Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.05.2015London, 1983
Es gibt Leute, die von Sachen und Orten erzählen, um von sich zu erzählen. Und es gibt Menschen, die von sich erzählen, um zu den Sachen und Orten vorzudringen. John Lydon gehört zu letzteren, und er weiß etwas Entscheidendes: Alles wirklich Universelle kann nur aus dem Lokalen buchstäblich herausbrechen und ist deshalb das Gegenteil von Weltmusik. John Lydon, der als Johnny Rotten mit den Sex Pistols Ende der siebziger Jahre weltberühmt wurde, ist in London aufgewachsen. In einem Häuserblock, dem Benwell Mansion, direkt neben der Eisenbahnbrücke in der Benwell Road bewohnten die Lydons zu sechst zwei Zimmer. Es gab eine Küche und einen Schlafraum, "es herrschte kein übertrieben zärtlicher Umgang, das war überhaupt nicht nötig".
John Lydon, der Ältere, lernt hier wie alle anderen, auf die Kleineren aufzupassen. Das war bitter nötig. "Ob ich wusste, dass es dort sexuellen Missbrauch gab?", fragt er und antwortet: "Oh ja, aber absolut. Institutionalisierter Missbrauch, vertuscht und geduldet." Man musste aufpassen, bloß nicht in den Chor oder zum Messdienerstuss zu kommen. Also lernt er, absichtlich falsch zu singen. Man glaubt Lydon sofort sein großes Glück, als er endlich bei den Sex Pistols als Sänger gecastet wurde. Endlich konnte er "richtig" singen und dazu noch die richtigen Worte selbst finden.
Besser ist der Weg vom falschen zum richtigen Singen überhaupt noch nie beschrieben worden. Offensichtlich ging das nur in London. England, du hast es besser! Noch besser aber ist, dass Lydon dort nicht stehen bleibt. Die Benwell Road gibt es heute so nicht mehr. Da steht jetzt das "Emirates Stadion" des Fußballclubs Arsenal London, und blöderweise sind mit dem Stadion auch die sozialen Werte wie Sich-um-die-Kleineren-Kümmern aus der Gegend verschwunden. Für Lydon stellt das aber keinen aus der Gentrifizierung hervorgegangenen Bruch da. Es gibt Verbindungen: Für Lydon ist Malcolm McLaren, der Erfinder und Manager der Sex Pistols, ein Rollenmodell für Arsène Wenger, den Trainer und Manager von Arsenal. Und das ist wirklich großer Geschichtsunterricht.
Cord Riechelmann
John Lydon: "Anger Is an Energy. Mein Leben unzensiert". Heyne, 655 S., 24,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es gibt Leute, die von Sachen und Orten erzählen, um von sich zu erzählen. Und es gibt Menschen, die von sich erzählen, um zu den Sachen und Orten vorzudringen. John Lydon gehört zu letzteren, und er weiß etwas Entscheidendes: Alles wirklich Universelle kann nur aus dem Lokalen buchstäblich herausbrechen und ist deshalb das Gegenteil von Weltmusik. John Lydon, der als Johnny Rotten mit den Sex Pistols Ende der siebziger Jahre weltberühmt wurde, ist in London aufgewachsen. In einem Häuserblock, dem Benwell Mansion, direkt neben der Eisenbahnbrücke in der Benwell Road bewohnten die Lydons zu sechst zwei Zimmer. Es gab eine Küche und einen Schlafraum, "es herrschte kein übertrieben zärtlicher Umgang, das war überhaupt nicht nötig".
John Lydon, der Ältere, lernt hier wie alle anderen, auf die Kleineren aufzupassen. Das war bitter nötig. "Ob ich wusste, dass es dort sexuellen Missbrauch gab?", fragt er und antwortet: "Oh ja, aber absolut. Institutionalisierter Missbrauch, vertuscht und geduldet." Man musste aufpassen, bloß nicht in den Chor oder zum Messdienerstuss zu kommen. Also lernt er, absichtlich falsch zu singen. Man glaubt Lydon sofort sein großes Glück, als er endlich bei den Sex Pistols als Sänger gecastet wurde. Endlich konnte er "richtig" singen und dazu noch die richtigen Worte selbst finden.
Besser ist der Weg vom falschen zum richtigen Singen überhaupt noch nie beschrieben worden. Offensichtlich ging das nur in London. England, du hast es besser! Noch besser aber ist, dass Lydon dort nicht stehen bleibt. Die Benwell Road gibt es heute so nicht mehr. Da steht jetzt das "Emirates Stadion" des Fußballclubs Arsenal London, und blöderweise sind mit dem Stadion auch die sozialen Werte wie Sich-um-die-Kleineren-Kümmern aus der Gegend verschwunden. Für Lydon stellt das aber keinen aus der Gentrifizierung hervorgegangenen Bruch da. Es gibt Verbindungen: Für Lydon ist Malcolm McLaren, der Erfinder und Manager der Sex Pistols, ein Rollenmodell für Arsène Wenger, den Trainer und Manager von Arsenal. Und das ist wirklich großer Geschichtsunterricht.
Cord Riechelmann
John Lydon: "Anger Is an Energy. Mein Leben unzensiert". Heyne, 655 S., 24,99 Euro
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