"Erst wenn schließlich auch die Werbeblöcke gestrichen werden," so eine zuverlässige Faustregel, "ist die Sache wirklich ernst." Eine weltmachterschütternde Kamikaze-Aktion oder wenigstens ein rekordverdächtiger Amoklauf vor der eigenen Haustür - es muß knüppeldick kommen, um die tägliche Infotainment-Maschinerie aus dem Takt zu bringen. "Das System, in dem wir leben", ist auf den ersten Blick mehr ein mediales als ein politisch-ökonomisches. Auf den zweiten Blick ist beides identisch.
In "Angela Davis löscht ihre Website" verbinden sich politisches Denken und Pop, der forcierte Blick auf die Gegenwarts-Oberfläche und dessen ständige Infragestellung vor dem Hintergrund der Historie auf. "Vortäuschung falscher Tatsachen", so die Frage, "oder Vortäuschung richtiger Tatsachen?" Schwer zu durchschauen - gerade angesichts von Gewalt und kriegerischer Auseinandersetzung und ihren jeweiligen Rechtfertigungen -, was Realität ist, was Medienrealität, was auslösende Gewalt, was angeblich gerechte "Vergeltung der Vergeltung der Vergeltung".
"Gibt es die neue Weltordnung schon?" In "Angela Davis löscht ihre Website" geht es um nichts Geringeres als um "das Zeitalter, in dem wir leben/ die Epoche, in der wir leben", in der Gegensätze und Haltungen mitunter ununterscheidbar geworden sind; Veronas Welt und Sofies Welt stehen ebenso selbstverständlich nebeneinander wie MTV und CNN. "Kriegsfilm?/ Antikriegsfilm?/ Kriegsberichterstattung?" heißt es wiederholt aus dem Off, denn es gilt die unmißverständliche Losung: "seit 5 Uhr 45 wird zurückgefragt."
In "Angela Davis löscht ihre Website" verbinden sich politisches Denken und Pop, der forcierte Blick auf die Gegenwarts-Oberfläche und dessen ständige Infragestellung vor dem Hintergrund der Historie auf. "Vortäuschung falscher Tatsachen", so die Frage, "oder Vortäuschung richtiger Tatsachen?" Schwer zu durchschauen - gerade angesichts von Gewalt und kriegerischer Auseinandersetzung und ihren jeweiligen Rechtfertigungen -, was Realität ist, was Medienrealität, was auslösende Gewalt, was angeblich gerechte "Vergeltung der Vergeltung der Vergeltung".
"Gibt es die neue Weltordnung schon?" In "Angela Davis löscht ihre Website" geht es um nichts Geringeres als um "das Zeitalter, in dem wir leben/ die Epoche, in der wir leben", in der Gegensätze und Haltungen mitunter ununterscheidbar geworden sind; Veronas Welt und Sofies Welt stehen ebenso selbstverständlich nebeneinander wie MTV und CNN. "Kriegsfilm?/ Antikriegsfilm?/ Kriegsberichterstattung?" heißt es wiederholt aus dem Off, denn es gilt die unmißverständliche Losung: "seit 5 Uhr 45 wird zurückgefragt."
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2002Samplewut
Andreas Neumeister planscht in
den Sprechblasen der Schaumwelt
„Listen, Refrains, Abbildungen” lautet zwar die Gattungsbezeichnung, doch Abbildungen gibt es keine in dem neuen Suhrkamp- Bändchen von Andreas Neumeister. Dafür aber Bildunterschriften, die den Leser wissen lassen, was er sähe, wenn es etwas zu sehen gäbe. Eine listige Irritation, die von vornherein dem Missverständnis vorbeugen soll, dieses Buch sei selbst, wovon es handelt: eine weitere Manipulationsfiliale in jenem Gewerbepark, den man weiland Bewusstseinsindustrie nannte. Denn, was Neumeister als Sampler und Jäger an strahlungsaktivem Giftmüll aus den magischen und oftmals manischen Kanälen gefischt hat, könnte in dieser Konzentration einer Gehirnwäsche als Libretto dienen.
„Angela Davis löscht ihre Website” ist eine Art negativer „Perlentaucher”. Während dieser die Feuilletons im Netz auswertet, birgt Neumeister den ins kollektive Unbewusste abgesunkenen Kulturabfall wie eine Schatzkiste voll schwarzer Preziosen. Nur auf der ersten Seite ist in der unbeholfenen Manier von Lehrbuch-Illustrationen die Zeichnung einer Hand zu erkennen, die eine Karteikarte in die Höhe hält. Darauf steht die Aufforderung „Zurück zu den Sachthemen!” zu lesen. Der Appell ist wörtlich zu nehmen, und die Karteikarte steht emblematisch für das Zettelkasten-Prinzip, dem die Textsammlung folgt. Dass Neumeister die Bürgerrechtlerin Angela Davis in den Titel hebt, ist dabei ein Hinweis auf den aufklärerischen Ehrgeiz des Autors, dass seine Patin jedoch offline gegangen sei, deutet dezenten Kulturpessimismus an.
Fast alles, was Neumeister als sein eigener paranoider Medienbeauftragte zusammengetragen hat, ist Zitat, steht unkommentiert und erratisch neben anderen Fundsachen und Trouvaillen, auf die er beim Quellenstudium vor dem Bildschirm gestoßen sein muss: Promi-Statement und Neologismus, Gästeliste und Kampfparole – Miszellen und Paralipomena der Alltagskultur ergeben in der Tradition von Flauberts „Dictionnaire des idées reçues” ein lexikalisches Brevier populärer Ideologeme. Neumeister wendet Wittgensteins Sprachkritik auf die neuen Medien an und dreht sie um: Die Welt, so der Befund, ist alles, was der Abfall ist.
Die Mischung aus Pressespiegel – dem, was Rainald Goetz „Kontrolle” nennt – und Schlagwortkatalog enthält das, was üblicherweise in den Schadstoff- Filtern der Literatur hängen bleibt, Sprechblasen aus dem Schaumjargon der Uneigentlichkeit, der das Denken kontaminiert, denn nach Lektüre gilt: Alles so schön wund hier. Indem Neumeister fixiert, was der Mausklick ins Nirwana schickt, wie der Entomologe die Küchenschabe, wird Anästhesie zum Verfahren eines Panästheten.
Wie beim Ready-made ist der Wechsel des Kontextes schon fast alles, der Rest eine ars combinatorica, die völlig Disparates parataktisch nebeneinander stellt, ohne Copyright, dafür zur Sentenz geadelt, durchbrochen nur von klandestinen Bemerkungen des Autors. Das Zapping, das alles nivelliert, führt Neumeister dort ad absurdum, wo er Scheingegensätze und Pseudoalternativen direkt gegenüberstellt oder sie weiterdreht: „friendly fire” und „unfriendly fire”.
„Aber erst wenn schließlich auch die Werbeblöcke gestrichen werden, ist die Sache da draußen wirklich ernst”. Und bevor der Monade nicht das letzte Fenster zugeschlagen ist, hat der Selbstversuch im medialen all you can eat kein Ende. Digitaler Feminismus, Trucknology, Schwachstellenscanner, unfaire Münzen, Killerapplikationen... Alles zerfließt, und das Medium ist die Massage, die mit kreisenden Bewegungen die Endlosschleife der Selbstreferenz schürzt.
Die Sprachspiele haben das gut emanzipatorische Ziel, zu zeigen, die Grenzen der Sprache seien auch die Grenzen der Welt. Damit teilen sie den Fehlschluss des Deterministen, der Mensch sei das Produkt seines Kabelanschlusses. Auf den letzten Seiten begegnet einem wieder die Hand mit der Karteikarte; auf einer von ihnen steht auf Englisch, was übersetzt heißt: „Gegenstände im Rückspiegel sind größer als sie erscheinen”. Das Buch selbst will ein Rückspiegel mit Vergrößerungsglas sein. „Seit 5 Uhr 45 wird zurückgefragt” lautet einer der letzten Sätze – eine verunglückte Paraphrase. Oder sollte man besser sagen eine verunfallte?
CHRISTOPHER SCHMIDT
ANDREAS NEUMEISTER: „Angela Davis löscht ihre Website”. Listen, Refrains, Abbildungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 127 Seiten, 8 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Andreas Neumeister planscht in
den Sprechblasen der Schaumwelt
„Listen, Refrains, Abbildungen” lautet zwar die Gattungsbezeichnung, doch Abbildungen gibt es keine in dem neuen Suhrkamp- Bändchen von Andreas Neumeister. Dafür aber Bildunterschriften, die den Leser wissen lassen, was er sähe, wenn es etwas zu sehen gäbe. Eine listige Irritation, die von vornherein dem Missverständnis vorbeugen soll, dieses Buch sei selbst, wovon es handelt: eine weitere Manipulationsfiliale in jenem Gewerbepark, den man weiland Bewusstseinsindustrie nannte. Denn, was Neumeister als Sampler und Jäger an strahlungsaktivem Giftmüll aus den magischen und oftmals manischen Kanälen gefischt hat, könnte in dieser Konzentration einer Gehirnwäsche als Libretto dienen.
„Angela Davis löscht ihre Website” ist eine Art negativer „Perlentaucher”. Während dieser die Feuilletons im Netz auswertet, birgt Neumeister den ins kollektive Unbewusste abgesunkenen Kulturabfall wie eine Schatzkiste voll schwarzer Preziosen. Nur auf der ersten Seite ist in der unbeholfenen Manier von Lehrbuch-Illustrationen die Zeichnung einer Hand zu erkennen, die eine Karteikarte in die Höhe hält. Darauf steht die Aufforderung „Zurück zu den Sachthemen!” zu lesen. Der Appell ist wörtlich zu nehmen, und die Karteikarte steht emblematisch für das Zettelkasten-Prinzip, dem die Textsammlung folgt. Dass Neumeister die Bürgerrechtlerin Angela Davis in den Titel hebt, ist dabei ein Hinweis auf den aufklärerischen Ehrgeiz des Autors, dass seine Patin jedoch offline gegangen sei, deutet dezenten Kulturpessimismus an.
Fast alles, was Neumeister als sein eigener paranoider Medienbeauftragte zusammengetragen hat, ist Zitat, steht unkommentiert und erratisch neben anderen Fundsachen und Trouvaillen, auf die er beim Quellenstudium vor dem Bildschirm gestoßen sein muss: Promi-Statement und Neologismus, Gästeliste und Kampfparole – Miszellen und Paralipomena der Alltagskultur ergeben in der Tradition von Flauberts „Dictionnaire des idées reçues” ein lexikalisches Brevier populärer Ideologeme. Neumeister wendet Wittgensteins Sprachkritik auf die neuen Medien an und dreht sie um: Die Welt, so der Befund, ist alles, was der Abfall ist.
Die Mischung aus Pressespiegel – dem, was Rainald Goetz „Kontrolle” nennt – und Schlagwortkatalog enthält das, was üblicherweise in den Schadstoff- Filtern der Literatur hängen bleibt, Sprechblasen aus dem Schaumjargon der Uneigentlichkeit, der das Denken kontaminiert, denn nach Lektüre gilt: Alles so schön wund hier. Indem Neumeister fixiert, was der Mausklick ins Nirwana schickt, wie der Entomologe die Küchenschabe, wird Anästhesie zum Verfahren eines Panästheten.
Wie beim Ready-made ist der Wechsel des Kontextes schon fast alles, der Rest eine ars combinatorica, die völlig Disparates parataktisch nebeneinander stellt, ohne Copyright, dafür zur Sentenz geadelt, durchbrochen nur von klandestinen Bemerkungen des Autors. Das Zapping, das alles nivelliert, führt Neumeister dort ad absurdum, wo er Scheingegensätze und Pseudoalternativen direkt gegenüberstellt oder sie weiterdreht: „friendly fire” und „unfriendly fire”.
„Aber erst wenn schließlich auch die Werbeblöcke gestrichen werden, ist die Sache da draußen wirklich ernst”. Und bevor der Monade nicht das letzte Fenster zugeschlagen ist, hat der Selbstversuch im medialen all you can eat kein Ende. Digitaler Feminismus, Trucknology, Schwachstellenscanner, unfaire Münzen, Killerapplikationen... Alles zerfließt, und das Medium ist die Massage, die mit kreisenden Bewegungen die Endlosschleife der Selbstreferenz schürzt.
Die Sprachspiele haben das gut emanzipatorische Ziel, zu zeigen, die Grenzen der Sprache seien auch die Grenzen der Welt. Damit teilen sie den Fehlschluss des Deterministen, der Mensch sei das Produkt seines Kabelanschlusses. Auf den letzten Seiten begegnet einem wieder die Hand mit der Karteikarte; auf einer von ihnen steht auf Englisch, was übersetzt heißt: „Gegenstände im Rückspiegel sind größer als sie erscheinen”. Das Buch selbst will ein Rückspiegel mit Vergrößerungsglas sein. „Seit 5 Uhr 45 wird zurückgefragt” lautet einer der letzten Sätze – eine verunglückte Paraphrase. Oder sollte man besser sagen eine verunfallte?
CHRISTOPHER SCHMIDT
ANDREAS NEUMEISTER: „Angela Davis löscht ihre Website”. Listen, Refrains, Abbildungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 127 Seiten, 8 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
"Geloopter deutscher Idealismus, aber ziemlich flott, sozusagen eine Rolf-Dieter-Brinkmann-Fassung von Hegel und Adorno." Auf diesen, vielleicht nicht ganz unmittelbar einleuchtenden Nenner bringt Rezensent Martin Zeyn die Texte von Andreas Neumeister. Wie Zeyn ausführt, handelt es sich dabei um Reflexionen, die meist um das Thema Medien, genauer: das Thema Internet kreisen, und in der grafischen Gestalt von Gedichten daherkommen. Die Aufzählung gehört zu den genuinen Stilmitteln Neumeisters, hält Zeyn fest, es finden sich Listen von Feuerwaffen, halbseidenen Mediengrößen, Fernsehsendern. Neben strengen Reihungen gebe es fiese Pointen und deftige Formulierungen. Zeyn hebt hervor, dass Neumeister die Langeweile der Internet-Interaktion entlarve und zugleich einen Raum eröffne, den die Medientheorie kaum noch erzeuge: den der Neugier. "Seine Medienmiszellen sind streng und verspielt, original und täuschend echt falsch", resümiert der Rezensent, "konkrete Poplyrik".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Freischwebende Radikale, Partikel, Plankton der Moderne. Sätze zerknüllt, gelöscht, recycelt, mit keiner eindeutigen Halbwertszeit, Parasiten, der Klang unserer Welt. Neumeister macht daraus ein Stück, Lied, nein, einen Song: Die Melodie verschleppt langsam, Breakbeats auf 16 Umdrehungen, von der ersten bis zur letzten Seite. Denn er weiß: Sprache ist Musik.« Sven Lager de:bug