Über kuturelle Ursprünge des Bakteriums (Seuchen-Cordon I)
Panik-Kurve. Berlins Cholera-Jahr 1831/32 (Seuchen-Cordon II)
Auf Leben und Tod. Briefwelt als Gegenwelt (Seuchen-Cordon III)
Das Schlechte Gedicht. Strategien literarischer Immunisierung (Seuchen-Cordon IV)
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Panik-Kurve. Berlins Cholera-Jahr 1831/32 (Seuchen-Cordon II)
Auf Leben und Tod. Briefwelt als Gegenwelt (Seuchen-Cordon III)
Das Schlechte Gedicht. Strategien literarischer Immunisierung (Seuchen-Cordon IV)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.06.2003Bei Seuchen hüte man sich dringend vor deprimierenden Gedichten
Panikkurven: Olaf Briese veröffentlicht in den Zeiten von Sars eine nicht unamüsante Schrift über die Angst vor der Cholera
"Survive Sars" heißt ein Computerspiel, das die in Hongkong beheimatete Marketing-Agentur "Fluid" auf ihrer Website anbietet. Der Spieler, der die ansteckende Lungenkrankheit überleben will, muß darin herabregnende menschliche Virenträger mit Spritzern aus einer Sprühflasche unschädlich machen. Jeder Klick ein Treffer! Aber Achtung: Kleine Tröpfchen verbreiten das Virus und beschädigen die "3M model 3990"-Atemschutzmaske. Nach drei Treffern ist sie unbrauchbar, und der Spieler ist tot. Zum Glück kann er jedoch seine Maske durch Bonus-Auffrischungen wiederherstellen, die "die Regierung von Hongkong regelmäßig verteilt".
Wer das in Hongkong komisch findet, wo zweihundertdreiundsiebzig von weltweit siebenhundertfünfzig Sars-Toten zu beklagen sind, leistet einen Beitrag zur Seuchenabwehr. Denn er hilft, einen symbolischen Seuchen-Kordon mitzugestalten. Es ist deshalb nur eine Frage der Zeit, bis auch die Schlagermusik, die bildende Kunst und die Mode das Thema entdecken. In Hongkong werden bereits Bürger in Studios gelockt und fotografiert, und man bittet sie, ihre Gedanken mitzuteilen. Die müssen dann nur noch gerahmt oder in Versform gebracht werden.
Dahinter steckt ein Verhaltensmuster, das der Kulturhistoriker Olaf Briese "Überleben per Gedicht" nennt. So heißt ein Abschnitt seiner dicken, aber nicht unamüsanten Habilitationsschrift "Angst in den Zeiten der Cholera". Drei der vier Bände enthalten Quellen zur kulturellen Verarbeitung der Cholera im neunzehnten Jahrhundert. Der vierte Band sammelt Cholera-Gedichte, die allesamt zum Erbarmen schlecht sind, aber gerade deshalb das schaffen, was gute Gedichte weder wollen noch können: "Sie beschwichtigen, statt aufzuwühlen, sie geben Entspannung, statt anzustrengen, sie spenden Sicherheit, statt zu verunsichern", kurz, sie helfen beim Überleben - ganz wie unser aseptisches Computerspiel.
"Nicht lange mehr, und sie ist da / Die Wanderpest aus Asia, / Die schreckenvolle Cholera", so stampfen die Verse, doch sie halten bald Trost bereit: "Mag sie tückisch Euch belauern, / Ist ihr Zahn doch nicht so arg! / Darum, Freunde, laßt das Trauern! / Reißt Euch aus den Fieberschauern, Seht nicht immer Tod und Sarg!"
Der zweite Band dokumentiert das öffentliche Echo der Seuche in Zeitungen, amtliche Bekanntmachungen und Verfügungen, Schriften von Ärzten oder Pfarrern sowie Sammlungen von Witzen über den "Cholera morbus". Brieses Dokumente zeichnen die "Panikkurve" in sechs Abschnitten nach: Zunächst kommen "Nachrichten aus der Ferne", dann steht "Cholera ad portas". Auf dem Höhepunkt heißt es "Cholera in der Stadt", und der Seuchenhumor bricht sich widerstandslos Bahn: "Als in Berlin der erste Cholera-Schnaps verkauft wurde, kam ein Sackträger in einen Branntwein-Laden und forderte: ,Vor en' Sechser Cholera. Un en' bißken Morbus mang!'" Dann geht die Kurve der öffentlichen Erregung wieder zurück: Hegels Tod 1831 steht für "Katastrophe und Läuterung", es folgen "Ausklang und Versöhnung". In den "Nachklängen" schließlich erkennt ein Historiker, daß "die Sterblichkeit in Berlin bei dieser ersten Cholera-Epidemie sehr gering" war. Kein Wunder also, "daß die untersten Volksklassen sich keinen Ausschweifungen hingaben". Vielmehr zeigte die Epidemie einem anderen Zeitgenossen "furchtbar großartig, wie gleich alle Menschen seien": Sogar die Regierungen waren "gezwungen, um sich selbst zu schützen, für die Wohlfahrt des Volkes bedacht zu sein" und wurden "unwillkürlich socialistisch".
Der dritte Band dokumentiert private Korrespondenz aus den Jahren 1831 und 1832. Das Prinzip des "Überlebens per Gedicht" etwa erläutert Goethe seinem Freund Zelter mit umgekehrtem Vorzeichen: Das nur halb aufgeschnittene Bändchen eines "modernsten Deutschen Dichters" habe er schnell weggelegt, "da man sich beim Eindringen der Cholera von allen deprimierenden Unpotenzen strengstens hüten soll".
Vor jener Revolution, die wir mit den Namen Robert Koch und Louis Pasteur verbinden - aus der Medizin wurde eine Wissenschaft -, waren Epidemien eine Projektionsfläche ideologischer Vorlieben. Die Anhänger der "Ansteckungstheorie" konnten sich noch nicht auf mikroskopische und andere empirische Beweise stützen: Sie fand deshalb Anhänger bei den Funktionären des Obrigkeitsstaats. Denn sie erlaubte es, "gesellschaftliche Mobilität, Freizügigkeit in Verkehr und Handel, Freiheit der Person" durch Systeme der Absperrung zu kontrollieren. Die Liberalen dagegen bevorzugten das "Miasmenmodell", die Theorie, daß sich Seuchen nur durch Klima und Witterung verbreiten und ihnen deshalb durch soziale Fürsorge und Hebung des Lebensstandards vorzubeugen sei. Die Miasmen würden "den unsichtbaren Relationen gleichen, die nach Adam Smith die soziale Entwicklung regierten". Das autokratische Modell militärischer Eindämmung siegte, aber es war erfolglos. Die Miasmentheorie wurde alleinherrschend. Als Filippo Pacini 1854 das Cholerabakterium identifizierte, konnte sich seine Entdeckung deshalb nicht durchsetzen. Erst Robert Koch wurde dreißig Jahre später zur Legende, weil er den Weg zur Zähmung der Seuche durch Unterbrechung ihrer Verbreitungswege wies. Staatliche Abwasserentsorgung und Trinkwasserversorgung waren das Geheimnis des "Bakterientaumels" von 1854. "Der kollektive Spannungsstau löste sich. Der Bann war gebrochen." Infrastruktur ist wirksamer als Poesie.
CHRISTOPH ALBRECHT
Olaf Briese: "Angst in den Zeiten der Cholera". 4 Bände: Über kulturelle Ursprünge des Bakteriums (Seuchen-Cordon I). Panik-Kurve. Berlins Cholera-Jahr 1931/32 (Seuchen-Cordon II). Auf Leben und Tod. Briefwelt als Gegenwelt (Seuchen-Cordon III). Das schlechte Gedicht. Strategien literarischer Immunisierung (Seuchen-Cordon IV). Akademie Verlag, Berlin 2003. 1351 S., geb., 74,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Panikkurven: Olaf Briese veröffentlicht in den Zeiten von Sars eine nicht unamüsante Schrift über die Angst vor der Cholera
"Survive Sars" heißt ein Computerspiel, das die in Hongkong beheimatete Marketing-Agentur "Fluid" auf ihrer Website anbietet. Der Spieler, der die ansteckende Lungenkrankheit überleben will, muß darin herabregnende menschliche Virenträger mit Spritzern aus einer Sprühflasche unschädlich machen. Jeder Klick ein Treffer! Aber Achtung: Kleine Tröpfchen verbreiten das Virus und beschädigen die "3M model 3990"-Atemschutzmaske. Nach drei Treffern ist sie unbrauchbar, und der Spieler ist tot. Zum Glück kann er jedoch seine Maske durch Bonus-Auffrischungen wiederherstellen, die "die Regierung von Hongkong regelmäßig verteilt".
Wer das in Hongkong komisch findet, wo zweihundertdreiundsiebzig von weltweit siebenhundertfünfzig Sars-Toten zu beklagen sind, leistet einen Beitrag zur Seuchenabwehr. Denn er hilft, einen symbolischen Seuchen-Kordon mitzugestalten. Es ist deshalb nur eine Frage der Zeit, bis auch die Schlagermusik, die bildende Kunst und die Mode das Thema entdecken. In Hongkong werden bereits Bürger in Studios gelockt und fotografiert, und man bittet sie, ihre Gedanken mitzuteilen. Die müssen dann nur noch gerahmt oder in Versform gebracht werden.
Dahinter steckt ein Verhaltensmuster, das der Kulturhistoriker Olaf Briese "Überleben per Gedicht" nennt. So heißt ein Abschnitt seiner dicken, aber nicht unamüsanten Habilitationsschrift "Angst in den Zeiten der Cholera". Drei der vier Bände enthalten Quellen zur kulturellen Verarbeitung der Cholera im neunzehnten Jahrhundert. Der vierte Band sammelt Cholera-Gedichte, die allesamt zum Erbarmen schlecht sind, aber gerade deshalb das schaffen, was gute Gedichte weder wollen noch können: "Sie beschwichtigen, statt aufzuwühlen, sie geben Entspannung, statt anzustrengen, sie spenden Sicherheit, statt zu verunsichern", kurz, sie helfen beim Überleben - ganz wie unser aseptisches Computerspiel.
"Nicht lange mehr, und sie ist da / Die Wanderpest aus Asia, / Die schreckenvolle Cholera", so stampfen die Verse, doch sie halten bald Trost bereit: "Mag sie tückisch Euch belauern, / Ist ihr Zahn doch nicht so arg! / Darum, Freunde, laßt das Trauern! / Reißt Euch aus den Fieberschauern, Seht nicht immer Tod und Sarg!"
Der zweite Band dokumentiert das öffentliche Echo der Seuche in Zeitungen, amtliche Bekanntmachungen und Verfügungen, Schriften von Ärzten oder Pfarrern sowie Sammlungen von Witzen über den "Cholera morbus". Brieses Dokumente zeichnen die "Panikkurve" in sechs Abschnitten nach: Zunächst kommen "Nachrichten aus der Ferne", dann steht "Cholera ad portas". Auf dem Höhepunkt heißt es "Cholera in der Stadt", und der Seuchenhumor bricht sich widerstandslos Bahn: "Als in Berlin der erste Cholera-Schnaps verkauft wurde, kam ein Sackträger in einen Branntwein-Laden und forderte: ,Vor en' Sechser Cholera. Un en' bißken Morbus mang!'" Dann geht die Kurve der öffentlichen Erregung wieder zurück: Hegels Tod 1831 steht für "Katastrophe und Läuterung", es folgen "Ausklang und Versöhnung". In den "Nachklängen" schließlich erkennt ein Historiker, daß "die Sterblichkeit in Berlin bei dieser ersten Cholera-Epidemie sehr gering" war. Kein Wunder also, "daß die untersten Volksklassen sich keinen Ausschweifungen hingaben". Vielmehr zeigte die Epidemie einem anderen Zeitgenossen "furchtbar großartig, wie gleich alle Menschen seien": Sogar die Regierungen waren "gezwungen, um sich selbst zu schützen, für die Wohlfahrt des Volkes bedacht zu sein" und wurden "unwillkürlich socialistisch".
Der dritte Band dokumentiert private Korrespondenz aus den Jahren 1831 und 1832. Das Prinzip des "Überlebens per Gedicht" etwa erläutert Goethe seinem Freund Zelter mit umgekehrtem Vorzeichen: Das nur halb aufgeschnittene Bändchen eines "modernsten Deutschen Dichters" habe er schnell weggelegt, "da man sich beim Eindringen der Cholera von allen deprimierenden Unpotenzen strengstens hüten soll".
Vor jener Revolution, die wir mit den Namen Robert Koch und Louis Pasteur verbinden - aus der Medizin wurde eine Wissenschaft -, waren Epidemien eine Projektionsfläche ideologischer Vorlieben. Die Anhänger der "Ansteckungstheorie" konnten sich noch nicht auf mikroskopische und andere empirische Beweise stützen: Sie fand deshalb Anhänger bei den Funktionären des Obrigkeitsstaats. Denn sie erlaubte es, "gesellschaftliche Mobilität, Freizügigkeit in Verkehr und Handel, Freiheit der Person" durch Systeme der Absperrung zu kontrollieren. Die Liberalen dagegen bevorzugten das "Miasmenmodell", die Theorie, daß sich Seuchen nur durch Klima und Witterung verbreiten und ihnen deshalb durch soziale Fürsorge und Hebung des Lebensstandards vorzubeugen sei. Die Miasmen würden "den unsichtbaren Relationen gleichen, die nach Adam Smith die soziale Entwicklung regierten". Das autokratische Modell militärischer Eindämmung siegte, aber es war erfolglos. Die Miasmentheorie wurde alleinherrschend. Als Filippo Pacini 1854 das Cholerabakterium identifizierte, konnte sich seine Entdeckung deshalb nicht durchsetzen. Erst Robert Koch wurde dreißig Jahre später zur Legende, weil er den Weg zur Zähmung der Seuche durch Unterbrechung ihrer Verbreitungswege wies. Staatliche Abwasserentsorgung und Trinkwasserversorgung waren das Geheimnis des "Bakterientaumels" von 1854. "Der kollektive Spannungsstau löste sich. Der Bann war gebrochen." Infrastruktur ist wirksamer als Poesie.
CHRISTOPH ALBRECHT
Olaf Briese: "Angst in den Zeiten der Cholera". 4 Bände: Über kulturelle Ursprünge des Bakteriums (Seuchen-Cordon I). Panik-Kurve. Berlins Cholera-Jahr 1931/32 (Seuchen-Cordon II). Auf Leben und Tod. Briefwelt als Gegenwelt (Seuchen-Cordon III). Das schlechte Gedicht. Strategien literarischer Immunisierung (Seuchen-Cordon IV). Akademie Verlag, Berlin 2003. 1351 S., geb., 74,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Christoph Albrecht begrüßt das Erscheinen dieser "dicken, aber nicht unamüsanten Habilitationschrift" über die Angst vor der Cholera im 19. Jahrhundert nicht zuletzt, weil sie in der Zeit der Angst vor einer neuen Seuche, vor SARS also, einige nicht unwichtige Einsichten bieten könnte. So verdeutlicht sie etwa, erfahren wir, wie Epidemien zur "Projektionsfläche ideologischer Vorlieben" werden können. Oder dass gerade schlechte Gedichte zum Thema wichtige Entspannung bieten und beschwichtigend wirken können: Im vierten Band der Arbeit Brieses sind, erfährt man von Albrecht, zeitgenössische Cholera-Gedichte gesammelt, "die allesamt zum Erbarmen schlecht sind", aber ihren Zweck erfüllen. Der erste Band, berichtet Albrecht, dokumentiert die Geschichte der Seuchenbekämpfung bis zur Entdeckung des Cholerabakteriums, der zweite Dokumente der öffentlichen Reaktionen auf die Seuche und der dritte schließlich private Reaktionen in Form von Briefwechseln.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Die Quellendokumentation, mit der Briese gleichsam die Ebenen wechselt - von der diskursiven Untersuchung zum Lesebuch, das zum Stöbern und Entdecken einlädt-, macht 'Angst in der Zeiten der Cholera' vollends zum Ereignis." Norbert Otto Eke in: Forum Vormärz Forschung, 13. Jg. (2007)