Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.05.1999Glück im Pech
BERLIN. Wer Alexander Osang nicht kennt, hat Glück und Pech zugleich: Glück, weil er dann nicht zu des Reporters Bekannten gehört, die bei jeder Begegnung riskieren, später in einer von Osangs beängstigend kritischen Reportagen als armer Narr oder öliger Aufschneider aufzutauchen. Osang schreibt von Berlin und zerrt dabei alles und alle an die Öffentlichkeit der "Berliner Zeitung" - seine Freunde, den Schuh seines Kindes, seinen behinderten Nachbarn und seine Kollegen. Besonders die Kollegen kommen bei Osang eher schlecht weg und werden sich über den Reporter ärgern oder denken: Hauptsache, ich werde erwähnt. Denn Osang hat seine Unverschämtheiten und die Wendungen seiner Zeitung vom SED-Parteiblatt zur modern frisierten Hauptstadtgazette vor allem deswegen heil überstanden, weil er ein begnadeter Geschichtenfinder und Stadtbeschreiber ist. Deshalb hat man nicht bloß Glück, sondern auch ein bißchen Pech, wenn man Alexander Osang nicht kennt. Osang ist kein Reporter der Weltpolitik. Er mißt vielmehr die Erschütterungen, die deren ferne Beben in den Hinterhöfen Berlins auslösen. Am Thema Hauptstadt findet Osang das interessant, was vielleicht Herr Wussack und Herr Plonsky aus der Brückenstraße dazu sagen: "Voll seltsam." Osang macht aus deren Alltag Literatur. Wenn er sich in einem Tip-Supermarkt in Frankfurt an der Oder für ein paar Stunden neben die Kassiererinnen hockt und ihnen zuhört, dann erfährt man anschließend mehr über den Zustand des östlichen Landes als anderswo. Aber Ausflüge macht Osang selten, meistens ist er in Berlin unterwegs und schreibt auf, was er sieht. Wie gut Osang das kann, wird dem Leser mancher der nun hundertfach erscheinenden Ortsbesichtigungen vieler Neu- und Neuestberliner verständlich, die Zeitgeist und Regierungsumzug nach Berlin schwemmen wie die Flut die Quallen an den Strand. Osang gehört - neben einigen hauptstadterprobten Kollegen - zu den Beobachtern des Anfangs, zu den Kennern der Grundmauern des neuen Berlin. Daß er dort allerlei Schwammiges und Sumpfiges entdeckt, viel kleines Elend neben dem hohen Glanz findet, liegt in der Natur der Sache. Jedenfalls ähnelt das wahre Berlin eher Osangs Reportagen als den Imagebroschüren der neuen Hauptstadt. Zum Glück. (Alexander Osang: Ankunft in der neuen Mitte. Reportagen und Porträts. Ch. Links Verlag, Berlin 1999. 232 Seiten, 29,80 Mark.)
pca.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
BERLIN. Wer Alexander Osang nicht kennt, hat Glück und Pech zugleich: Glück, weil er dann nicht zu des Reporters Bekannten gehört, die bei jeder Begegnung riskieren, später in einer von Osangs beängstigend kritischen Reportagen als armer Narr oder öliger Aufschneider aufzutauchen. Osang schreibt von Berlin und zerrt dabei alles und alle an die Öffentlichkeit der "Berliner Zeitung" - seine Freunde, den Schuh seines Kindes, seinen behinderten Nachbarn und seine Kollegen. Besonders die Kollegen kommen bei Osang eher schlecht weg und werden sich über den Reporter ärgern oder denken: Hauptsache, ich werde erwähnt. Denn Osang hat seine Unverschämtheiten und die Wendungen seiner Zeitung vom SED-Parteiblatt zur modern frisierten Hauptstadtgazette vor allem deswegen heil überstanden, weil er ein begnadeter Geschichtenfinder und Stadtbeschreiber ist. Deshalb hat man nicht bloß Glück, sondern auch ein bißchen Pech, wenn man Alexander Osang nicht kennt. Osang ist kein Reporter der Weltpolitik. Er mißt vielmehr die Erschütterungen, die deren ferne Beben in den Hinterhöfen Berlins auslösen. Am Thema Hauptstadt findet Osang das interessant, was vielleicht Herr Wussack und Herr Plonsky aus der Brückenstraße dazu sagen: "Voll seltsam." Osang macht aus deren Alltag Literatur. Wenn er sich in einem Tip-Supermarkt in Frankfurt an der Oder für ein paar Stunden neben die Kassiererinnen hockt und ihnen zuhört, dann erfährt man anschließend mehr über den Zustand des östlichen Landes als anderswo. Aber Ausflüge macht Osang selten, meistens ist er in Berlin unterwegs und schreibt auf, was er sieht. Wie gut Osang das kann, wird dem Leser mancher der nun hundertfach erscheinenden Ortsbesichtigungen vieler Neu- und Neuestberliner verständlich, die Zeitgeist und Regierungsumzug nach Berlin schwemmen wie die Flut die Quallen an den Strand. Osang gehört - neben einigen hauptstadterprobten Kollegen - zu den Beobachtern des Anfangs, zu den Kennern der Grundmauern des neuen Berlin. Daß er dort allerlei Schwammiges und Sumpfiges entdeckt, viel kleines Elend neben dem hohen Glanz findet, liegt in der Natur der Sache. Jedenfalls ähnelt das wahre Berlin eher Osangs Reportagen als den Imagebroschüren der neuen Hauptstadt. Zum Glück. (Alexander Osang: Ankunft in der neuen Mitte. Reportagen und Porträts. Ch. Links Verlag, Berlin 1999. 232 Seiten, 29,80 Mark.)
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"Bei Alexander Osang vereinen sich der ungetrübte Blick für das Detail und die Gabe, Situationen und Momente zu beschreiben, ohne geschwätzig zu werden, zu einer Kunst, die unterhält, Stimmungen wiedergibt, bestürzt, erfreut, aufrüttelt, Bewußtsein schafft. Die Reportagen und Porträts, die der Egon-Erwin-Kisch- und Theodor-Wolff-Preisträger schreibt, sind durchkomponiert wie gute Musikstücke, ohne deshalb an Authentizität einzubüßen." (Badische Neueste Nachrichten, 10.4.1999) "Osang schwimmt nicht mit im Strom der gängigen öffentlichen Meinung. Wenn er auf einen fahrenden Zug springt, dann nicht als Trittbrettfahrer. Er bremst den Zug, wo er sonst nicht hält, er läßt ihn langsam fahren, wo er eigentlich durchrast, er hat Zeit zum Blumen pflücken am Bahndamm, entdeckt das seltsamste Pflänzchen, über das andere achtlos hinweg trampeln." (NDR Kulturjournal, 30.8.99)