Einer chinesischen Tradition zufolge ist das menschliche Leben in drei Phasen gegliedert. Feuer, Erde, Wind: die Zeit des Wachsens, die Zeit der Verführbarkeit durch äußeren Schein und die Zeit der vertieften Einsicht ins eigene Selbst und das Wesen der Dinge. Die Geschichte einer schwierigen Kindheit, einer Freundschaft und der Suche nach innerem Einklang mit der Welt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.02.1997Dichter mit Zangenhänden
Susanna Tamaro geht, wohin die Weltseele sie trägt
Jugend, oder besser gesagt: Jugendlichkeit ist das dominante Motiv, das die Romangeschichte mit "Tom Jones" und "Werther" im achtzehnten Jahrhundert entdeckte. In vielen fiktiven Lebensläufen hat sie dieses Modell durchdacht und perfektioniert: als Bildungserlebnis, als Künstlerroman, als Reisemotiv, als Liebesgeschichte - seine Erschöpfung ist nicht abzusehen. Noch Kerouacs hitchhiking und Brinkmanns Romreise halten sich an dieses Modell und nützen die Chance, darin gesellschaftlichen Protest zu artikulieren. Denn die fiktive Jugendlichkeit des Romans ist immer Flucht, Verachtung, Widerstand, Trotz. Deshalb ist dieses Motiv die bevorzugte Allegorie für das intellektuelle Außenseitertum des Autors selbst. Eine gezähmte Variante des Genres haben die bundesrepublikanischen Schriftsteller mit ihren Kindheitserinnerungen entworfen. Der kindliche Zustand erzeugt hier eine sanftere Art, außerhalb der Welt der Konventionen zu sein, als sie dem jugendlichen Protest möglich wäre.
Dem furiosen Temperament der Susanna Tamaro, der italienischen Bestsellerautorin, die sich mit ihrem Roman "Geh, wohin dein Herz dich trägt" einen Welterfolg erschrieben hat, ist es gelungen, dem Stoff eine neue Lesart hinzuzufügen, die selbst ihre Kritiker, wenn sie nur ein paar Trivialitäten durchgehen lassen wollten, unterhalten könnte. Ihr Held, der in dieser neuen Version des Bildungsromans nicht zufällig den deutschen Namen Walter trägt, ist zunächst nichts weiter als der angry young man, der seine Eltern haßt, der meint, die Welt im Sturm erobern zu können, scheitert, zerbricht und sich wieder und wieder aufrafft; eigentlich aber ist er ein verzweifelter Protestant und Gottessucher. Der lutherische Charakter dieses Helden ist im katholischen Italien eine bisher unbekannte Erscheinung im Personal des Romans der Jugendlichkeit.
Die Mischung aus Wildheit und Ernst, aus Zerstörungswut und Glaubenseifer - bei den jugendlichen Romanhelden bislang ein schwaches Flämmchen, das Gesittung und Bildungseifer stets in Grenzen hielten - bricht aus Tamaros ehrgeizigem Dichter heraus wie eine Naturgewalt. Sein Herz ist ein Vulkan, seine Hände sind Zangen, die zerreißen, was immer sie zu fassen bekommen. Die Wut über die Grenzen, die die Welt seinem Talent setzt, basiert wie bei jedem Bildungshelden auf einem ideellen Lebensentwurf, doch ist dieser nicht ideell, nicht verinnerlicht genug, als daß er nicht doch auch den Körper in heftige Bewegung setzte. Wenn die tief gehaßte Mutter stirbt, zerstört sich dieser verlorene Sohn selbst; wenn der Vater stirbt, demoliert er dessen Wohnung; wenn der Freund stirbt, verflucht er Gott und die Welt; und eigentlich stirbt und entgleitet ihm ohnehin alles - immer wird er handgreiflich: zerschlägt Möbel, zerfetzt Kleider, zerstört sich selbst durch Alkohol und Drogen. Seine Enttäuschung verheert die Heimat, aus der er sich selbst vertrieben hat, weil sie ihm nicht zu Willen war.
Bei alledem bleibt der Held doch Held, er wird, obgleich er sich die Haare rauft, kein Struwwelpeter, kein lächerlicher Flegel. Die Ungebärdigkeit rechtfertigt sich als Suche nach der Wahrheit und dem Wesen der Welt. Sie ist so verzeihlich wie possierlich, denn, das gesteht der geneigte Leser zu, es ist nun einmal so, daß dem Menschen in seiner Schwäche bei einem solch großen Unterfangen viele Unklugheiten und Peinlichkeiten unterlaufen. Die Autorin jedenfalls bringt es dahin, daß die vielen Banalitäten, die da über Sinn und Zweck des menschlichen Daseins geäußert werden, als philosophische Versuche eines begabten Dilettanten gelten können.
Walter findet sein Alter ego in Andrea, einem nicht weniger poetisch veranlagten Freund. Andreas Poesie aber ist mündlicher Gesang, er erfindet das Epos von der Entstehung der Welt, einen selbst geschaffenen Mythos, dessen kindliche Farbigkeit die schlichten Fragen, die am Ursprung seiner Erfindungen stehen, vergessen macht. "Am Anfang war die Leere", so beginnt der Ich-Erzähler seinen Lebensroman im Ton des Freundes, der ihm mit seinen Philosophemen so imponiert. Die Leere, die nun von den beiden durch mythische Bilder umstellt und durch den Schutt, den ihre Zerstörungen erzeugen, gefüllt werden soll, entsteht aus dem Verlust der elterlichen Liebe, dem die Ausstoßung aus der Welt der Erwachsenen, der Mäzene, der Filmproduzenten, notwendig folgt. Man könnte das Buch ein Denkmal für die Mutter nennen, denn die psychische Katastrophe des Helden bricht nach ihrem Tod aus, gerade in dem Moment, als der eigentliche Adressat der Empörung dahingegangen ist: "Im Grunde genommen war sie der einzige Mensch, mit dem ich ein bißchen Gemeinsamkeit erlebt hatte. Für eine Weile hatten wir in meiner Kindheit eine glückliche Insel gebildet, wir zwei gegen den Rest der Welt."
Es verwundert nicht, daß die Wanderschaft schließlich in ein Kloster und in die Kammer einer sterbenden Nonne führt. Diese hat den Freund des Helden begraben und wird die letzte sein, deren Tod der Held durchzustehen hat, ehe er aus der Leere in die Erstarrung eingeht: "Während ich las", so beendet er seine Lebensbeichte, "fielen wieder große Schneeflocken vom Himmel." Die Resignation des temperamentvollen Taugenichts allerdings bringt die Problematik der melodramatischen Erzählweise seiner Schöpferin an den Tag. Sobald der Held nicht mehr um sich schlägt, wird er sentimental. Spätestens dann, wenn er die bei der Nonne zurückgelassenen Briefe des verstorbenen Freundes auffindet, wird der Leser ungläubig gegen den Figurenentwurf. Dieses Resümee eines dilettierenden Brausekopfes ist schwer goutierbar. Die dahergeplapperten Mythen des Freundes Andrea nehmen sich albern aus, sobald sie im Brief und in der Schrift wie bedeutsame Hinterlassenschaften eines Weltweisen gelesen werden sollen. Zudem überschätzt die Autorin ihre Fähigkeit zur Zeitdiagnose, je mehr sie den Roman als Auseinandersetzung mit dem Kommunismus ausgibt. Die beiden Väter der Freunde, so verraten die Briefe, waren jeder auf seine Weise durch ihr Engagement für die Politik in ihrer privaten Existenz deformiert worden, ihr Übel hat sich auf die Söhne vererbt. Der Roman ist so geschrieben, daß ihn der Leser mit dem Lächeln eines Erwachsenen den sehr ernsten Spielen der Kinder gegenüber liest. Dem politischen Ernst in diesen Spielen vermag er dann aber doch keinen Glauben zu schenken. HANNELORE SCHLAFFER
Susanna Tamaro: "Anima mundi". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Maja Pflug. Diogenes Verlag, Zürich 1997. 342 S., geb., 39,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Susanna Tamaro geht, wohin die Weltseele sie trägt
Jugend, oder besser gesagt: Jugendlichkeit ist das dominante Motiv, das die Romangeschichte mit "Tom Jones" und "Werther" im achtzehnten Jahrhundert entdeckte. In vielen fiktiven Lebensläufen hat sie dieses Modell durchdacht und perfektioniert: als Bildungserlebnis, als Künstlerroman, als Reisemotiv, als Liebesgeschichte - seine Erschöpfung ist nicht abzusehen. Noch Kerouacs hitchhiking und Brinkmanns Romreise halten sich an dieses Modell und nützen die Chance, darin gesellschaftlichen Protest zu artikulieren. Denn die fiktive Jugendlichkeit des Romans ist immer Flucht, Verachtung, Widerstand, Trotz. Deshalb ist dieses Motiv die bevorzugte Allegorie für das intellektuelle Außenseitertum des Autors selbst. Eine gezähmte Variante des Genres haben die bundesrepublikanischen Schriftsteller mit ihren Kindheitserinnerungen entworfen. Der kindliche Zustand erzeugt hier eine sanftere Art, außerhalb der Welt der Konventionen zu sein, als sie dem jugendlichen Protest möglich wäre.
Dem furiosen Temperament der Susanna Tamaro, der italienischen Bestsellerautorin, die sich mit ihrem Roman "Geh, wohin dein Herz dich trägt" einen Welterfolg erschrieben hat, ist es gelungen, dem Stoff eine neue Lesart hinzuzufügen, die selbst ihre Kritiker, wenn sie nur ein paar Trivialitäten durchgehen lassen wollten, unterhalten könnte. Ihr Held, der in dieser neuen Version des Bildungsromans nicht zufällig den deutschen Namen Walter trägt, ist zunächst nichts weiter als der angry young man, der seine Eltern haßt, der meint, die Welt im Sturm erobern zu können, scheitert, zerbricht und sich wieder und wieder aufrafft; eigentlich aber ist er ein verzweifelter Protestant und Gottessucher. Der lutherische Charakter dieses Helden ist im katholischen Italien eine bisher unbekannte Erscheinung im Personal des Romans der Jugendlichkeit.
Die Mischung aus Wildheit und Ernst, aus Zerstörungswut und Glaubenseifer - bei den jugendlichen Romanhelden bislang ein schwaches Flämmchen, das Gesittung und Bildungseifer stets in Grenzen hielten - bricht aus Tamaros ehrgeizigem Dichter heraus wie eine Naturgewalt. Sein Herz ist ein Vulkan, seine Hände sind Zangen, die zerreißen, was immer sie zu fassen bekommen. Die Wut über die Grenzen, die die Welt seinem Talent setzt, basiert wie bei jedem Bildungshelden auf einem ideellen Lebensentwurf, doch ist dieser nicht ideell, nicht verinnerlicht genug, als daß er nicht doch auch den Körper in heftige Bewegung setzte. Wenn die tief gehaßte Mutter stirbt, zerstört sich dieser verlorene Sohn selbst; wenn der Vater stirbt, demoliert er dessen Wohnung; wenn der Freund stirbt, verflucht er Gott und die Welt; und eigentlich stirbt und entgleitet ihm ohnehin alles - immer wird er handgreiflich: zerschlägt Möbel, zerfetzt Kleider, zerstört sich selbst durch Alkohol und Drogen. Seine Enttäuschung verheert die Heimat, aus der er sich selbst vertrieben hat, weil sie ihm nicht zu Willen war.
Bei alledem bleibt der Held doch Held, er wird, obgleich er sich die Haare rauft, kein Struwwelpeter, kein lächerlicher Flegel. Die Ungebärdigkeit rechtfertigt sich als Suche nach der Wahrheit und dem Wesen der Welt. Sie ist so verzeihlich wie possierlich, denn, das gesteht der geneigte Leser zu, es ist nun einmal so, daß dem Menschen in seiner Schwäche bei einem solch großen Unterfangen viele Unklugheiten und Peinlichkeiten unterlaufen. Die Autorin jedenfalls bringt es dahin, daß die vielen Banalitäten, die da über Sinn und Zweck des menschlichen Daseins geäußert werden, als philosophische Versuche eines begabten Dilettanten gelten können.
Walter findet sein Alter ego in Andrea, einem nicht weniger poetisch veranlagten Freund. Andreas Poesie aber ist mündlicher Gesang, er erfindet das Epos von der Entstehung der Welt, einen selbst geschaffenen Mythos, dessen kindliche Farbigkeit die schlichten Fragen, die am Ursprung seiner Erfindungen stehen, vergessen macht. "Am Anfang war die Leere", so beginnt der Ich-Erzähler seinen Lebensroman im Ton des Freundes, der ihm mit seinen Philosophemen so imponiert. Die Leere, die nun von den beiden durch mythische Bilder umstellt und durch den Schutt, den ihre Zerstörungen erzeugen, gefüllt werden soll, entsteht aus dem Verlust der elterlichen Liebe, dem die Ausstoßung aus der Welt der Erwachsenen, der Mäzene, der Filmproduzenten, notwendig folgt. Man könnte das Buch ein Denkmal für die Mutter nennen, denn die psychische Katastrophe des Helden bricht nach ihrem Tod aus, gerade in dem Moment, als der eigentliche Adressat der Empörung dahingegangen ist: "Im Grunde genommen war sie der einzige Mensch, mit dem ich ein bißchen Gemeinsamkeit erlebt hatte. Für eine Weile hatten wir in meiner Kindheit eine glückliche Insel gebildet, wir zwei gegen den Rest der Welt."
Es verwundert nicht, daß die Wanderschaft schließlich in ein Kloster und in die Kammer einer sterbenden Nonne führt. Diese hat den Freund des Helden begraben und wird die letzte sein, deren Tod der Held durchzustehen hat, ehe er aus der Leere in die Erstarrung eingeht: "Während ich las", so beendet er seine Lebensbeichte, "fielen wieder große Schneeflocken vom Himmel." Die Resignation des temperamentvollen Taugenichts allerdings bringt die Problematik der melodramatischen Erzählweise seiner Schöpferin an den Tag. Sobald der Held nicht mehr um sich schlägt, wird er sentimental. Spätestens dann, wenn er die bei der Nonne zurückgelassenen Briefe des verstorbenen Freundes auffindet, wird der Leser ungläubig gegen den Figurenentwurf. Dieses Resümee eines dilettierenden Brausekopfes ist schwer goutierbar. Die dahergeplapperten Mythen des Freundes Andrea nehmen sich albern aus, sobald sie im Brief und in der Schrift wie bedeutsame Hinterlassenschaften eines Weltweisen gelesen werden sollen. Zudem überschätzt die Autorin ihre Fähigkeit zur Zeitdiagnose, je mehr sie den Roman als Auseinandersetzung mit dem Kommunismus ausgibt. Die beiden Väter der Freunde, so verraten die Briefe, waren jeder auf seine Weise durch ihr Engagement für die Politik in ihrer privaten Existenz deformiert worden, ihr Übel hat sich auf die Söhne vererbt. Der Roman ist so geschrieben, daß ihn der Leser mit dem Lächeln eines Erwachsenen den sehr ernsten Spielen der Kinder gegenüber liest. Dem politischen Ernst in diesen Spielen vermag er dann aber doch keinen Glauben zu schenken. HANNELORE SCHLAFFER
Susanna Tamaro: "Anima mundi". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Maja Pflug. Diogenes Verlag, Zürich 1997. 342 S., geb., 39,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main