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Nachdem die erzürnten Götter den anfangs vollkommenen, den androgynen Menschen zur Strafe in Mann und Frau gespalten hatten, war nach Ansicht der Griechen eine Wiedervereinigung der beiden Geschlechter nur noch in Gestalt eines zweigeschlechtlichen Wesens möglich. Nicht nur die griechische und römische Antike beschäftigte sich mit diesem Thema. In vielen frühen Kulturen wird die Vollkommenheit in der glückhaften Vereinigung von Mann und Frau gesehen. Eine Fülle von bildnerischen Zeugnissen macht diese abstrakten Vorstellungen sinnfällig. Auch in der neueren Kunst, insbesondere in der…mehr

Produktbeschreibung
Nachdem die erzürnten Götter den anfangs vollkommenen, den androgynen Menschen zur Strafe in Mann und Frau gespalten hatten, war nach Ansicht der Griechen eine Wiedervereinigung der beiden Geschlechter nur noch in Gestalt eines zweigeschlechtlichen Wesens möglich.
Nicht nur die griechische und römische Antike beschäftigte sich mit diesem Thema. In vielen frühen Kulturen wird die Vollkommenheit in der glückhaften Vereinigung von Mann und Frau gesehen. Eine Fülle von bildnerischen Zeugnissen macht diese abstrakten Vorstellungen sinnfällig. Auch in der neueren Kunst, insbesondere in der Literatur, im Film und in der Malerei und Architektur treten die latenten Sehnsüchte nach einer neuen Einheit zutage.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.06.1998

Großes Rundes, ganzes Langes
Günther Feuerstein entwickelt eine Ars amandi der Baukunst

In einem Buch über das Mann-Weibliche in Kunst und Architektur kann es nicht anders sein. Am Anfang (oder ziemlich am Anfang) steht die Fabel, die Aristophanes den Teilnehmern an Platos Gastmahl erzählt, nachdem er seinen Schluckauf überwunden hat. Athens Komödiendichter berichtet seinen Gefährten von einem dritten Menschengeschlecht, das Mann und Frau zugleich war. Als es den Zorn der Olympier auf sich zog, zerschnitt Göttervater Zeus die kugelförmigen Wesen in der Mitte und wies, nach einigen umständlichen anatomischen Manipulationen, jeder Hälfte jeweils die männlichen oder die weiblichen Attribute zu. Nun suchen die getrennten Teile ihr Leben lang ihr verlorenes Gegenstück. Glück ist jedem nur dann vergönnt, wenn Eros es wieder mit "dem ihm eigenen Geliebten zum alten Wesen" vereinigt.

Was erklärt, wie die Liebe in die Welt kam, erklärt noch lange nicht die Möglichkeit vollkommener Architektur. Günther Feuerstein, Hochschullehrer in Wien und Linz, mußte ein einigermaßen umständliches Kriteriengerüst entwickeln, um das imposante Material, das er jahrzehntelang in Zettelkästen oder Datenspeichern gehortet haben dürfte, zu ordnen und zu verstauen. Vergleiche mit biologischen Sexualmerkmalen, vor allem wenn sie durch andere Quellen gestützt werden, sind der einfachere Teil seines Jobs. Schwieriger faßbar sind die Eigenschaften, die sich auf psychologisch oder kulturell bedingte Geschlechtsqualitäten beziehen. Das Klischee liegt immer nebenan.

Das Manuskript des Buches ist unweit der Burggasse 19, der Wiener Geburtsstätte der Psychoanalyse, entstanden. Wie Traumdeuter Freud in Früchten, Äpfeln oder Pfirsichen, Schlüsselsymbole weiblicher Genitalien erblickte (Bananen gehörten noch nicht zum alltäglichen Angebot Wiener Obsthändler) und in Stöcken, Schirmen, Stangen, Bäumen und "allen in die Länge reichenden Objekten" deren männliche Gegenstücke, so trägt auch den Autor Feuerstein der Automatismus des Deutungszwangs davon. Einmal den Blick geschärft, bleibt er für immer scharf.

Kein Vierungsturm, kein Dachreiter (annonciert er die männliche Dominanz über das weiblich schützende Dach nicht schon im Namen?), keine Verbindungsröhre, die nicht in den Verdacht pansexueller Zeugenschaft geriete. Der vierteilige BMW-Turm in der Münchener Peripherie, sonst gern als Vierzylinder gedeutet, erscheint hier als virile Manifestation bürokratischer Macht. Der Schalenbau der Ausstellungshalle zu seinen Füßen: ein weiblicher Ort des Schutzes, zumal er als behütendes und bewahrendes Museum - eine mütterliche Institution per se - dient. Die Weltgeschichte der Architektur und ein guter Teil der Bildenden Künste dazu werden zu einem gigantischen erotischen Theater.

Natur wie Kunst sind unzuverlässige Auskunfteien. Stehen Kugel oder Ei nun für Vollkommenheit oder für weiblich Bergendes? Lassen plastisch gebildete oder architektonisch realisierte Doppelhemisphären an weibliche Brüste oder männliche Testikel denken? Säulen und Obelisken werden von Feuerstein als phallische Hervorbringungen gedeutet. Doch schon Vitruv hat männlichen Charakter nur der dorischen Säulenordnung zugebilligt. Die Kirche erscheint in diesem Buch bald als Produkt männlich-hierarchischer Organisation, bald als Leib und Schoß der Muttergottes. Haus und Schrein gelten als mütterlich umfangende Bezirke. Treten sie aber selbst innerhalb von Ummauerungen auf, schreibt ihnen Feuerstein auch phallisches Eindringen zu. Und was ist mit jenen Formen gebauter Geometrie, die beide Pole in sich zu schließen scheinen, die Turmkuppeln, stumpfen Kegel, Tumuli und künstlichen, Höhlen und Grotten enthaltenden Berge, die aufragend und einhüllend zugleich sind, Erhebung und Futteral, Penis und Uterus in einem? Die Bedeutungen treiben ihr inzestuöses Spiel miteinander.

Bedeutungsvielfalt oder gar -widerspruch irritieren Feuerstein nicht, sie kommen ihm zupaß. Denn schließlich hat er eine Architektur des Androgynen im Visier. Darin sind die Trennungen zwischen männlich und weiblich aufgehoben, zwischen Objektivität und Subjektivität, Individuum und Gesellschaft, Himmel und Erde. Mit allen Vorbehalten, die Klugheit und Erfahrung gebieten, zeichnet der Autor eine Utopie, "den großen Gedanken der Vollkommenheit", so himmelweit und erdenfern dieses neue Zeitalter "intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen" und aufgekündigter herkömmlicher Rollenzuweisungen auch den Immobilien gegenwärtiger Bautätigkeit sein mag. Was laut Plato nur die Liebe bewirkt, nämlich die getrennten Hälften wieder zusammenzufügen, traut dieser neue Aristophanes anscheinend auch dem Bauen zu.

In der atemlosen Aufzählung von Räumen und Zeiten, Personen und Werken, von Bangkok bis Schwarzrheindorf, von Cornwall bis zum Wiener Kohlmarkt, vom Aurignacien bis zur Postmoderne, von Jeanne d'Arc bis Michael Jackson kam dem Autor die Frage abhanden, welcher Stellenwert den so verschiedenartigen Kulturäußerungen zuzumessen ist. Von unterschiedlichen Realitätsebenen, von Graden der Wählbarkeit und Verbindlichkeit der Formen, von der Funktion unvermittelter Äußerungen im Vergleich zu rhetorischen Figuren wie Metapher und Zitat ist keine Rede. So stehen die Mutterhöhlen Maltas neben der begehbaren Nana der Niki de St. Phalle, die prähistorischen Steinmale neben Christos Luftpaket, als seien es Schöpfungen von gleicher existentieller Aussagekraft.

Auf der Habenseite dieser Bilanz schlägt neben vielen Detailbeobachtungen die Selbstverständlichkeit zu Buche, mit der Feuerstein auf die Sprachfähigkeit von Architektur setzt. Sexuelle Determination und die archetypischen Vorstellungen, die sie beschwört, ist nur eine von vielen denkbaren Botschaften. Aber Botschaft, lesbar oder verschlüsselt, ist allemal mehr als abweisendes Schweigen. Dankbar quittiert man auch den Hinweis, daß Sinnlichkeit sich nicht allein aus einschlägiger Symbolik oder Metaphorik ergibt, sondern auf die Erfahrung von Materie und Oberfläche, von Licht und Klang, Geruch und Tastwerten angewiesen ist. Theoretisch weiß es jeder. In der Praxis handeln nur die wenigsten Bauherren und Architekten danach.

Feuerstein hat in der neueren Architekturgeschichtsschreibung und -produktion, der Wiener zumal, eine sehr anregende Rolle gespielt. Daß er sein Beispielmaterial trocken hält, mutet wie eine Schutzmaßnahme des Autors vor der Flut seiner Assoziationen an. Die Schwemme der Bilder lenkt er in die Kanäle einer geradezu pedantischen Katalogisierung. So unordentlich es in den Künsten zugeht, so ordentlich handelt ihr Archivar. Sorgfältig numeriert wird die Architektur der weiblichen primären äußeren Geschlechtsmerkmale (Kapitel 7.5.1) von jener der weiblichen inneren Geschlechtsmerkmale (Kapitel 7.5.2) geschieden, diese von der Architektur der weiblichen sekundären Geschlechtsmerkmale (Kapitel 7.5.3) und so fort. Auch die mehreren hundert Abbildungen dürfen nur wenig sinnlichen Reiz entfalten. Meist sind sie als eine Art visueller Anmerkungen in die Randspalten des Buches verwiesen.

Aus einem außerordentlich faszinierenden Material, das seinen élan vital in Leselust übertragen könnte, ist ein außerordentlich nüchternes Buch entstanden. Ordentlichkeit und Pedanterie als Abwehrmechanismen: Steht das nicht auch bei Freud? WOLFGANG PEHNT

Günther Feuerstein: "Androgynos. Das Mann-Weibliche in Kunst und Architektur". Edition Axel Menges, Stuttgart 1997. 240 Seiten, Abb., geb., 128,- DM.

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