Stalin: eine Bilanz - Wolfgang Leonhard über einen Jahrhundertverbrecher
"Als ich an diesem Septembermorgen 1935 in die Kropotkinstraße einbog, erkannte ich sofort das moderne Gebäude der Karl-Liebknecht-Schule mit seiner hellen Fassade und den großen Fenstern. Ich betrat die Vorhalle, und mein Blick fiel auf die Statue, die dort im Portal stand und die ich jetzt jeden Morgen passieren würde. Ich betrachtete das Gesicht des Mannes, über den man ehrfürchtig als 'Führer der fortschrittlichen Menschheit' sprach. 'Es gibt keine Festung, die die Bolschewiki nicht erstürmen können', war in steinernen Lettern in den Sockel geschlagen. Und die Unterschrift lautete: 'STALIN'. Ich holte tief Luft und stieg die Treppe zu den Klassenzimmern hinauf. Das war unsere erste Begegnung."
Wolfgang Leonhard, Jahrgang 1921, der letzte Überlebende der legendären "Gruppe Ulbricht", verbrachte seine Jugend im Moskauer Exil, seine Eltern wurden Opfer der Säuberungen unter Stalin. In diesem Buch beschäftigt er sich mit jener Figur, die das 20. Jahrhundert maßgeblich geprägt hat - das eindringliche Porträt eines Diktators und seiner Herrschaft.
"Als ich an diesem Septembermorgen 1935 in die Kropotkinstraße einbog, erkannte ich sofort das moderne Gebäude der Karl-Liebknecht-Schule mit seiner hellen Fassade und den großen Fenstern. Ich betrat die Vorhalle, und mein Blick fiel auf die Statue, die dort im Portal stand und die ich jetzt jeden Morgen passieren würde. Ich betrachtete das Gesicht des Mannes, über den man ehrfürchtig als 'Führer der fortschrittlichen Menschheit' sprach. 'Es gibt keine Festung, die die Bolschewiki nicht erstürmen können', war in steinernen Lettern in den Sockel geschlagen. Und die Unterschrift lautete: 'STALIN'. Ich holte tief Luft und stieg die Treppe zu den Klassenzimmern hinauf. Das war unsere erste Begegnung."
Wolfgang Leonhard, Jahrgang 1921, der letzte Überlebende der legendären "Gruppe Ulbricht", verbrachte seine Jugend im Moskauer Exil, seine Eltern wurden Opfer der Säuberungen unter Stalin. In diesem Buch beschäftigt er sich mit jener Figur, die das 20. Jahrhundert maßgeblich geprägt hat - das eindringliche Porträt eines Diktators und seiner Herrschaft.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2009Praktiker der Macht
Wolfgang Leonhard schreibt gegen die Verklärung Stalins
Historisch "Gebildete" neigen dazu, viele Dinge als allgemein bekannt vorauszusetzen. Wenn sich dann herausstellt, dass ihre Umgebung - seien es Schüler, seien es Erwachsene - vieles eben nicht weiß, ist das Unverständnis sehr schnell sehr groß. Der Auftrag, zur historischen Bildung beizutragen, er höret nimmer auf. Und deshalb müssen bestimmte Dinge auch immer wieder gesagt werden. Einer, der von Natur aus sehr gut geeignet ist, im besseren Sinne Geschichte zu erzählen, ist Wolfgang Leonhard. Der mittlerweile Hochbetagte hat schon mehreren Generationen die Schrecknisse des Stalinismus nahegebracht. Das fiel ihm besonders leicht, weil doch der junge Kommunist Leonhard das alles aus nächster Nähe, im Exil in Moskau, miterlebt hatte.
Immer wieder hat er das eigentlich Unbegreifliche geschildert, den Glauben vieler Menschen an den "großen Stalin". Leonhards Glaube wurde nicht einmal durch die Verhaftung seiner Mutter - sie verbrachte insgesamt zehn Jahre in sowjetischen Straflagern - erschüttert. Nur der Abschluss des Hitler-Stalin-Pakts im August 1939 brachte den überzeugten Antifaschisten offenbar kurzzeitig aus dem inneren Gleichgewicht. Aber auch das ging vorbei. Während des Krieges stieg der namenlose Emigrant Leonhard dann in den Apparat der Kommunistischen Internationale (Komintern) auf. Er wurde an einer Komintern-Schule zum hauptamtlichen Funktionär ausgebildet, der zur Verwendung im Nachkriegsdeutschland vorgesehen war. Die erste Sprosse der Karriereleiter erklomm er als Sprecher beim Sender des "Nationalkomitees Freies Deutschland".
Die Faszination des Namens Leonhard für die Bundesrepublik bestand vor allem darin, dass er als jüngstes Mitglied der "Gruppe Ulbricht" 1945 in sein ihm fremd gewordenes Heimatland zurückkehrte und während der ersten Nachkriegsjahre am Aufbau dessen mitwirkte, was später zur DDR wurde. Hier berichtete zum ersten Mal ein "Insider" über die Mechanismen kommunistischer Macht. Vieles, vielleicht alles von dem, was er mitteilte, hätte man sich bei aufmerksamem Hinschauen auch so denken können. Aber dass es sich wirklich so verhielt, das galt in den fünfziger Jahren als sensationell.
Leonhard hat seine reichhaltigen Erinnerungen an die Terrorherrschaft Stalins ein weiteres Mal - kurz, aber wie immer anschaulich - aufgeschrieben. Die "Anmerkungen zu Stalin" sind ihm, so schreibt er in der Einleitung, freilich aus sehr aktuellem Anlass aus der Feder geflossen. Im Russland des Wladimir Putin, des guten Freundes eines ehemaligen deutschen Bundeskanzlers, findet in der Tat eine positive Rückbesinnung auf einen der größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts statt. In der Umfrage eines nationalen Fernsehsenders wurde Stalin im vergangenen Jahr sogar zur "bedeutendsten historischen Persönlichkeit" Russlands gewählt. In gewisser Weise ist das leider sogar korrekt. Nur meinten es die Fernsehzuschauer vermutlich positiv, als sie für Stalin votierten.
Das Problem mit Stalin ist das aus anderen Ländern bekannte. Zeitzeugen gibt es fast nicht mehr. Diejenigen, die das wahre (böse) Bild des Diktators zeichnen könnten, sind erst recht nicht mehr am Leben. Und die anderen erinnern sich nur noch an das, woran sie sich erinnern wollen. Leonhard erwähnt, dass dies sogar schon im Moskau der dreißiger Jahre funktionierte. Die Verhaftungswelle der euphemistisch so genannten "großen Säuberung" hatte spätestens im Jahre 1938 ein nur noch wahnsinnig zu nennendes Stadium erreicht. Kaum war sie gestoppt, verblasste bei den - vermutlich zufällig - nicht Verhafteten die Erinnerung an die schrecklichen Nächte, in denen man sich vor dem Klopfen an der Wohnungstür fürchtete. Die Schergen des Geheimdienstes kamen nämlich bevorzugt nachts. Die Verdrängung führte aber nicht so weit, dass sich die Menschen nun getraut hätten, über die Verhaftungen zu sprechen. Insofern funktionierte das System auch ohne den offenen Terror.
In Leonhards "Anmerkungen zu Stalin" steht nichts Überraschendes und nichts Neues. Und trotzdem ist es gut, dass alles abermals aufgeschrieben wurde, dass es in sehr lesbarer Form aufbereitet wurde. Man kann froh sein, dass der Zeitzeuge Leonhard (Jahrgang 1921) noch in der Lage war, auch dieses Buch fertigzustellen. Und man wünschte sich, dass auch die kommunistische Diktatur in der DDR einen Chronisten wie Wolfgang Leonhard finden möge, der einer auch hierzulande bemerkbaren Verharmlosung des Unrechts tapfer entgegenschreibt. Historische Bildung setzt solide Wissenschaft voraus. Aber Wissenschaft allein kann historische Bildung nicht gewährleisten.
PETER STURM
Wolfgang Leonhard: Anmerkungen zu Stalin. Rowohlt Verlag, Berlin 2009. 188 S., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wolfgang Leonhard schreibt gegen die Verklärung Stalins
Historisch "Gebildete" neigen dazu, viele Dinge als allgemein bekannt vorauszusetzen. Wenn sich dann herausstellt, dass ihre Umgebung - seien es Schüler, seien es Erwachsene - vieles eben nicht weiß, ist das Unverständnis sehr schnell sehr groß. Der Auftrag, zur historischen Bildung beizutragen, er höret nimmer auf. Und deshalb müssen bestimmte Dinge auch immer wieder gesagt werden. Einer, der von Natur aus sehr gut geeignet ist, im besseren Sinne Geschichte zu erzählen, ist Wolfgang Leonhard. Der mittlerweile Hochbetagte hat schon mehreren Generationen die Schrecknisse des Stalinismus nahegebracht. Das fiel ihm besonders leicht, weil doch der junge Kommunist Leonhard das alles aus nächster Nähe, im Exil in Moskau, miterlebt hatte.
Immer wieder hat er das eigentlich Unbegreifliche geschildert, den Glauben vieler Menschen an den "großen Stalin". Leonhards Glaube wurde nicht einmal durch die Verhaftung seiner Mutter - sie verbrachte insgesamt zehn Jahre in sowjetischen Straflagern - erschüttert. Nur der Abschluss des Hitler-Stalin-Pakts im August 1939 brachte den überzeugten Antifaschisten offenbar kurzzeitig aus dem inneren Gleichgewicht. Aber auch das ging vorbei. Während des Krieges stieg der namenlose Emigrant Leonhard dann in den Apparat der Kommunistischen Internationale (Komintern) auf. Er wurde an einer Komintern-Schule zum hauptamtlichen Funktionär ausgebildet, der zur Verwendung im Nachkriegsdeutschland vorgesehen war. Die erste Sprosse der Karriereleiter erklomm er als Sprecher beim Sender des "Nationalkomitees Freies Deutschland".
Die Faszination des Namens Leonhard für die Bundesrepublik bestand vor allem darin, dass er als jüngstes Mitglied der "Gruppe Ulbricht" 1945 in sein ihm fremd gewordenes Heimatland zurückkehrte und während der ersten Nachkriegsjahre am Aufbau dessen mitwirkte, was später zur DDR wurde. Hier berichtete zum ersten Mal ein "Insider" über die Mechanismen kommunistischer Macht. Vieles, vielleicht alles von dem, was er mitteilte, hätte man sich bei aufmerksamem Hinschauen auch so denken können. Aber dass es sich wirklich so verhielt, das galt in den fünfziger Jahren als sensationell.
Leonhard hat seine reichhaltigen Erinnerungen an die Terrorherrschaft Stalins ein weiteres Mal - kurz, aber wie immer anschaulich - aufgeschrieben. Die "Anmerkungen zu Stalin" sind ihm, so schreibt er in der Einleitung, freilich aus sehr aktuellem Anlass aus der Feder geflossen. Im Russland des Wladimir Putin, des guten Freundes eines ehemaligen deutschen Bundeskanzlers, findet in der Tat eine positive Rückbesinnung auf einen der größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts statt. In der Umfrage eines nationalen Fernsehsenders wurde Stalin im vergangenen Jahr sogar zur "bedeutendsten historischen Persönlichkeit" Russlands gewählt. In gewisser Weise ist das leider sogar korrekt. Nur meinten es die Fernsehzuschauer vermutlich positiv, als sie für Stalin votierten.
Das Problem mit Stalin ist das aus anderen Ländern bekannte. Zeitzeugen gibt es fast nicht mehr. Diejenigen, die das wahre (böse) Bild des Diktators zeichnen könnten, sind erst recht nicht mehr am Leben. Und die anderen erinnern sich nur noch an das, woran sie sich erinnern wollen. Leonhard erwähnt, dass dies sogar schon im Moskau der dreißiger Jahre funktionierte. Die Verhaftungswelle der euphemistisch so genannten "großen Säuberung" hatte spätestens im Jahre 1938 ein nur noch wahnsinnig zu nennendes Stadium erreicht. Kaum war sie gestoppt, verblasste bei den - vermutlich zufällig - nicht Verhafteten die Erinnerung an die schrecklichen Nächte, in denen man sich vor dem Klopfen an der Wohnungstür fürchtete. Die Schergen des Geheimdienstes kamen nämlich bevorzugt nachts. Die Verdrängung führte aber nicht so weit, dass sich die Menschen nun getraut hätten, über die Verhaftungen zu sprechen. Insofern funktionierte das System auch ohne den offenen Terror.
In Leonhards "Anmerkungen zu Stalin" steht nichts Überraschendes und nichts Neues. Und trotzdem ist es gut, dass alles abermals aufgeschrieben wurde, dass es in sehr lesbarer Form aufbereitet wurde. Man kann froh sein, dass der Zeitzeuge Leonhard (Jahrgang 1921) noch in der Lage war, auch dieses Buch fertigzustellen. Und man wünschte sich, dass auch die kommunistische Diktatur in der DDR einen Chronisten wie Wolfgang Leonhard finden möge, der einer auch hierzulande bemerkbaren Verharmlosung des Unrechts tapfer entgegenschreibt. Historische Bildung setzt solide Wissenschaft voraus. Aber Wissenschaft allein kann historische Bildung nicht gewährleisten.
PETER STURM
Wolfgang Leonhard: Anmerkungen zu Stalin. Rowohlt Verlag, Berlin 2009. 188 S., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ausgesprochen wichtig findet Peter Sturm dieses Buch Wolfgang Leonhards gegen die Verklärung Stalins. Der frühere Angehörige der "Gruppe Ulbricht" und Komintern-Funktionär Leonhard sieht sich zu einer Art Gegendarstellung veranlasst angesichts der positiven Rückbesinnung in Russlund auf den Diktator und der Verharmlosung der stalinistischen Verbrechen, erfahren wir. Diese Verdrängung habe schon in den dreißiger Jahren, direkt nach Stalins "Säuberungen" bestens funktioniert; und sogar der Autor selbst habe sich lange nicht vom Glauben an Stalin abbringen lassen - auch nicht durch die Verhaftung der eigenen Mutter, wie Sturm uns wissen lässt. Seine Erinnerungen an das stalinistische Regime, findet Sturm, beschreibt der Autor nun "kurz, aber wie immer anschaulich". Zwar präsentiere Leonhard keine neuen oder überraschenden Erkenntnisse, der Rezensent betont aber die Wichtigkeit einer derartigen Dokumentation und wünschte sich auch für die DDR einen solchen Chronisten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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