Produktdetails
  • Verlag: dtv
  • ISBN-13: 9783423245845
  • ISBN-10: 3423245840
  • Artikelnr.: 20837936
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.01.2007

Enzyklopädie des Terrors
„Deutscher Herbst” – nach 30 Jahren noch schwer zu fassen
Fast dreißig Jahre ist es her, da hielt eine zwanzigköpfige „Rote Armee Fraktion” die Republik in Atem, um ihre Genossen im Gefängnis zu befreien. „Deutscher Herbst" sollten einmal die Wochen im Jahr 1977 genannt werden, als Entführungen und Attentate zahlreiche Todesopfer forderten, die Bundesregierung im Zuge der Wahrung der inneren Sicherheit Grundrechte aushebelte und schließlich das 1968 begonnene „rote Jahrzehnt" zu einem jähen Ende kam. Mit „Die RAF und der linke Terrorismus" liegt nun ein über 1400 Seiten starkes, zweibändiges Kompendium aus dem Hamburger Institut für Sozialforschung vor, das dieses Jubiläum zum Anlass nimmt, eine „Topologie des RAF-Terrorismus” zu entwerfen.
Während dieses von Wolfgang Kraushaar herausgegebene Buch an frühere Veröffentlichungen wie die Arbeiten über Rudi Dutschke oder die „Tupamaros Westberlin”, eine Vorläuferorganisation der „Bewegung 2. Juni” anknüpft, schließen der Dokumentarfilmer Klaus Stern und der Theologe Jörg Hermann eine zeithistorische Lücke: Sie veröffentlichen die erste Andreas-Baader-Biografie. Um es vorweg zu sagen: Beide Publikationen treten inhaltlich auf der Stelle, weder die über sechzig Beiträge des Sammelbandes, noch die über 350 Seiten Baader-Biografie liefern neue Erkenntnisse.
Zunächst stellt sich die Frage, wieso eine Beschäftigung mit der 1970 gegründeten RAF, deren Selbstauflösung acht Jahre zurückliegt, ansteht. Die Politik der Stadtguerilla gilt allgemein als gescheitert, politische Gewalt ist in sozialen Bewegungen linker Provenienz weitestgehend tabuisiert. Wenn überhaupt, dann haben noch nationale Befreiungsbewegungen von damals überlebt, die ihren sozialistischen Zeitkolorit aus den Siebzigern allerdings schon lange abgelegt haben.
Mit der Chiffre „9/11” ist heute hingegen eine neue Art des Terrorismus verbunden, die nicht nur alles in den Schatten stellt, was in den Siebzigern geschah, sondern auch qualitativ völlig andere Dimensionen hat. Und so benennt Kraushaar denn auch die Unterschiede: Den neuen Terrorismus zeichne eine „Ubiquität der Opferziele”, eine „nihilistische Dimension” aus, die sich nicht nur in der Wahllosigkeit der Opfer, sondern auch in der Figur des Selbstmordattentäters ausdrücke. Auch organisatorisch zeigen sich Unterschiede, so Kraushaar: Hierarchische Organisationsformen seien durch multiple Netzwerke abgelöst, eine Unterscheidung zwischen Mitgliedern und bloßen Anhängern sei nicht mehr möglich. Hinzu komme der globale Aspekt des neuen Terrorismus. Bindeglied hingegen zum alten Terrorismus sei der Antiamerikanismus und dadurch vermittelt der Antisemitismus der bewaffnet agierenden Gruppierungen. Es geht somit, und das ist die Stärke der Kraushaarschen geschichtspolitischen Intervention, nicht allein um die Rolle von Gewalt in politischen Prozessen, es geht zudem um eine dezidiert politische Kritik. Einen Anspruch, den viele Beiträge des Bandes jedoch nicht einlösen.
Mit spitzen Fingern
Die positive Absicht, aus der Dichotomie zwischen „guter”, vielleicht allzu naiver 68er-Bewegung und dogmatischen wie gewalttägigen siebziger Jahren in der Geschichtsschreibung zu entkommen, kann nicht eingelöst werden, weil sowohl Kraushaars Projekt als auch die Baader-Biografie – ähnlich übrigens wie zuletzt die RAF-Ausstellung der Kunstwerke Berlin – im Antagonismus zwischen Staat und RAF verhaftet bleiben. Es kann zwar keine Position im Niemandsland geben, das Problem einer bis heute verlangten Positionierung muss aber zumindest thematisiert werden.
Überhaupt verschwinden in einigen Beiträgen des Sammelbandes die Grenzen: Geht es im juristischen Sinn um Verbrechensaufklärung, an der sich die Zeitgeschichtsforschung beteiligen möchte, oder geht es um eine politische Auseinandersetzung mit der RAF und ihrem Gegenüber, den Staatsorganen der alten Bundesrepublik? Hier wäre deutlich mehr Quellenkritik angebracht: Während etwa Quellen aus den sozialen Bewegungen mit spitzen Fingern angefasst werden, stehen Vernehmungsprotokolle, Verfassungsschutzberichte, Lageeinschätzungen der politischen Polizei in Form und Inhalt völlig außer Kritik. Dass die Geschichte der RAF immer auch die Geschichte der inneren Sicherheit ist, darauf verweist zumindest ein Abschnitt in Kraushaars Kompendium. Doch selbst in diesem Kapitel nimmt die Auseinandersetzung mit dem „Phantasma der ‚Vernichtungshaft‘” oder der „Typologie der linken Anwälte” einen größeren Raum ein als die Thematisierung des staatlichen Handelns, gerade während des „Deutschen Herbstes”.
Mit ähnlichem inhaltlichen Tenor, aber mit anderem Quellenmaterial verschenken Stern und Herrmann mit ihrer Baader-Biografie die Möglichkeiten, die sie sich durch akribische Recherche und zahlreiche Zeitzeugeninterviews geschaffen haben. Allzu oft verliert sich der Text in langatmigen Darstellungen, Zeitzeugen wie Baaders zeitweilige Lebensgefährtin Elly-Leonore Henkel-Michel, Mutter der gemeinsamen Tochter Suse, die Tochter Suse selbst oder der Stammheimer Vollzugsbeamte Horst Bubeck bestätigen einmal mehr das, was über den egozentrischen Dandy, Waffennarr, Autoliebhaber und skrupellosen Chefterroristen schon seit langem von einer Publikation zur nächsten weiterzitiert wird – wenn auch durchaus Interessantes über weniger bekannte Aspekte im Leben Baaders zu Tage tritt, wie etwa seine enge Freundschaft zum Tänzer und Schauspieler Michael Kroecher, seinem Onkel.
Am Kraushaarschen Sammelband wird schon wegen seines umfassenden Anspruchs im Jubiläumsjahr des „Deutschen Herbstes” wohl keiner vorbeikommen. Bleibt zu hoffen, dass das enzyklopädische Werk eine mögliche Debatte über die alte Bundesrepublik, die Politik der inneren Sicherheit und die RAF nicht erstickt, bevor sie überhaupt begonnen hat. GOTTFRIED OY
WOLFGANG KRAUSHAAR (HG.): Die RAF und der linke Terrorismus. Zwei Bände. Hamburger Edition, Hamburg 2006. 1415 Seiten, 78 Euro.
KLAUS STERN / JÖRG HERMANN: Andreas Baader. Das Leben eines Staatsfeindes. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2007. 360 Seiten, 15 Euro.
Schon theaterreif : Im Stück „Ulrike Maria Stuart” geht es um das Verhältnis von Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin. Foto: picture-alliance/dpa
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Gelungen findet Peter Henkel diese umfangreiche Biografie Andreas Baaders, die Klaus Stern und Jörg Herrmann vorgelegt haben. Das Bild, das die Autoren vom Anführer der ersten RAF-Generation zeichnen, scheint ihm "durchaus komplex", vor allem aber "überaus kritisch". Was er nur begrüßen kann, schließlich war die Geschichte der RAF und ihrer Protagonisten lange genug von Missverständnissen und Legenden geprägt. Stern und Herrmann schilderten Baader als narzisstischen, rücksichtslosen, gewalttätigen und egoistischen Fiesling. Allerdings als einen mit Charisma. Die Lektüre des Bands verleitet Henkel zur Spekulationen darüber, ob es ohne Baader die RAF überhaupt je gegeben hätte. Das Buch lobt er insgesamt als "materialreich", "gut lesbar" und "flüssig geschrieben", auch wenn es seines Erachtens nicht viel Neues bietet und mit zahlreichen Wiederholungen aufwartet. Sein Fazit: Leser, die sich dafür interessieren, "wie Lebensläufe und Umstände zusammenkommen, um dramatische Geschichte(n) zu gebären", werden in dem Buch auf ihre Kosten kommen.

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