Im Hause von Stiwa Oblonski ist alles aus dem Gleise geraten, denn er hat mal wieder ein Verhältnis - diesmal mit einer früheren Gouvernante der Familie. Seine Schwester Anna, verheiratet mit dem hohen Petersburger Beamten Karenin, kommt als wahre Friedensstifterin in all die Aufregung. Wenig später jedoch ist sie selbst in viel tieferen Nöten: Sie hat sich in den schönen jungen Grafen Wronski verliebt und bekennt sich zu ihrer Liebe. Einer Frau verzeiht die Gesellschaft einen Verstoß gegen die Konventionen nicht so leicht wie dem flatterhaften Stiwa. Darüberhinaus verweigert der mächtige Karenin Anna die Scheidung und den Sohn.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.10.2009Eifersucht und Eisenbahn
Leo Tolstois „Anna Karenina” in neuer Übersetzung
„Schreiende Widersprüche” hatte 1908 Lenin in seinem Aufsatz über Tolstois „Anna Karenina” entdeckt, einem Werk, das damals längst schon in den Kanon der Weltliteratur aufgenommen gewesen war. Diese Karriere hat Tolstois Roman vor allem wegen der Geschichte seiner Titelheldin gemacht, einer Ehefrau aus den obersten Rängen der Gesellschaft, die sich in den jüngeren Offizier Wronski verliebt und mit ihm die Ehe bricht. Wronski setzt für dieses Abenteuer alle Aufstiegschancen aufs Spiel, die Eifersucht aber treibt Anna schließlich zum Selbstmord und den Geliebten zur Teilnahme am Kampf der Montenegriner gegen die Türken, in dem auch er, verzweifelt über den gescheiterten privaten Aufstand, den Tod zu finden hofft. Diese Tragödie aus weiblicher Verführungskunst, Leidenschaft und Liebestod ist ein bewährtes Erzählschema des 19. Jahrhunderts und trägt dazu bei, Tolstois Werk bis heute in Erinnerung zu halten, wenngleich inzwischen häufiger der Film als die Lektüre das Gedächtnis auffrischt.
Die Widersprüche, die Lenin in diesem monumentalen Werk von mehr als tausend Seiten erkannte, konnte er am glatten Handlungsgang der Ehebruchsgeschichte nicht beobachtet haben. Vielmehr spricht Lenin von den latenten „Widersprüchen der Epoche selbst”, die sich im Roman niedergeschlagen haben. Das Werk Tolstois fällt in eine Phase des Umbruchs der russischen Gesellschaft, die 1861 mit der Aufhebung der Leibeigenschaft beginnt und in die russische Revolution mündet. Mit „Anna Karenina” setzt Tolstoi die Geschichte Russlands, die er in „Krieg und Frieden” begonnen hatte, in seine Gegenwart hinein fort. An einer Geschichte der Epoche Peters II., die er beschreiben wollte, war er gescheitert. Der Selbstmord einer Anna Stepanowa Sykowa aber, die sich in der Nähe von Jasnaja Poljana, dem Gut Tolstois, aus Eifersucht vor einen Eisenbahnzug warf, gab ihm die Idee eines zeitgeschichtlichen Romans ein. 1873 begann Tolstoi die Arbeit am Roman, 1876, so lässt sich erschließen, findet im Roman Annas Selbstmord statt, 1877/78 erschien diese romanhafte Kulturgeschichte Russlands endgültig in der Buchfassung.
In künstlerischer Hellsicht entwarf Tolstoi ein Gemälde dieser Übergangsepoche voller privater Zweifel und heraufziehender politischer Unruhen. Die Handlungslinie der Ehebruchsgeschichte unterbricht er durch viele, in kleine Kapitel verpackte private Ereignisse, die zugleich die Krise der Menschen in einer Welt zwischen Tradition und Moderne, zwischen neuer Technik und altgedientem Handwerk, zwischen Glaube und Unglaube, hergebrachter Ordnung und politischer Utopie spiegeln.
„Die Gedanken eines Menschen und die der Gesellschaft erfahren eine Art kreuzweiser Bestäubung”, so beschreibt Victor Schklowski in einer Biographie Tolstois dessen literarisches Verfahren. Die Ehebruchsgeschichte wird vom Zeitgemälde zur Nebensache herabgestuft, sie ist nur ein Teil dieses großen Gemäldes.
Wer „Anna Karenina” vollständig liest und sich nicht mit Zitat oder Erinnerungen an eine tragisch-pikante Ehebruchsgeschichte begnügt, wird ein größeres Werk antreffen: ein Epos des russischen Lebens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Fast möchte es der Leser, wenn er sich in der Beschreibung der St. Petersburger und Moskauer Aristokratie, ihrer Jagden, Bälle, Familientreffen, Hochzeiten, Geburten verloren hat, wenn er aus der bäuerlichen Arbeit des Gutsbesitzers Konstantin Dmitrijewitsch Lewin wieder auftaucht, bedauern, dass Tolstoi für sein Zeitgemälde keinen besseren Titel fand als „Anna Karenina”, der die Rezeption auf eine Figur konzentriert, die nicht einmal die Hauptfigur genannt werden kann. Die religiösen Skrupel und intellektuellen Zweifel Lewins etwa, der Züge des Autors selbst trägt, nehmen mehr Raum ein und sind intellektuell gewichtiger als die sündige Liebe einer unzufriedenen Ehefrau.
Die Kunst der Charakterisierung ist an Tolstoi oft genug gerühmt worden, und sie entfaltet sich vor allem in diesem Ehebruchsroman mit den vielen, meist verwandtschaftlich verbundenen Figuren, von denen sich nicht einmal sagen ließe, welches Haupt-, welches Nebenfiguren seien: Lewin mit seinen politischen und religiösen Zweifeln? Oder der Beamte Karenin, der sich aus der arroganten Ironie allem Menschlichen gegenüber in einen spiritistischen Aberglauben flüchtet? Oder gar Stepan Arkadjewitsch Oblonski, die Frohnatur, die aus all den Zweifeln und Katastrophen, die ihn umbrausen, immer wieder unbeschädigt auftaucht?
Von ihnen und vielen anderen wird der Leser ein guter Bekannter, denn der innere Monolog – ein von Tolstoi gern verwandtes Stilmittel; selbst der Jagdhund Lanska spricht gelegentlich mit sich über seine Jagdbeute – öffnet ihm die verborgenen Kammern der Seelen, die nichts anderes sind als Seismographen der Zeit.
Der ungläubige Bräutigam
Tolstoi erweist sich nicht nur als Künstler des inneren Monologs, sondern auch als einer des Dialogs. Seine Enthüllungen über den Alltag des Ehelebens sind singulär in der Literaturgeschichte, und sie enthüllen sich immer durch ein eheliches Streitgespräch, durch die Kippelei der jungvermählten Kitty mit ihrem Mann oder durch die zerstörerischen Debatten zwischen Anna und Wronski.
Zwar verlangt Tolstoi, und das nicht selten, viel Geduld von seinem Leser, etwa wenn er zu wiederholten Malen ausführlich die Jagd auf Schnepfen und Bekassinen beschreibt. Er belohnt die Ausdauer dann aber auch wieder durch unvergessliche Szenen, wie die, da der junge Vater, verbannt vor die Türe eines Zimmers, die Geburtswehen seiner Gattin miterleidet, oder jene, da der ungläubige Bräutigam gezwungen ist, vor der Hochzeit zu beichten. Die Begegnung der Konkurrenten Karenin und Wronski am Bett der im Kindbettfieber mit dem Tod ringenden Anna ist ebenso ungewöhnlich wie Annas Aufklärung über Empfängnisverhütung, die sie ihrer vom Kindersegen erschöpften Schwägerin angedeihen lässt. Die letzte Szene des Romans aber gehört Lewin, dem alle Fragen in der Schwebe bleiben – und unendliches Fragen über die „schreienden Widersprüche” der Zeit – dies eigentlich ist das Thema dieses grandiosen Romans.
Vor dem Gewicht einer solchen Zeitanalyse spielt die Qualität einer Übersetzung kaum eine Rolle. Rosemarie Tietze folgt dem gegenwärtigen Trend des Übersetzens, der mit philologischer Akribie besonderen Wert auf die sprachlichen Besonderheiten des Originals legt. Dadurch kann es in der deutschen Sprache zu Unebenheiten, sogar Verständnisschwierigkeiten kommen. Die Eleganz früherer Übertragungen, etwa der von Fred Ottow (1964), geht verloren, größere Werktreue jedoch ist gewonnen. Es wäre kleinliche Mäkelei, wollte man bei einem solchen Volumen an werkgetreuer Übersetzung einzelne Worte auf die Waagschale legen, zumal ein gewissenhafter Kommentar neben sachlichen Informationen an entsprechenden Stellen auch Hinweise auf Schwierigkeiten der Übertragung gibt und auf die Art, wie sie gelöst wurden.
HANNELORE SCHLAFFER
LEO TOLSTOI: Anna Karenina. Ein Roman in acht Teilen. Übersetzt und kommentiert von Rosemarie Tietze. 1285 Seiten. Carl-Hanser-Verlag, München 2009.
Greta Garbo in „Anna Karenina”, 1935 Abb.: Scherl
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Leo Tolstois „Anna Karenina” in neuer Übersetzung
„Schreiende Widersprüche” hatte 1908 Lenin in seinem Aufsatz über Tolstois „Anna Karenina” entdeckt, einem Werk, das damals längst schon in den Kanon der Weltliteratur aufgenommen gewesen war. Diese Karriere hat Tolstois Roman vor allem wegen der Geschichte seiner Titelheldin gemacht, einer Ehefrau aus den obersten Rängen der Gesellschaft, die sich in den jüngeren Offizier Wronski verliebt und mit ihm die Ehe bricht. Wronski setzt für dieses Abenteuer alle Aufstiegschancen aufs Spiel, die Eifersucht aber treibt Anna schließlich zum Selbstmord und den Geliebten zur Teilnahme am Kampf der Montenegriner gegen die Türken, in dem auch er, verzweifelt über den gescheiterten privaten Aufstand, den Tod zu finden hofft. Diese Tragödie aus weiblicher Verführungskunst, Leidenschaft und Liebestod ist ein bewährtes Erzählschema des 19. Jahrhunderts und trägt dazu bei, Tolstois Werk bis heute in Erinnerung zu halten, wenngleich inzwischen häufiger der Film als die Lektüre das Gedächtnis auffrischt.
Die Widersprüche, die Lenin in diesem monumentalen Werk von mehr als tausend Seiten erkannte, konnte er am glatten Handlungsgang der Ehebruchsgeschichte nicht beobachtet haben. Vielmehr spricht Lenin von den latenten „Widersprüchen der Epoche selbst”, die sich im Roman niedergeschlagen haben. Das Werk Tolstois fällt in eine Phase des Umbruchs der russischen Gesellschaft, die 1861 mit der Aufhebung der Leibeigenschaft beginnt und in die russische Revolution mündet. Mit „Anna Karenina” setzt Tolstoi die Geschichte Russlands, die er in „Krieg und Frieden” begonnen hatte, in seine Gegenwart hinein fort. An einer Geschichte der Epoche Peters II., die er beschreiben wollte, war er gescheitert. Der Selbstmord einer Anna Stepanowa Sykowa aber, die sich in der Nähe von Jasnaja Poljana, dem Gut Tolstois, aus Eifersucht vor einen Eisenbahnzug warf, gab ihm die Idee eines zeitgeschichtlichen Romans ein. 1873 begann Tolstoi die Arbeit am Roman, 1876, so lässt sich erschließen, findet im Roman Annas Selbstmord statt, 1877/78 erschien diese romanhafte Kulturgeschichte Russlands endgültig in der Buchfassung.
In künstlerischer Hellsicht entwarf Tolstoi ein Gemälde dieser Übergangsepoche voller privater Zweifel und heraufziehender politischer Unruhen. Die Handlungslinie der Ehebruchsgeschichte unterbricht er durch viele, in kleine Kapitel verpackte private Ereignisse, die zugleich die Krise der Menschen in einer Welt zwischen Tradition und Moderne, zwischen neuer Technik und altgedientem Handwerk, zwischen Glaube und Unglaube, hergebrachter Ordnung und politischer Utopie spiegeln.
„Die Gedanken eines Menschen und die der Gesellschaft erfahren eine Art kreuzweiser Bestäubung”, so beschreibt Victor Schklowski in einer Biographie Tolstois dessen literarisches Verfahren. Die Ehebruchsgeschichte wird vom Zeitgemälde zur Nebensache herabgestuft, sie ist nur ein Teil dieses großen Gemäldes.
Wer „Anna Karenina” vollständig liest und sich nicht mit Zitat oder Erinnerungen an eine tragisch-pikante Ehebruchsgeschichte begnügt, wird ein größeres Werk antreffen: ein Epos des russischen Lebens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Fast möchte es der Leser, wenn er sich in der Beschreibung der St. Petersburger und Moskauer Aristokratie, ihrer Jagden, Bälle, Familientreffen, Hochzeiten, Geburten verloren hat, wenn er aus der bäuerlichen Arbeit des Gutsbesitzers Konstantin Dmitrijewitsch Lewin wieder auftaucht, bedauern, dass Tolstoi für sein Zeitgemälde keinen besseren Titel fand als „Anna Karenina”, der die Rezeption auf eine Figur konzentriert, die nicht einmal die Hauptfigur genannt werden kann. Die religiösen Skrupel und intellektuellen Zweifel Lewins etwa, der Züge des Autors selbst trägt, nehmen mehr Raum ein und sind intellektuell gewichtiger als die sündige Liebe einer unzufriedenen Ehefrau.
Die Kunst der Charakterisierung ist an Tolstoi oft genug gerühmt worden, und sie entfaltet sich vor allem in diesem Ehebruchsroman mit den vielen, meist verwandtschaftlich verbundenen Figuren, von denen sich nicht einmal sagen ließe, welches Haupt-, welches Nebenfiguren seien: Lewin mit seinen politischen und religiösen Zweifeln? Oder der Beamte Karenin, der sich aus der arroganten Ironie allem Menschlichen gegenüber in einen spiritistischen Aberglauben flüchtet? Oder gar Stepan Arkadjewitsch Oblonski, die Frohnatur, die aus all den Zweifeln und Katastrophen, die ihn umbrausen, immer wieder unbeschädigt auftaucht?
Von ihnen und vielen anderen wird der Leser ein guter Bekannter, denn der innere Monolog – ein von Tolstoi gern verwandtes Stilmittel; selbst der Jagdhund Lanska spricht gelegentlich mit sich über seine Jagdbeute – öffnet ihm die verborgenen Kammern der Seelen, die nichts anderes sind als Seismographen der Zeit.
Der ungläubige Bräutigam
Tolstoi erweist sich nicht nur als Künstler des inneren Monologs, sondern auch als einer des Dialogs. Seine Enthüllungen über den Alltag des Ehelebens sind singulär in der Literaturgeschichte, und sie enthüllen sich immer durch ein eheliches Streitgespräch, durch die Kippelei der jungvermählten Kitty mit ihrem Mann oder durch die zerstörerischen Debatten zwischen Anna und Wronski.
Zwar verlangt Tolstoi, und das nicht selten, viel Geduld von seinem Leser, etwa wenn er zu wiederholten Malen ausführlich die Jagd auf Schnepfen und Bekassinen beschreibt. Er belohnt die Ausdauer dann aber auch wieder durch unvergessliche Szenen, wie die, da der junge Vater, verbannt vor die Türe eines Zimmers, die Geburtswehen seiner Gattin miterleidet, oder jene, da der ungläubige Bräutigam gezwungen ist, vor der Hochzeit zu beichten. Die Begegnung der Konkurrenten Karenin und Wronski am Bett der im Kindbettfieber mit dem Tod ringenden Anna ist ebenso ungewöhnlich wie Annas Aufklärung über Empfängnisverhütung, die sie ihrer vom Kindersegen erschöpften Schwägerin angedeihen lässt. Die letzte Szene des Romans aber gehört Lewin, dem alle Fragen in der Schwebe bleiben – und unendliches Fragen über die „schreienden Widersprüche” der Zeit – dies eigentlich ist das Thema dieses grandiosen Romans.
Vor dem Gewicht einer solchen Zeitanalyse spielt die Qualität einer Übersetzung kaum eine Rolle. Rosemarie Tietze folgt dem gegenwärtigen Trend des Übersetzens, der mit philologischer Akribie besonderen Wert auf die sprachlichen Besonderheiten des Originals legt. Dadurch kann es in der deutschen Sprache zu Unebenheiten, sogar Verständnisschwierigkeiten kommen. Die Eleganz früherer Übertragungen, etwa der von Fred Ottow (1964), geht verloren, größere Werktreue jedoch ist gewonnen. Es wäre kleinliche Mäkelei, wollte man bei einem solchen Volumen an werkgetreuer Übersetzung einzelne Worte auf die Waagschale legen, zumal ein gewissenhafter Kommentar neben sachlichen Informationen an entsprechenden Stellen auch Hinweise auf Schwierigkeiten der Übertragung gibt und auf die Art, wie sie gelöst wurden.
HANNELORE SCHLAFFER
LEO TOLSTOI: Anna Karenina. Ein Roman in acht Teilen. Übersetzt und kommentiert von Rosemarie Tietze. 1285 Seiten. Carl-Hanser-Verlag, München 2009.
Greta Garbo in „Anna Karenina”, 1935 Abb.: Scherl
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