaliger Betrachtung überwältigend. Doch funktioniert das Fluchten der Linien nur unter einer Bedingung, genauer, allein von einem Standpunkt aus, der durch eine Marmorscheibe im Fußboden markiert wird – „il punto” nennt ihn Pozzo in seinem Perspektivtraktat von 1693.
Burda bewertet dieses Faktum der Einansichtigkeit, das bereits von den Zeitgenossen als Manko empfunden wurde, positiv und knüpft eine Interpretation daran: Tatsächlich habe Pozzo gar nicht beabsichtigt, die Betrachter seiner Fresken auf einen Punkt zu fixieren, vielmehr sollen sie sich frei im Raum bewegen und bemerken, wie dicht Täuschung und „Enttäuschung” beieinander liegen. Indem er sie selbst in Gang setzt, hat der Betrachter quasi teil an der Illusionsmaschinerie, erkennt er die Bedingtheit von Wahrnehmung und die richtige Sichtweise als Frage des Standpunkts.
Was hier nach originär postmodernem Gedankengut klingt, sind in der Tat frühneuzeitliche Überlegungen; gerade die Perspektivität von Wahrheit gilt inzwischen als Merkmal der Episteme der Renaissance und des Barock. Doch geht es Burda nicht um die Kontextualisierung seines Objekts in frühneuzeitlichen Diskurswelten. Er schlägt den Bogen zur zeitgenössischen Kunst, insbesondere den Videoinstallationen von Bruce Nauman und Bill Viola, die offensichtlich seine Wahrnehmung für barocke Phänomene empfänglich gemacht haben.
Burda begründet diesen Schritt mit reziprokem Erkenntnisgewinn: Die Videokunst lasse sich in einer bislang so nicht gesehenen Tradition verorten; vor allem aber lassen sich mit den Wahrnehmungsmustern, die durch die neuen Medien angeregt sind, auch neue Kriterien für „Installationen” avant la lettre wie Pozzos Raumgestaltungen gewinnen: Diese bestehen in der Einbeziehung des Betrachters und im Verständnis vom Raum als konstitutivem Element des Kunstwerks. Denn auch in Naumans „Live Taped Video Corridor” von 1970 hat der Betrachter, der durch einen engen Korridor geschickt und dabei mit versetzt arrangierten Videoaufzeichnungen von sich selbst aus der Rückschau konfrontiert wird, seine Wahrnehmung zu überprüfen und seiner Täuschung gewahr zu werden.
Burdas unkonventionelle Parallelisierungen sind interessant, und man hätte sie sich ausführlicher gewünscht. Doch ist das Buch durch den viel zu frühen Tod seines Verfassers bedauerlicherweise Fragment geblieben: So verbleibt vieles im Bereich von Denkanstößen. Es ist zu hoffen, daß der Faden, den Burda gesponnen hat, noch einmal aufgenommen wird, um zu zeigen, worin sich frühneuzeitliche und postmoderne Subjektwahrnehmung überschneiden, vor allem aber auch, worin sie sich unterscheiden.
VALESKA VON ROSEN
FELIX BURDA STENGEL: Andrea Pozzo und die Videokunst. Neue Überlegungen zum barocken Illusionismus, Gebr. Mann Verlag, Berlin, 152 S., 52 Euro.
Andrea Pozzo: „Der zwölfjährige Jesus im Tempel – Der Disput”, 1690/95.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Bedauerlicherweise ist dieses Buch des Kunsthistorikers Felix Burda Stengel durch den frühen Tod des Autors nur Fragment geblieben, meint Valeska von Rosen, vieles bleibe im Bereich der Denkanstöße. Doch Burdas unkonventionelle Parallelisierungen haben es für die Rezensentin in sich: Anhand der Fresken des Jesuiten Andrea Pozzo aus dem 17. Jahrhundert und der Videoinstallationen von Bruce Naumann und Bill Viola versucht Burda zu zeigen, worin sich frühneuzeitliche und postmoderne Wahrnehmungen und Perspektiven überschneiden, worin sie sich aber auch unterscheiden, umreißt Rosen das Thema. Dies scheint tatsächlich keine leichte Aufgabe gewesen zu sein, doch die Rezensentin bemüht sich erfreulicherweise sehr, den komplexen Gehalt so nachvollziehbar wie möglich darzustellen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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