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Am 10. September 1928 kommt der jüdische Zahnarzt Max Halsmann in den Tiroler Bergen zu Tode. Noch am selben Tag wird sein Sohn Philipp wegen Verdachts auf Vatermord verhaftet. Prominente Personen von Sigmund Freud bis Albert Einstein, von Jakob Wassermann bis Thomas Mann setzen sich für den jüdischen Angeklagten ein.

Produktbeschreibung
Am 10. September 1928 kommt der jüdische Zahnarzt Max Halsmann in den Tiroler Bergen zu Tode. Noch am selben Tag wird sein Sohn Philipp wegen Verdachts auf Vatermord verhaftet. Prominente Personen von Sigmund Freud bis Albert Einstein, von Jakob Wassermann bis Thomas Mann setzen sich für den jüdischen Angeklagten ein.
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Autorenporträt
Martin Pollack, 1944 in Bad Hall, Oberösterreich geboren, arbeitet als Journalist, freier Autor und Übersetzer. Er veröffentlichte die Bücher: ¿Des Lebens Lauf. Jüdische Familien-Bilder aus Zwischeneuropä (1987), ¿Galizien. Eine Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowinä (2001), ¿Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater¿ (2004), im S. Fischer Verlag die Anthologie ¿Sarmatische Landschaften. Nachrichten aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland¿ sowie 2011 gemeinsam mit Christoph Ransmayr ¿Der Wolfsjäger. Drei polnische Duette¿. Zuletzt erschien ¿Kontaminierte Landschaften¿ (2014). 2007 erhielt Martin Pollack den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln, 2001 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, 2012 den Stanislaw-Vincenz-Preis und 2018 den Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay.Literaturpreise:Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2010Georg-Dehio-Buch
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.09.2002

Ödipus in Innsbruck
Vatermord oder nicht? Martin Pollack rekonstruiert die Geschichte des Halsmann- Prozesses aus dem Jahre 1928
Sie hatten kaum Bergerfahrung und nichts, was man eine alpine Ausrüstung hätte nennen können: weder Steigeisen noch Eispickel, nur gewöhnliche Wanderstöcke. Abends, im Gasthof „Zur Alpenrose”, erzählten sie, dass sie am nächsten Tag „den Schwarzenstein machen” wollten, ohne Führer, da die Tour im Baedeker als völlig gefahrlos beschrieben wurde. Man gab zu bedenken, dass viele Gletscher um die Jahreszeit tückische Spalten und Schründe aufwiesen und es ratsam sei, sich einem ortskundigen Führer anzuvertrauen. Sie nahmen den Rat an. Feixend soll der ältere von ihnen aber noch hinzugefügt haben, sein Sohn sehe ihn vielleicht gar nicht so ungern abstürzen. Er warte ja nur darauf, ihn zu beerben, einen Gefallen, dem er ihm so schnell nicht tun wolle. Gerüchte finden immer geneigte Ohren. Die angeblichen Äußerungen des Vaters wurden später noch oft zitiert.
Eine harmlose Böschung
War es ein Unfall? War es Vatermord? Der aus Riga stammende Zahnarzt Morduch Max Halsmann und sein zweiundzwanzigjähriger Sohn Philipp hatten den Schwarzenstein am 10. September 1928 längst hinter sich gelassen, als auf dem Weg ins Tiroler Zillertal der Vater tödlich stürzte. Seine Leiche wies zahlreiche Verletzungen auf, darunter eine breitklaffende Stirnwunde, die mit dem Absturz an der harmlosen Böschung kaum zu erklären war. Noch am selben Tag verhaftete man Philipp Halsmann wegen Verdachts auf Vatermord, eine Tat, die er bis zum Schluss vehement bestritt. Es war der Beginn eines Indizienprozesses, der weit über Österreich hinaus für Aufsehen sorgte: Jakob Wassermann, Fritz Kortner und Albert Einstein traten für den Angeklagten ein. Und auch Thomas Mann wurde neugierig. In einem Brief an Sigmund Freud versicherte er, dass er „nicht übel Lust hätte”, der Halsmann-Verhandlung vor dem Obersten Gericht beizuwohnen.
Der österreichische Autor Martin Pollack hat viel Zeit in Archiven und Bibliotheken verbracht und mit „Anklage Vatermord: Der Fall Philipp Halsmann” eine Prozessgeschichte rekonstruiert, die sich wie ein Krimi liest. Dabei ist von Beginn an klar, dass es hier keine Lösung geben wird, dass das „Wer ist es gewesen?” widerhallt wie das Echo in den Bergen. Der Autor agiert wie ein Fotograf in der Dunkelkammer: Immer neue Interpretationen und Möglichkeiten entstehen im „Blow up” der Tatortaufnahmen. Und es werden so viele Detailansichten entwickelt, dass sie sich zu einem einzigen Bild nicht mehr zusammenfügen lassen.
Schon die Ermittler konnten den Aufnahmen von der Absturzstelle keine Beweise abringen. Zwar war die Fotografie juristisch an die Stelle des Augenscheinbeweises getreten, mussten amtierende Richter sich nicht länger die Mühe machen, den Tatort (in diesem Fall ein Unglücksort?) selbst aufzusuchen. Reproduktionen übernahmen die Wahrnehmung eines Verbrechens oder der davon zurückgelassenen Spuren. Im Verlauf der Halsmann-Verhandlungen allerdings brechen gleich zwei Expedition zum Lokalaugenschein ins Zillertal auf.
Dabei ist es vor allem der Angeklagte selbst, der sich durch widersprüchliche Aussagen mehr und mehr verstrickt: Hatte er zunächst angegeben, dass der Vater hinter ihm gegangen und stehen geblieben sei, um sich seiner so genannten Notdurft zu entledigen, behauptet er jetzt, er sei vor ihm gegangen, als er ihn plötzlich mit leisem Aufschrei den zum Bach führenden Hang hinunterstürzen sah. Messungen werden vorgenommen, mit einer Puppe Fallstudien durchgeführt und Gipfelbücher eingesehen, um einem möglichen Dritten, einem ganz anderen Täter, auf die Spur zu kommen. Die Verteidigung beauftragt einen Psychologen, mit Hilfe einer Stoppuhr festzustellen, wie lange Männer mittleren Alters beim Pinkeln benötigen. Männer über fünfundvierzig, so das Ergebnis, bräuchten in der Regel ein bis zwei Minuten. Der Staatsanwalt, der seinerseits einen Späher in die Pissoirs schickte, ermittelt eine viel kürzere Dauer. Wie lange also mochte der Vater am Hang gestanden haben?
Ein verdächtiger Anwalt
Pollacks Leser sind nicht die ersten Amateurdetektive, denen der „Fall Philipp Halsmann” Rätsel aufgibt. Der Wirt der nahe gelegenen Dominikushütte stöberte als erster am Absturzort herum und verwischte wichtige Spuren; der Innsbrucker Geschäftsmann Richard Glaser führte Versuche mit Banknoten durch, um ihren Verwitterungszustand mit den am Tatort gefundenen zu vergleichen; und einer der Geschworenen fand beim Sherlock-Holmes-Spielen in den Büschen oberhalb des Weges eine Hacke. Das behauptete er zumindest, so wie andere plötzlich gestanden, den Mord selbst begangen zu haben: Für einen Tag der Star der Kronen-Zeitung sein, war alles was sie wollten.
In der Presse wie im Gerichtssaal ging es aber noch um etwas anderes: Philipp Halsmann war jüdischer Herkunft und der Antisemitismus in Tirol sehr verbreitet. Pollack begibt sich auf den schmalen Grat von Kriminalgeschichte und politischem Schauprozess, der die „Akte Halsmann” in ihrer Zeit zur exemplarischen Fallgeschichte macht. Allein die Tatsache, dass Halsmanns Anwalt im ersten Verfahren aus dem „roten Wien” kommt, das in Tirol als „Vorposten des Bolschewismus” und als „jüdisch unterwandert” gilt, sorgt in Innsbruck für helle Aufregung. Dass der Prozess im Bergsteigermilieu angesiedelt ist, verschärft die Fronten nur noch mehr. Die alpinen Vereine hatten den Antisemitismus höchst selbst in die Berge getragen. Weithin sichtbar waren an Alpenvereinshütten Hakenkreuze oder Tafeln angebracht worden, die „den Juden” den Zutritt verboten. Auch auf der Tatortskizze, die den Geschworenen vorlag, soll sich ein Hakenkreuz befunden haben: Es diente angeblich zur Markierung der Unglücksstelle.
Halsmann, der es seinen Anwälten während der Verhandlungen alles andere als einfach machte, wird im ersten Prozess zu zehn Jahren schwerem Kerker, im zweiten zu vier Jahren verurteilt und beide Male des Totschlags an seinem Vater schuldig gesprochen. Am 30. September 1930 begnadigt ihn Bundespräsident Wilhelm Miklas. Später wird er nach Amerika gehen und sich als Fotograf für LIFE mit Aufnahmen von Marilyn Monroe, Audrey Hepburn, Brigitte Bardot und Grace Kelly einen anderen Namen machen. Auch im Zillertal hatte er eine Kamera dabei. Es war seine erste. Als die Aufnahmen, die er während der Bergtour gemacht hatte, den Geschworenen vorgelegt werden sollten, damit sie sich von dem Vater-Sohn-Verhältnis – dem „Ödipus in Innsbruck”, wie es Erich Fromm in einem Aufsatz nannte – ein Bild machen konnten, waren diese plötzlich spurlos verschwunden. Erst nach dem Prozess tauchen sie wieder auf. Pollacks Buch ist ganz ähnlich: wie wiedergefundene Bilder.
JULIA ENCKE
MARTIN POLLACK: Anklage Vatermord. Der Fall Philipp Halsmann. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2002. 324 Seiten. 21,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.2002

Flucht über den Atlantik
Martin Pollack erzählt den Mordfall Philipp Halsmann

Der zeitgenössische deutsche Literaturboom, so scheint es, hat auch hierzulande einem Genre Marktchancen eröffnet, das man im angelsächsischen Sprachraum schon lange als "creative nonfiction" kennt. Zwar sind literarisch ehrgeizige deutsche Autoren noch weit entfernt von Verkaufserfolgen, wie sie die Amerikaner Sebastian Junger, Isaak Larson oder Jon Krakauer inzwischen auch bei uns erzielen. Aber es gibt auch eine genuin deutsche Tradition jener weder der fiktionalen noch der wissenschaftlichen Literatur bruchlos zurechenbaren "Bücher ohne Familiennamen" (Michael Rutschky). Ihre Ahnreihe könnte man in den Zwanzigern mit Benjamins "Einbahnstraße" oder Kracauers Angestelltenbuch beginnen lassen. Und in der Gegenwart macht sie, wie Dirk Knipphals nachgewiesen hat, in Gestalt einer seltsam klandestinen künstlerischen Allianz zwischen den Popromanen von Rainald Goetz und den literarischen Konzeptkunst-Projekten von Walter Kempowski wieder auf sich aufmerksam.

Das merkwürdige, schöne und rührende Buch Martin Pollacks über den Mordprozeß, in den der spätere Prominentenfotograf Philippe Halsman als junger Mann verwickelt war, gehört in etwa derselben Weise in jene Tradition wie die biographisch-historiographischen Fallbeschreibungen aus dem Nationalsozialismus, die Tom Lampert vor einem Jahr unter dem Titel "Ein einziges Leben" veröffentlicht hat. Und es macht sich in etwa derselben Weise um die Erhellung verborgener antisemitischer Tiefenpathologien und des "autoritären Charakters" verdient. Am 10. September 1928 brach der jüdische Ingenieurstudent Philipp Halsmann mit seinem Vater Morduch, einem Rigaer Zahnarzt, zu einer Bergtour in den Zillertaler Alpen auf. Der Vater stürzte, der Sohn ging zurück, um Hilfe zu holen; gefunden wurde Morduch Halsmann dann später am Absturzort mit entsetzlichen Kopfwunden, tot. Was damals wirklich passiert ist, konnte weder im Prozeß Anfang der dreißiger Jahre zweifelsfrei geklärt werden, noch wird es heute noch zu rekonstruieren sein. Fest steht, daß alle Indizien und jede psychologische Wahrscheinlichkeit gegen eine Täterschaft Philipp Halsmanns sprachen, der freilich trotzdem, in einem durch offene antisemitische und nationalsozialistische Propaganda begleiteten Geschworenenprozeß, des Totschlags an seinem Vater schuldig gesprochen und zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, die durch Amnestie ein vorzeitiges Ende fand. Halsmann ging nach Paris, heiratete und machte in Amerika eine Karriere, durch die er zu einem modernen Klassiker der Porträtfotografie wurde.

Der heute vergessene Prozeß gegen Philipp Halsmann war zu Beginn der Dreißiger ein politisches Medienereignis von europäischer Dimension, in dem sich die Fronten des erstarkenden Faschismus und der europäischen Demokratie gegenüberstanden. Sigmund Freud, Eugen Bleuler und Erich Fromm erstellten Gutachten, Thomas Mann, Jakob Wassermann und Albert Einstein verfaßten Aufrufe, die prominentesten Juristen der Zeit plädierten, kommentierten und intervenierten. Es war eine juristische Auseinandersetzung, in der sich die gesellschaftlichen Kräftegruppierungen plötzlich so unversöhnlich wie unverkennbar gegenüberstehen: auf der einen Seite der jüdische Student mit künstlerischen Neigungen und Freunden, dem Intellektuelle, linke Politiker, fortschrittliche Juristen öffentlichkeitswirksam zu Hilfe eilen; auf der anderen die hinterwäldlerischen Tiroler Geschworenen, die sich unter dem Druck von heimischen Antisemiten, deutschen Nazis, Provinzpolitikern und lokaler Fremdenverkehrswirtschaft fühlen. Dazwischen, als ideale Projektionsfläche all dieser Interessen, Ressentiments, Hochherzigkeiten und Ideologien, der ungelöste und immer unlösbarer werdende Mord in den Bergen: Es war die Dreyfusaffäre der späten Weimarer Republik.

Martin Pollack hat der Versuchung widerstanden, das brisante Material im Sinn jenes klassischen "J'accuse" zu bearbeiten. Man kann nichts Lobenderes über sein Buch sagen, als daß es die Verwicklungen und Wendungen der kriminalistischen, juristischen und politischen Ermittlungen und Weiterungen in einer klaren, schönen, an manchen Stellen ganz leicht und sympathisch (und dem Gegenstand angemessenen) süddeutsch gefärbten Sprache ausführlich schildert. In einer Manier, die ebenso an die Bücher W. G. Sebalds erinnert, wie sie als dokumentarische Notwendigkeit durchgehen kann, sind die erzählten Begebenheiten durch Fotos und Zeichnungen illustriert, deren Zusammenspiel mit dem Text das merkwürdige Zwielicht zwischen fiction und non-fiction verbreitet, das gelungene Bücher jener Tradition auszeichnet.

Widerstanden hat Martin Pollack aber auch einer anderen Versuchung. Das Leben des späteren Künstlers Philipp Halsmann/Philippe Halsman hat durch den Tod seines Vaters, durch die Verurteilung wegen Totschlags und die offenbar sehr harte Haft, aus der er gesundheitlich angeschlagen hervorgegangen ist, eine Wendung ins offen, selbstbewußt und schließlich hochprofessionell Künstlerische genommen, das in seinem bisherigen Leben wohl angelegt war, sich aber nur in der Freundschaft mit einer Künstlerin und in gelegentlichen dichterischen Experimenten verwirklichen konnte. Es ist, als hätten ihn die Wünsche und Konventionen des Vaters nicht nur in der immer ein wenig depressiven, gesellschaftlich resignierten und dann bald unmittelbar lebensbedrohlichen Lage des assimilierten, bildungsbeflissenen, auf die deutsche Kultur orientierten Judentums festgehalten, das im Osten Europas vor dem Holocaust die kreativste, aber auch unglücklichste Fraktion der bürgerlichen Elite gebildet hat. Daß dem jungen Mann Deutschland und dann bald das deutsch beherrschte Europa verleidet war, hat ihn nicht nur in der amerikanischen Gesellschaft aufgehen lassen, in der seine jüdische Herkunft nur noch biographischer Zufall war. Der Tod des Vaters und die Flucht über den Atlantik hat auch seine Kreativität in spektakulärer und rührender Weise befreit.

Derlei Betrachtungen, die einen auf das Verhältnis des Künstlers Franz Kafka zu dem Bürger Hermann Kafka führen könnten, werden von Pollacks dokumentarischer Methode zwar angeregt, aber nicht aufgegriffen. Die Wendung vom gehorsam studierenden Sohn zum bedeutenden Künstler bleibt so ungeklärt wie die Vorgänge in den Zillertaler Alpen im September 1928. Aber vielleicht ist diese Verschwiegenheit, die das Geheimnis eines Lebens bewußt nicht antasten will, die größte Stärke des dokumentarischen Verfahrens. Es schweigt beredt. Die Hanser/Zsolnay-Verlagsgruppe, in der bereits das Werk W. G. Sebalds erscheint und die das Buch Tom Lamperts herausbrachte, hat sich mit Pollacks "Anklage Vatermord" um die zeitgenössischen deutschen "Bücher ohne Familiennamen" erneut verdient gemacht.

Martin Pollack: "Anklage Vatermord". Der Fall Philipp Halsmann. Zsolnay Verlag, Wien und München 2002. 324 S., geb., 21,50 [Euro].

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