In seinem neuen Buch rekonstruiert Axel Honneth die Idee der Anerkennung in der Vielfalt der Bedeutungen, die sie seit Beginn der Moderne in Europa angenommen hat. Mit Blick auf drei wirkmächtige europäische Denktraditionen - die französische, die britische und die deutsche - zeichnet er nach, wie sie aufgrund unterschiedlicher politisch-sozialer Herausforderungen jeweils ganz verschiedene philosophische Interpretationen und gesellschaftspolitische Ausprägungen erfahren hat.
Während in Frankreich mit reconnaissance die Gefahr des individuellen Selbstverlustes assoziiert wird, gilt der Prozess der recognition in Großbritannien als Bedingung der normativen Selbstkontrolle; und hierzulande meint Anerkennung auch die Vollzugsform allen wahren Respekts unter Menschen. Erstaunlich ist, dass keine dieser drei Bedeutungen, deren Wurzeln bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen, in der Gegenwart an Einfluss verloren hat. Ob sie sich heute eher ergänzen oder gegenseitig im Weg stehen, zeigt diese Studie, die auch einen Beitrag zur Klärung unseres aktuellen politisch-kulturellen Selbstverständnisses leistet.
Während in Frankreich mit reconnaissance die Gefahr des individuellen Selbstverlustes assoziiert wird, gilt der Prozess der recognition in Großbritannien als Bedingung der normativen Selbstkontrolle; und hierzulande meint Anerkennung auch die Vollzugsform allen wahren Respekts unter Menschen. Erstaunlich ist, dass keine dieser drei Bedeutungen, deren Wurzeln bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen, in der Gegenwart an Einfluss verloren hat. Ob sie sich heute eher ergänzen oder gegenseitig im Weg stehen, zeigt diese Studie, die auch einen Beitrag zur Klärung unseres aktuellen politisch-kulturellen Selbstverständnisses leistet.
Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Europäische Wege, Missachtung zu vermeiden, erkennt Eckart Goebel mit diesem Buch von Axel Honneth. Ein Exemplar des Buches würde Goebel schon aus diesem Grund gerne nach Brüssel schicken. Wenn der Autor seiner Beschäftigung mit dem steten Kampf um Anerkennung hier eine neue Wendung gibt, wie Goebel anmerkt, so wird für den Leser deutlich, dass das "Design" von Anerkennung je nach nationalem Kontext variiert. Der "elegante" wie "respektvolle" Vergleich zwischen Deutschland, England und Frankreich in dieser Hinsicht ergibt laut Rezensent erstens, dass England eine positive, Frankreich eine negative und Deutschland eine komplizierte Theorie der Anerkennung pflegen, und zweitens, dass ein realitätstaugliches Konzept von Anerkennung ein integratives sein müsste, ein europäisches eben.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.08.2018Dem Urteil anderer sind wir immer unterworfen
Axel Honneth untersucht die Herkunft seines sozialphilosophischen Grundbegriffs der Anerkennung auf nationalkulturelle Eigenheiten
Der in Frankfurt und seit einigen Jahren auch in New York lehrende Philosoph Axel Honneth hat 1992 in seinem wohl bekanntesten Buch, "Der Kampf um Anerkennung" die Auffassung entwickelt, dass Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen nicht allein Verteilungskonflikte um Güter und Chancen sind. Sozialer Wandel betrifft immer auch das wechselseitige moralische Verhältnis der Menschen zueinander. Die fundamentale Interaktion zwischen den Subjekten, die Gesellschaft erst möglich macht, ist demnach die gegenseitige Zuerkennung von Mitsprache darüber, welche Normen gelten sollen: zwischen Bürgern eines Staates ebenso wie zwischen Teilnehmern eines Marktes.
Warum nämlich können Menschen nicht bloß für sich frei sein, sondern nur in der Abhängigkeit von der Beurteilung anderer, ebenso freier Menschen? Weil erst die Selbstbeschränkung der eigenen Willkür zugunsten eines anderen dazu führt, dass die eigene Freiheit im anderen eine konkrete Gestalt gewinnt: Die Freiheit zweier Liebender zum Beispiel und ihre gegenseitige Rücksichtnahme sind nur Anschauungsweisen ein und desselben Tatbestandes. Nicht anders ist auch politische und soziale Freiheit nur innerhalb vernünftiger Anerkennungsverhältnisse zu denken. Anerkennung ist also das Bewusstsein reziproker Abhängigkeit.
Honneths Theorie entstammt einer bestimmten Tradition des Deutschen Idealismus, namentlich der Philosophie Fichtes und Hegels. Entspricht sie deshalb aber auch einem bestimmten, nämlich deutschen Gesellschaftsmodell? Sind seine Prämissen vielleicht gar nicht zu verallgemeinern? So lautet die Frage, die sich Honneth in seinem neuen, ausgesprochen gut zu lesenden Buch vorgenommen hat. Nach Honneth hat der Grundgedanke der reziproken Abhängigkeit menschlicher Freiheit in der europäischen Philosophie drei selbständige Ausdeutungen erfahren: Eine französische Tradition, die Honneth vom siebzehnten Jahrhundert über Jean-Jacques Rousseau bis zur Geschlechtertheorie Judith Butlers verfolgt, macht vor allem die Verlustrechnung der Anerkennung auf: Weil die Menschen aus Selbstliebe nach der Anerkennung durch andere streben, verlieren sie ihr freies Selbst und werden zu Getriebenen des fremden Blicks, der öffentlichen Meinung, der sozialen Normen.
Ganz anders die vorherrschende Auffassung in der englischsprachigen Moralphilosophie: Hier hatten schon David Hume und Adam Smith die Vorstellung entwickelt, dass die normative Beurteilung des eigenen Freiheitsgebrauchs durch andere eine funktionierende Gesellschaft überhaupt erst ermöglicht. Man nimmt die Urteile der anderen wie die eines fiktiven Richters in sich auf. Diese Internalisierung ist sozial höchst nützlich: Wenn alle Mitglieder einer Gesellschaft sich gegenseitig und deshalb selbst immerzu am Maßstab geteilter sozialer Normen messen, machen sie von ihrer Freiheit weniger egoistischen Gebrauch.
Warum aber haben die drei Nationalkulturen sich auf die Stellung des anerkennungsbedürftigen Menschen in der modernen Gesellschaft einen so unterschiedlichen Reim gemacht? Warum sahen französische Sozialphilosophen in der öffentlichen Meinung vornehmlich eine Gefahr für gelingende soziale Ordnung, in England hingegen gerade eine Voraussetzung, während es in Deutschland um 1800 möglich wurde, Intersubjektivität als eine der Gesellschaft vorausliegende Konsequenz menschlicher Freiheit zu denken?
Die Erklärungen, die Honneth hier anbietet, sind die üblichen: Frankreich war seit Beginn der Neuzeit zentralistisch verwaltet, der "soziale Konflikt um symbolische Distinktionen" hatte deswegen ungleich schärfere Konsequenzen. Der soziologische Grund für die Hochschätzung der Anerkennungsbeziehungen in der englischsprachigen Philosophie war nach Honneth die vergleichsweise frühe "Ausweitung kapitalistischer Mentalitäten". Gegenüber "Selbstsucht, Profitgier und sozialer Rücksichtslosigkeit" etabliert die erlernte freie Unterwerfung unter das Urteil anderer den Common Sense einer liberalen Bürgergesellschaft.
Und Deutschland? Honneth benennt bekannte sozialgeschichtliche Sachverhalte, macht sich aber nicht die Mühe zu erklären, wie genau sie mit der idealistischen Sozialontologie zusammenhängen: Der Zentralstaat und die starke Marktgesellschaft fehlten in Deutschland. Die Kleinstaaterei des Alten Reichs blieb lange stabil, das Bürgertum war politisch schwach, gab aber kulturell den Ton an.
Ist damit gemeint, dass die idealistische Anerkennungstheorie die notwendige moderne Radikalisierung des Problems menschlicher Sozialität in einer Gesellschaft war, in der sowohl die administrative wie die kapitalistische Variante der Gesellschaftsbildung nicht zu funktionieren schienen?
Bevor man auf solch abstrakte Fragen eine Antwort zu formulieren sucht, ließe sich Honneths Hypothese von der Herausbildung dreier nationaler Kulturen der sozialen Gegenseitigkeit vielleicht anders validieren. Dazu böte sich ein Feld an, das nationalen Besonderheiten stark verhaftet ist, nämlich das Recht. Dessen entscheidende Rolle für die Vorstellung von Gegenseitigkeit demonstriert Honneth an vielen Stellen, etwa in Humes Konzept der Internalisierung der Beobachtung in der Figur eines fiktiven Richters oder in Kants berühmter Bemerkung, die Achtung für eine andere Person sei eigentlich nur Achtung für das Gesetz.
Die täglich praktizierte juristische Form der Gegenseitigkeit ist nämlich der Vertrag. Ihn hat man in der Epoche, die Honneth interessiert, höchst unterschiedlich verstanden. So spielt, um nur ein Beispiel zu nennen, die für das kontinentale Rechtsdenken so wichtige Unterscheidung von Gesetz und Vertrag im englischen Recht keine große Rolle, schon weil es kein kodifiziertes Zivilrecht gibt. Die dahinterstehende Überlegung, dass soziale Anerkennungsverhältnisse in erster Linie durch Recht verwirklicht werden, verdanken wir für die Gegenwart freilich nicht zuletzt Axel Honneth.
FLORIAN MEINEL
Axel Honneth:
"Anerkenung".
Eine europäische
Ideengeschichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 237 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Axel Honneth untersucht die Herkunft seines sozialphilosophischen Grundbegriffs der Anerkennung auf nationalkulturelle Eigenheiten
Der in Frankfurt und seit einigen Jahren auch in New York lehrende Philosoph Axel Honneth hat 1992 in seinem wohl bekanntesten Buch, "Der Kampf um Anerkennung" die Auffassung entwickelt, dass Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen nicht allein Verteilungskonflikte um Güter und Chancen sind. Sozialer Wandel betrifft immer auch das wechselseitige moralische Verhältnis der Menschen zueinander. Die fundamentale Interaktion zwischen den Subjekten, die Gesellschaft erst möglich macht, ist demnach die gegenseitige Zuerkennung von Mitsprache darüber, welche Normen gelten sollen: zwischen Bürgern eines Staates ebenso wie zwischen Teilnehmern eines Marktes.
Warum nämlich können Menschen nicht bloß für sich frei sein, sondern nur in der Abhängigkeit von der Beurteilung anderer, ebenso freier Menschen? Weil erst die Selbstbeschränkung der eigenen Willkür zugunsten eines anderen dazu führt, dass die eigene Freiheit im anderen eine konkrete Gestalt gewinnt: Die Freiheit zweier Liebender zum Beispiel und ihre gegenseitige Rücksichtnahme sind nur Anschauungsweisen ein und desselben Tatbestandes. Nicht anders ist auch politische und soziale Freiheit nur innerhalb vernünftiger Anerkennungsverhältnisse zu denken. Anerkennung ist also das Bewusstsein reziproker Abhängigkeit.
Honneths Theorie entstammt einer bestimmten Tradition des Deutschen Idealismus, namentlich der Philosophie Fichtes und Hegels. Entspricht sie deshalb aber auch einem bestimmten, nämlich deutschen Gesellschaftsmodell? Sind seine Prämissen vielleicht gar nicht zu verallgemeinern? So lautet die Frage, die sich Honneth in seinem neuen, ausgesprochen gut zu lesenden Buch vorgenommen hat. Nach Honneth hat der Grundgedanke der reziproken Abhängigkeit menschlicher Freiheit in der europäischen Philosophie drei selbständige Ausdeutungen erfahren: Eine französische Tradition, die Honneth vom siebzehnten Jahrhundert über Jean-Jacques Rousseau bis zur Geschlechtertheorie Judith Butlers verfolgt, macht vor allem die Verlustrechnung der Anerkennung auf: Weil die Menschen aus Selbstliebe nach der Anerkennung durch andere streben, verlieren sie ihr freies Selbst und werden zu Getriebenen des fremden Blicks, der öffentlichen Meinung, der sozialen Normen.
Ganz anders die vorherrschende Auffassung in der englischsprachigen Moralphilosophie: Hier hatten schon David Hume und Adam Smith die Vorstellung entwickelt, dass die normative Beurteilung des eigenen Freiheitsgebrauchs durch andere eine funktionierende Gesellschaft überhaupt erst ermöglicht. Man nimmt die Urteile der anderen wie die eines fiktiven Richters in sich auf. Diese Internalisierung ist sozial höchst nützlich: Wenn alle Mitglieder einer Gesellschaft sich gegenseitig und deshalb selbst immerzu am Maßstab geteilter sozialer Normen messen, machen sie von ihrer Freiheit weniger egoistischen Gebrauch.
Warum aber haben die drei Nationalkulturen sich auf die Stellung des anerkennungsbedürftigen Menschen in der modernen Gesellschaft einen so unterschiedlichen Reim gemacht? Warum sahen französische Sozialphilosophen in der öffentlichen Meinung vornehmlich eine Gefahr für gelingende soziale Ordnung, in England hingegen gerade eine Voraussetzung, während es in Deutschland um 1800 möglich wurde, Intersubjektivität als eine der Gesellschaft vorausliegende Konsequenz menschlicher Freiheit zu denken?
Die Erklärungen, die Honneth hier anbietet, sind die üblichen: Frankreich war seit Beginn der Neuzeit zentralistisch verwaltet, der "soziale Konflikt um symbolische Distinktionen" hatte deswegen ungleich schärfere Konsequenzen. Der soziologische Grund für die Hochschätzung der Anerkennungsbeziehungen in der englischsprachigen Philosophie war nach Honneth die vergleichsweise frühe "Ausweitung kapitalistischer Mentalitäten". Gegenüber "Selbstsucht, Profitgier und sozialer Rücksichtslosigkeit" etabliert die erlernte freie Unterwerfung unter das Urteil anderer den Common Sense einer liberalen Bürgergesellschaft.
Und Deutschland? Honneth benennt bekannte sozialgeschichtliche Sachverhalte, macht sich aber nicht die Mühe zu erklären, wie genau sie mit der idealistischen Sozialontologie zusammenhängen: Der Zentralstaat und die starke Marktgesellschaft fehlten in Deutschland. Die Kleinstaaterei des Alten Reichs blieb lange stabil, das Bürgertum war politisch schwach, gab aber kulturell den Ton an.
Ist damit gemeint, dass die idealistische Anerkennungstheorie die notwendige moderne Radikalisierung des Problems menschlicher Sozialität in einer Gesellschaft war, in der sowohl die administrative wie die kapitalistische Variante der Gesellschaftsbildung nicht zu funktionieren schienen?
Bevor man auf solch abstrakte Fragen eine Antwort zu formulieren sucht, ließe sich Honneths Hypothese von der Herausbildung dreier nationaler Kulturen der sozialen Gegenseitigkeit vielleicht anders validieren. Dazu böte sich ein Feld an, das nationalen Besonderheiten stark verhaftet ist, nämlich das Recht. Dessen entscheidende Rolle für die Vorstellung von Gegenseitigkeit demonstriert Honneth an vielen Stellen, etwa in Humes Konzept der Internalisierung der Beobachtung in der Figur eines fiktiven Richters oder in Kants berühmter Bemerkung, die Achtung für eine andere Person sei eigentlich nur Achtung für das Gesetz.
Die täglich praktizierte juristische Form der Gegenseitigkeit ist nämlich der Vertrag. Ihn hat man in der Epoche, die Honneth interessiert, höchst unterschiedlich verstanden. So spielt, um nur ein Beispiel zu nennen, die für das kontinentale Rechtsdenken so wichtige Unterscheidung von Gesetz und Vertrag im englischen Recht keine große Rolle, schon weil es kein kodifiziertes Zivilrecht gibt. Die dahinterstehende Überlegung, dass soziale Anerkennungsverhältnisse in erster Linie durch Recht verwirklicht werden, verdanken wir für die Gegenwart freilich nicht zuletzt Axel Honneth.
FLORIAN MEINEL
Axel Honneth:
"Anerkenung".
Eine europäische
Ideengeschichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 237 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Dem rhetorischen Charakter des Bands ... verdankt sich, dass das flüssig geschriebene Werk auch für Nichtphilosophen gewinnbringend zu lesen ist.« Ingo Arend taz. die tageszeitung 20180818