Produktdetails
- Verlag: Weltbild Verlag
- ISBN-13: 9783828902107
- ISBN-10: 3828902103
- Artikelnr.: 24049529
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Hätten Elterngeld und Scheidungsrecht etwas gebracht? Rosemarie Tietzes Neuübersetzung von Tolstois sehr moderner "Anna Karenina".
Von Sabine Berking
Nur der Tod besitzt eine eigene Überschrift, eine winzige Zeile lässt anhalten zwischen den mehr als zweihundert Kapiteln und den gut zwölfhundert Romanseiten. Es ist ein elendes, ein seitenlanges Sterben, wie es vermutlich millionenfach geschieht, in Krankenhäusern, auf Pflegestationen, zu Hause. Selten kriecht der Tod in der Literatur so nah an die Leser heran. Nachzulesen ist das nicht in einem aktuellen Sachbuch, sondern bei Tolstoi, und die Rede ist dabei auch nicht vom Selbstmord der Titelheldin Anna Karenina, dafür genügten dem Grafen weniger als zwei Seiten. Es geht um eine Nebenfigur, um Lewins Bruder Nikolai, einen nihilistischen Grießgram, ein Ungetüm von Mensch, dessen auch für die anwesenden Angehörigen unerträglicher Todeskampf in einer schäbigen Absteige zur Höllenqual wird. Das müssen wir bei der letzten Lektüre, die gut zwei Jahrzehnte zurückliegt, überlesen haben. Es gibt hier keine großen Worte, sondern nur miese, verbrauchte Luft und einen dahinsiechenden Menschen, der tagelang seine letzten Atemzüge röchelt.
Überhaupt ist das ein anderes, ein neues Buch und nicht jene "Anna Karenina", an die wir uns erinnern. Seit einem halben Jahrhundert kam keine einzige vollständige Neuübersetzung mehr auf den Markt. Warum gerade jetzt eine erscheint, mag unter anderem daran liegen, dass dieser Roman einen gesellschaftlichen Wandel beschreibt, der der Unbehaustheit unserer Tage gar nicht so unähnlich ist, und zwar nicht nur wenn der "idyllische Geruch von Kinderwindeln" störend in der Luft liegt, wie ein Zeitgenosse Tolstois spöttisch anmerkte.
Auf geht es also mit dem berühmten ersten Satz von den glücklichen Familien, die sich alle ähneln, und den unglücklichen, die alle auf ihre Weise unglücklich sind. Am Anfang holpert die Sprache ein bisschen, man meint, das früher schon mal eleganter gelesen zu haben. Gleich in den ersten Sätzen übers "Drunter und drüber" bei den Oblonskis wimmelt es von "hatte und hatten". Wir nehmen zum Vergleich eine alte Übersetzung von Hermann Asemissen in die Hand, die dann doch antiquiert wirkt. Es geht, man weiß es ja, um die Familie, um die der Karenins, die durch Annas Liaison mit dem Grafen Wronski auseinanderbricht, und um die sich vorsichtig konstituierende neue Familie von Lewin und seiner jungen Frau Kitty, die eigentlich Wronski wollte. Neben Drama und Liebesglück entdecken wir eine dritte Sippe ganz neu, die von Kittys Schwester Dolly, mit ihren alltäglichen Sorgen ums Geld, um Kinderkrankheiten und -betreuung und um einen untreuen und noch dazu verschwenderischen Ehemann.
Viel mehr als frühere Übersetzer, die fast ausnahmslos männlich waren, hat Rosemarie Tietze den Figuren auf den Mund und in die Seele geschaut, Fassungen des Romans verglichen und sich möglichst strikt ans Original gehalten. Dabei ist der Ton salopper, knapper, mündlicher geworden, und schon bald ist man überzeugt, es mit einer sehr modernen Geschichte zu tun zu haben. Denn ist es nicht so, wie Kittys Mutter, die Fürstin Schtscherbatskaja stöhnt, dass alle wissen, wie man es in Sachen Heirat und Familie nicht mehr machen soll, aber keiner wirklich weiß, wie man es nun richtig anpackt. Wäre Anna, die in ihrer langweiligen Ehe und den Konventionen gefangen ist, heute, mit einem modernen Scheidungsrecht, wirklich glücklicher? Soll man, wie Dolly es mit schlechtem Gewissen tut, die Kinder in frühen Jahren mit einer Fremdsprache quälen, damit sie den Ansprüchen an eine moderne gesellschaftliche Elite gerecht werden? Sind Kinder, wie im Falle der Karenins, nicht immer der größte Zankapfel bei Ehestreitigkeiten? Überhaupt scheint der Familienpatriarch Tolstoi über die Freuden und Leiden, die Mühen und Sorgen einer Hausfrau und Mutter mindestens genauso viel gewusst zu haben wie vom Klatsch und Tratsch der großen Gesellschaft. Von Politik ganz zu schweigen. Wie zeitgemäß erscheinen die Bemerkungen Karenins, der zwar ein uncharmanter Ehemann, dafür aber ein korrekter Beamter ist, dass "enorme Dotierungen" in Aufsichtsräten und Kommissionen "Kennzeichen einer falschen ökonomischen assiette" der Verwaltung seien. Ça alors!
Die tragische Liebesgeschichte von Anna und Wronski rückt bei der neuen Lektüre etwas in den Hintergrund, sie verkehrt sich vielmehr zu einem eigenen Beziehungsdrama, in dem Anna nicht immer nur bemitleidenswert, sondern durchaus auch als eine Art zickige desperate housewife erscheint. Das eben ist die große Kunst des alten Meisters: eine Figur in allen Facetten zu erfinden und so zu beschreiben, dass sie uns auch bei wiederholtem Lesen immer wieder neu verblüfft. Dasselbe gilt für Tolstois Sprache, die sich, so scheint es, an jede Zeit anzupassen vermag und doch immer die wundervolle, lakonische und reiche Sprache Tolstois bleibt. Selten waren zwölfhundert Seiten eine so kurzweilige Lektüre.
Lew Tolstoi: "Anna Karenina". Roman in acht Teilen. Aus dem Russischen übersetzt und kommentiert von Rosemarie Tietze. Carl Hanser Verlag, München 2009. 1280 S., geb., 39,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Hannelore Schlaffer hat Leo Tolstois Epos "Anna Karenina", das nun in einer neuen deutschen Übersetzung vorliegt, mit großer Begeisterung (wieder) gelesen. Der "grandiose" Roman darf in ihren Augen nicht auf die bekannte tragische Ehebruchsgeschichte zwischen Anna Karenina und dem jüngeren Offizier Wronski reduziert werden. Sie sieht in dem Werk wesentlich mehr: eine "romanhafte Kulturgeschichte" Russlands, das Panaroma einer "Übergangsepoche", in dem sich die Krise der Menschen zwischen Tradition und Moderne, Glaube und Unglaube, alter Ordnung und politischer Utopie spiegelt. Schlaffer würdigt Tolstois hohe Kunst der Personencharakterisierung, des inneren Monologs und des Dialogs, durch die die Figuren des Romans dem Leser bald wie "gute Bekannte" erscheinen. Die Übersetzung von Rosemarie Tietze hält sie für philologisch sehr akribisch und daher für wesentlich werkgetreuer, aber auch für etwas weniger elegant als frühere Übertragungen, wie etwa die von Fred Ottow aus dem Jahr 1964.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Sie lesen Tolstoi, weil Sie nicht mehr aufhören können." Vladimir Nabokov "Anna Karenina ist ein vollkommenes Kunstwerk. Dieser Roman enthält eine menschliche Botschaft, die in Europa noch nie vernommen wurde und die die Menschen der westlichen Welt brauchen." Fjodor Dostojewskij "Was ich ungescheut den größten Gesellschaftsroman der Weltliteratur nannte, ist ein Roman gegen die Gesellschaft." Thomas Mann "Eine wunderbar elegante Neuübersetzung, 1200 Seiten, die sich lesen wie Butter, doch der Leser sei gewarnt: Neben diesem Roman verblassen alle anderen, denn mit "Anna Karenina" hat Tolstoi eigentlich alles gesagt." Johanna Adorján, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29.11.09 "In künstlerischer Hellsicht entwarf Tolstoi ein Gemälde dieser Übergangsepoche voller privater Zweifel und heraufziehender politischer Unruhen." Hannelore Schlaffer, Süddeutsche Zeitung, 27.10.09 "Tolstois Sprache vermag sich an jede Zeit anzupassen und bleibt doch immer die wundervolle, lakonische und reiche Sprache Tolstois. Selten waren zwölfhundert Seiten eine so kurzweilige Lektüre." Sabine Berking, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.11.09 "'Anna Karenina' ist eines der himmlischsten Bücher der Weltliteratur. Jetzt ist es neu übersetzt worden: besser denn je. Im Vergleich zu allen auf dem Markt erhältlichen Übersetzungen genauer, farbiger in den Einzelheiten, überzeugender. Der Roman lässt uns all seinen Figuren so nahe kommen, wie es nur wenigen Büchern der Weltliteratur gelingt, lässt ihnen aber in aller Nähe ihr Rätsel." Andreas Isenschmid, Neue Zürcher Zeitung, 13.12.09 "Rosemarie Tietze glättet zum ersten Mal nicht an Tolstoi herum. Sie gibt ihm mehr Spielraum. Die aufgefrischte Übertragung ist nur die eine besondere Leistung dieses Bandes. Die andere ist die editorische. Besser geht`s kaum." Die Welt, 19.12.09 "Die neue Übertragung von Rosemarie Tietze ist ein Glücksfall. Da will man nur weiterlesen, weiterlesen und möglichst nicht an ein Ende kommen." IlmaRakusa, Die Zeit, 10.12.09 "Rosemarie Tietzes Übersetzung lässt Tolstois Roman in neuem Glanz erstrahlen und macht seine Aktualität augenfällig." Ulrich M. Schmid, Neue Zürcher Zeitung, 24.12.09 "Grandios neu übersetzt." Johanna Adorján, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 14.02.10
»Noethen ist der feinfühligste Stimmausleuchter, den ein literarischer Text haben kann.« Die Welt