Die «Lebensbilanz» der Literatur-Nobelpreisträgerin - und eine große Geschichte über Schuld und Schulden.
Ein steuerliches Ermittlungsverfahren, das zwar inzwischen längst eingestellt wurde, das aber selbst intimste E-Mails auswertete, wird für Elfriede Jelinek zum Anlass, auf ihre «Lebenslaufbahn» zurückzublicken Erstmals erzählt sie literarisch die Geschichte des jüdischen Teils ihrer Familie. In die persönlichen amtlichen Angaben schieben sich Berichte über das Schicksal von Verwandten, die während der Nazizeit aus Österreich fliehen mussten, die deportiert und ermordet wurden. Zugleich führt der private Finanzfall auch zum Nachdenken über globale Kapitalströme. Wie sehr profitieren Staaten bis heute von enteignetem jüdischem Vermögen? Wie viele NS-Größen wurden umgekehrt nach 1945 anstandslos entschädigt? Und was sind aktuelle Steuersparmodelle oder handfeste Betrugsskandale, von Cum-ex-Geschäften bis zu Wirecard?
So autobiografisch wie allgemeingültig, so sarkastisch wie wütend rechnet Jelinek in Angabe der Person nicht nur mit sich, sondern auch mit einer Gesellschaft ab, die sich eher für die Täter als für ihre Opfer interessiert - und verfolgt die weit verzweigten Wege des Geldes als eines der größten Geheimnisse in der modernen Wirtschaft.
Ein steuerliches Ermittlungsverfahren, das zwar inzwischen längst eingestellt wurde, das aber selbst intimste E-Mails auswertete, wird für Elfriede Jelinek zum Anlass, auf ihre «Lebenslaufbahn» zurückzublicken Erstmals erzählt sie literarisch die Geschichte des jüdischen Teils ihrer Familie. In die persönlichen amtlichen Angaben schieben sich Berichte über das Schicksal von Verwandten, die während der Nazizeit aus Österreich fliehen mussten, die deportiert und ermordet wurden. Zugleich führt der private Finanzfall auch zum Nachdenken über globale Kapitalströme. Wie sehr profitieren Staaten bis heute von enteignetem jüdischem Vermögen? Wie viele NS-Größen wurden umgekehrt nach 1945 anstandslos entschädigt? Und was sind aktuelle Steuersparmodelle oder handfeste Betrugsskandale, von Cum-ex-Geschäften bis zu Wirecard?
So autobiografisch wie allgemeingültig, so sarkastisch wie wütend rechnet Jelinek in Angabe der Person nicht nur mit sich, sondern auch mit einer Gesellschaft ab, die sich eher für die Täter als für ihre Opfer interessiert - und verfolgt die weit verzweigten Wege des Geldes als eines der größten Geheimnisse in der modernen Wirtschaft.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wie Lerke von Saalfeld die sprachliche Qualität der Philippika von Elfriede Jelinek einschätzt, bleibt in ihrer Rezension ein wenig im Unklaren. Mit vielen Zitaten umrandet sie Jelineks Monolog, der es bereits auf eine Theaterbühne geschafft hat. Die Frage der Österreicherin nach ihrem "Ich" anlässlich einer Steuerprüfung, erinnert von Saalfeld an die Rede, die Jelinek zur Verleihung des Literaturnobelpreises 2004 hielt und ihren Zwiespalt zwischen Aggression und Verletzlichkeit über die Welt zwischen den Polen Wirtschaft und Geschichte offenbart habe. Weit wichtiger für diesen Text ist für die Rezenzentin der Umstand, dass Jelineks Mann im September dieses Jahres gestorben ist. So gelesen, könnte von Saalfelds Rezension verstanden werden, ist Jelineks aktuelle Veröffentlichung eine weitere, schmerzliche Trauerarbeit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.12.2022Hauptsache, Geld wälzt sich nicht herum
Elfriede Jelineks atemloser literarischer Monolog über die deutsche Steuerfahndung
"Ist Schreiben die Gabe der Schmiegsamkeit, der Anschmiegsamkeit an die Wirklichkeit? Man möchte sich ja gerne anschmiegen, aber was geschieht da mit mir? Was geschieht mit denen, die die Wirklichkeit gar nicht wirklich kennen? Die ist ja so zerzaust. Kein Kamm, der sie glätten kann." Mit diesen Worten eröffnete Elfriede Jelinek im Herbst 2004 ihre Rede zur Verleihung des Literaturnobelpreises, an der sie aus Krankheitsgründen nicht teilnehmen konnte, "Angststörung", so ihre Selbstdiagnose.
"Anschmiegsam" und "zerzaust" - in dieser Dichotomie bewegt sich auch der neue Text der österreichischen Schriftstellerin: "Angabe der Person", direkt nach Publikation auch schon für die Bühne adaptiert (F.A.Z. vom 19. Dezember). Der Anlass für das Buch war zunächst banal: Vor einigen Jahren wurde bei Jelinek eine Steuerprüfung durchgeführt, weil sie sowohl in ihrer Heimatstadt Wien als auch in München lebt, wo ihr Mann, der Informatiker Gottfried Hüngsberg, wohnte, mit dem sie seit 1974 verheiratet war. Anfang September 2022 ist Hüngsberg gestorben. Diese Nachricht liegt wie ein bleierner Schatten über dem zuvor geschriebenen Text - für den Leser wie wohl auch für die Schriftstellerin eine unerwartete, fast unerträgliche Hypothek.
Das Finanzamt München hatte Jelinek angezeigt, weil sie auch in Deutschland Steuern zu bezahlen hätte. Das Verfahren ist längst eingestellt, aber es rumort weiterhin mächtig in der Autorin, denn hier ist ihr etwas Ungeheuerliches widerfahren. Die Ermittlungsbeamten hatten ihr gesamtes Schriftwerk abtransportiert: Manuskripte, Festplatte, private E-Mails, Briefe. "Das ist das Schlimmste für mich. Daß sie alles Geschriebene von mir haben. Damit kann ich nicht leben, deshalb schreibe ich es hier, ich schreibe auf, was mein Leben ist, und dann schmeiße ich es weg." Jelinek begehrt auf, erhebt Anklagen in einem fast zweihundertseitigen Monolog, wie in einem Selbstgespräch, in dem alle, die in diese Infamie verwickelt waren, zur Rechenschaft gezogen werden sollen - auch historisch.
Gleich auf der zweiten Seite schlägt Jelinek jenen Ton an, der sie in Erregung und Aufregung versetzt. Gegenwart und Vergangenheit begegnen sich fatal: "Wollen Sie etwa behaupten, Sie wurden verfolgt? Nein. Ich beklage mich ständig, aber nein, verfolgt wurde ich nicht. Verfolgt wurden andere. Ihr Gold ruht sanft in den Tresoren, mein Schatzl, hast du was Schriftliches?, nein, Hauptsache das Geld ruht gut und sicher und wälzt sich in der Nacht nicht schlaflos herum . . . Mein Opa war Buchbindergehilfe, woher hätte er es nehmen sollen und nicht stehlen? Der wurde ja selbst deponiert, in einer geheimen Wohnung, mit anderen zusammen, mein mittelloser Opa im Versteck mit anderen, mein Opa war ein Jammerer, unaufhörliches Geseire, hierhin wollte er nicht, dorthin wollte er nicht, in ein sicheres Drittland wollte er nicht, es hat sich ihm auch keins angeboten, ins KZ wollte er auch nicht, er war halt wählerisch, nirgendwohin wollte er, nur bleiben, wo er war, aber das ging nicht."
Beklemmend und düster verknüpft Jelinek die Härte des Finanzkapitals mit Unbarmherzigkeit oder Großzügigkeit der Steuerbehörden, je nachdem, wer vor ihren Schranken steht. Sie zählt minutiös auf, wo der heutige Steuerbetrüger sein Geld auf tropischen Inseln, in Scheinfirmen, in Briefkästen und sonst wo unterbringen kann. Geld ist ein Geisterspiel, auf dessen Klaviatur Schlaumeier virtuos zu spielen verstehen und im Hintergrund willfährige Helfer haben. Vielen ist Jelinek auf der Spur: einem Boris Becker, dem Fußballkaiser Franz Beckenbauer, einem Schraubenkönig, Cum und Ex und dem ehemaligen Kunsthändler Cornelius Gurlitt. Auch die Miturheber dieser Situation bekommen ihr Fett weg, zum Beispiel der Reichsjugendführer der NSDAP Baldur von Schirach, der Reichsstatthalter von Wien wurde und im Februar 1945 von Hitler den Befehl erhielt, die Stadt Wien bis zum Letzten zu verteidigen.
Die Welt sei voll von Schweinereien, kleinen und großen, damals wie heute, so Jelinek. Aber die unschuldigen Toten, die bleiben, können sich nicht mehr wehren, und wenn sie geehrt werden, dann sei es eine peinliche Pflichtübung, nach der man getrost nach Hause gehen kann. Und dann gibt es noch die Flüchtlinge, die auch keiner mag, die in Dreck und Kot versinken und vegetieren müssen, aber die Welt schaut ungerührt zu, auch wenn sie im Mittelmeer ersaufen. Jelinek lässt nichts aus. Sie disputiert wie in Trance, atemlos, schrill und dann wieder ganz zart. Sie stellt Behauptungen auf, widerspricht sich, fällt sich ins eigene Wort, nimmt alles zurück, denn es könnte ja auch alles ganz anders sein. Sarkasmus und Ironie sind ihre Leitformen.
Um es aushalten zu können, musste Elfriede Jelinek Bilanz ziehen. Aber man glaube nur nicht, dass man nun Gewissheit hätte, denn die Autorin fragt sich selbstkritisch (vielleicht auch ein wenig kokett): "Ich bin ich? Wer sagt das bitte? Ich bin keine andre, doch ich auch wieder nicht, mehr als eine andre bin ich nicht, ich kann nichts dafür, mehr Ich wäre schon fein, dann könnte ich mich mit meiner Armee, für die mein Ich mühelos reichen würde, dem Lauf der Geschichte entgegenstemmen oder zumindest einen kleinen Damm gegen sie errichten, es wird sich schon herausstellen, wofür oder wogegen ich dann wäre. Ich warte noch ab." LERKE VON SAALFELD
Elfriede Jelinek: "Angabe der Person".
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022. 189 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Elfriede Jelineks atemloser literarischer Monolog über die deutsche Steuerfahndung
"Ist Schreiben die Gabe der Schmiegsamkeit, der Anschmiegsamkeit an die Wirklichkeit? Man möchte sich ja gerne anschmiegen, aber was geschieht da mit mir? Was geschieht mit denen, die die Wirklichkeit gar nicht wirklich kennen? Die ist ja so zerzaust. Kein Kamm, der sie glätten kann." Mit diesen Worten eröffnete Elfriede Jelinek im Herbst 2004 ihre Rede zur Verleihung des Literaturnobelpreises, an der sie aus Krankheitsgründen nicht teilnehmen konnte, "Angststörung", so ihre Selbstdiagnose.
"Anschmiegsam" und "zerzaust" - in dieser Dichotomie bewegt sich auch der neue Text der österreichischen Schriftstellerin: "Angabe der Person", direkt nach Publikation auch schon für die Bühne adaptiert (F.A.Z. vom 19. Dezember). Der Anlass für das Buch war zunächst banal: Vor einigen Jahren wurde bei Jelinek eine Steuerprüfung durchgeführt, weil sie sowohl in ihrer Heimatstadt Wien als auch in München lebt, wo ihr Mann, der Informatiker Gottfried Hüngsberg, wohnte, mit dem sie seit 1974 verheiratet war. Anfang September 2022 ist Hüngsberg gestorben. Diese Nachricht liegt wie ein bleierner Schatten über dem zuvor geschriebenen Text - für den Leser wie wohl auch für die Schriftstellerin eine unerwartete, fast unerträgliche Hypothek.
Das Finanzamt München hatte Jelinek angezeigt, weil sie auch in Deutschland Steuern zu bezahlen hätte. Das Verfahren ist längst eingestellt, aber es rumort weiterhin mächtig in der Autorin, denn hier ist ihr etwas Ungeheuerliches widerfahren. Die Ermittlungsbeamten hatten ihr gesamtes Schriftwerk abtransportiert: Manuskripte, Festplatte, private E-Mails, Briefe. "Das ist das Schlimmste für mich. Daß sie alles Geschriebene von mir haben. Damit kann ich nicht leben, deshalb schreibe ich es hier, ich schreibe auf, was mein Leben ist, und dann schmeiße ich es weg." Jelinek begehrt auf, erhebt Anklagen in einem fast zweihundertseitigen Monolog, wie in einem Selbstgespräch, in dem alle, die in diese Infamie verwickelt waren, zur Rechenschaft gezogen werden sollen - auch historisch.
Gleich auf der zweiten Seite schlägt Jelinek jenen Ton an, der sie in Erregung und Aufregung versetzt. Gegenwart und Vergangenheit begegnen sich fatal: "Wollen Sie etwa behaupten, Sie wurden verfolgt? Nein. Ich beklage mich ständig, aber nein, verfolgt wurde ich nicht. Verfolgt wurden andere. Ihr Gold ruht sanft in den Tresoren, mein Schatzl, hast du was Schriftliches?, nein, Hauptsache das Geld ruht gut und sicher und wälzt sich in der Nacht nicht schlaflos herum . . . Mein Opa war Buchbindergehilfe, woher hätte er es nehmen sollen und nicht stehlen? Der wurde ja selbst deponiert, in einer geheimen Wohnung, mit anderen zusammen, mein mittelloser Opa im Versteck mit anderen, mein Opa war ein Jammerer, unaufhörliches Geseire, hierhin wollte er nicht, dorthin wollte er nicht, in ein sicheres Drittland wollte er nicht, es hat sich ihm auch keins angeboten, ins KZ wollte er auch nicht, er war halt wählerisch, nirgendwohin wollte er, nur bleiben, wo er war, aber das ging nicht."
Beklemmend und düster verknüpft Jelinek die Härte des Finanzkapitals mit Unbarmherzigkeit oder Großzügigkeit der Steuerbehörden, je nachdem, wer vor ihren Schranken steht. Sie zählt minutiös auf, wo der heutige Steuerbetrüger sein Geld auf tropischen Inseln, in Scheinfirmen, in Briefkästen und sonst wo unterbringen kann. Geld ist ein Geisterspiel, auf dessen Klaviatur Schlaumeier virtuos zu spielen verstehen und im Hintergrund willfährige Helfer haben. Vielen ist Jelinek auf der Spur: einem Boris Becker, dem Fußballkaiser Franz Beckenbauer, einem Schraubenkönig, Cum und Ex und dem ehemaligen Kunsthändler Cornelius Gurlitt. Auch die Miturheber dieser Situation bekommen ihr Fett weg, zum Beispiel der Reichsjugendführer der NSDAP Baldur von Schirach, der Reichsstatthalter von Wien wurde und im Februar 1945 von Hitler den Befehl erhielt, die Stadt Wien bis zum Letzten zu verteidigen.
Die Welt sei voll von Schweinereien, kleinen und großen, damals wie heute, so Jelinek. Aber die unschuldigen Toten, die bleiben, können sich nicht mehr wehren, und wenn sie geehrt werden, dann sei es eine peinliche Pflichtübung, nach der man getrost nach Hause gehen kann. Und dann gibt es noch die Flüchtlinge, die auch keiner mag, die in Dreck und Kot versinken und vegetieren müssen, aber die Welt schaut ungerührt zu, auch wenn sie im Mittelmeer ersaufen. Jelinek lässt nichts aus. Sie disputiert wie in Trance, atemlos, schrill und dann wieder ganz zart. Sie stellt Behauptungen auf, widerspricht sich, fällt sich ins eigene Wort, nimmt alles zurück, denn es könnte ja auch alles ganz anders sein. Sarkasmus und Ironie sind ihre Leitformen.
Um es aushalten zu können, musste Elfriede Jelinek Bilanz ziehen. Aber man glaube nur nicht, dass man nun Gewissheit hätte, denn die Autorin fragt sich selbstkritisch (vielleicht auch ein wenig kokett): "Ich bin ich? Wer sagt das bitte? Ich bin keine andre, doch ich auch wieder nicht, mehr als eine andre bin ich nicht, ich kann nichts dafür, mehr Ich wäre schon fein, dann könnte ich mich mit meiner Armee, für die mein Ich mühelos reichen würde, dem Lauf der Geschichte entgegenstemmen oder zumindest einen kleinen Damm gegen sie errichten, es wird sich schon herausstellen, wofür oder wogegen ich dann wäre. Ich warte noch ab." LERKE VON SAALFELD
Elfriede Jelinek: "Angabe der Person".
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022. 189 S., geb., 24,- Euro.
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Vielleicht der zugänglichste, menschlichste Jelinek-Text der letzten Jahre ... brillant, humorvoll und scharfsinnig. Martin Pesl nachtkritik.de 20221116
Rezensentin Elke Schmitter würde - auch wenn ihre Kritik in der Zeit-Beilage mit Literaturempfehlungen zu Weihnachten erscheint - Elfriede Jelineks neueste Suada wohl niemandem unter den Christbaum legen. Längst hat sich die Nobelpreisträgerin von der klassischen Erzählung verabschiedet, stattdessen schafft sie "Textoberflächen", konstatiert die Kritikerin, ganz dankbar, dass ihr zumindest der Klappentext verrät, worum es hier eigentlich geht: Das deutsche Finanzamt hatte ein steuerliches Ermittlungsverfahren gegen die österreichische Autorin eingeleitet, dabei auch private Dokumente durchwühlt - Anlass genug für die Jelinek, auf ihr Leben zurückzublicken. Mit viel Tempo und wenig Überblick verhandelt sie Themen wie Covid, den Fall Boris Becker und den Fall Flick, Geldwäsche und "Heideggersche Heimatseligkeit", Vergewaltigungen und den Tannhäuser - und nicht zuletzt den jüdischen Großvater. Nach so viel "verwirrter Trostlosigkeit" ist die Kritikerin ganz schön erschöpft, immerhin erfährt sie ein paar biografische Details über Jelinek.
© Perlentaucher Medien GmbH
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