Lukas nimmt Abschied von Berlin. Dort ist einiges schiefgelaufen, und so verbringt er auch die letzte Nacht vor der Rückkehr nach Wien auf der Gästecouch einer todmüden Kellnerin. Am Morgen ist sie nicht wach zu kriegen, und als der Klempner klingelt, findet der junge Mann plötzlich einen Zuhörer, dem er ein ganz anderes Leben erzählen kann, das Leben, das er sich wünschen würde und eine große glückliche Liebe.
Arno Geiger, der 2005 für seinen Roman "Es geht uns gut" den Deutschen Buchpreis erhielt, erzählt in seinem neuen Buch von Liebesdesastern und Lebensträumen und von Menschen, die nicht vergessen werden wollen - leicht, sprachlich brillant und mit großer Komik.
Arno Geiger, der 2005 für seinen Roman "Es geht uns gut" den Deutschen Buchpreis erhielt, erzählt in seinem neuen Buch von Liebesdesastern und Lebensträumen und von Menschen, die nicht vergessen werden wollen - leicht, sprachlich brillant und mit großer Komik.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.09.2007Geheimnislos abseitig
Arno Geigers neue Erzählungen sind eine nervige Enttäuschung
Dieses Buch ist erhellend für alle, die vor zwei Jahren in den Jubel um Arno Geigers buchpreisgekrönten Roman „Es geht uns gut” nicht recht einstimmen mochten. Die Erzählungen des fleißigen, 1968 geborenen Österreichers bestätigen den Eindruck, dass sein schriftstellerisches Talent einige Blind- und Schwachstellen aufweist. Umso deutlicher tritt ein Zug seines Schreibens hervor, der seinen Erfolg zum Teil erklären könnte: Seinen Figuren geht es nicht gut; sie sind alle irgendwie schlecht drauf. Zugleich aber gelingt es ihrem Erfinder, sie so unsympathisch zu machen, dass ihre Verfassung uns nicht wirklich berührt. So lässt sich die moderate Misere fremder Leute wie durch ein Fernglas betrachten, vor dem der Filter einer gepflegten Alltagsprosa sitzt. Der Autor, der in seinen frühen Arbeiten zu überschießender Metaphorik neigte, schreibt mittlerweile so, wie in der Titelerzählung „Anna nicht vergessen” eine Frau spricht – „gewählt, fast manierlich leise, als lebe sie in einem von Unzufriedenheit luftverdünnten Raum”. Damit ist das Milieu charakterisiert, in dem Geigers Erzählgewächse gedeihen. Die Leser, die ihn schätzen, müssen sich darin wohlfühlen.
Da ist zum Beispiel das Lamento eines Mannes, dem es nicht gelingt, seine Freundin unter die Fuchtel seines Kontrollwahns zu bringen („Es rührt sich nichts”). Oder die Suada einer Frau, die im Jahre 1973, als Ferngespräche noch teuer waren, ihren nach Australien ausgewanderten Liebhaber per Tonband zur Rückkehr bewegen will („Also, das wär’s so ziemlich”). Man wünscht sich jeweils schon nach drei Sätzen, dass es das gewesen wäre, weil sich nichts literarisch Belangvolles mehr ereignet, sondern nur noch Nervensägerei. Kürzer fasst sich gottlob der Gatte, der das eigene Haus als „Feindesland” erlebt, weil seine Frau ihn dauernd berühren will, während er sich nur nach Ruhe sehnt: Ein nicht mehr ganz frisches Sujet, das sich konsequenterweise bis zum Mord zuspitzen könnte, hier indes etwas lau mit der Flucht ins Büro endet. Vollends psychopathisch, aber deshalb kaum interessanter ist der Monolog einer Zimmerwirtin, die ausrastet, weil „Der Untermieter”, seines Zeichens Schriftsteller, es hemmungslos mit seiner Freundin treibt, während der Tierarzt am Küchentisch die hauseigene Katze operiert. Das alles wirkt beklemmend, doch nicht zwingend.
Diese Liste ist noch keine Poesie
Auch die Irritation, die von anderen Szenarien ausgeht, vermag nicht recht zu packen. Um den Schießübungen, Plänkeleien und Techtelmechteln einer Genossenclique aus der Wiener Sozialisten-Crème („Samstagshunde”) etwas abzugewinnen, muss man wohl Österreicher sein. Um herauszufinden, wer der Empfänger der „Neuigkeiten aus Hokkaido” ist, die eine Japanerin sammelt und mit der Post verschickt, muss man stärker motiviert werden, als es die gleichnamige Briefgeschichte leistet. Und die Annahme, die fünfzehnseitige Liste der bei einem Wiener Wohnhausbrand zerstörten Einrichtungsgegenstände sei durch die Überschrift „Das Gedächtnisprotokoll” zum literarischen Einfall geadelt, ist nun doch etwas zu dreist, als dass man noch darüber lachen könnte. Allenfalls lässt sich hier eine Verbindung herstellen zu Philipp Erlach, dem Helden von „Es geht uns gut”, der als Erbe der großmütterlichen Villa mit der Übermacht der Dinge, dem generationenlang angehäuften Ballast der Besitztümer konfrontiert wird und sich davon befreien muss.
Doch auch Bücher können zum Ballast werden, wenn sie zu viel Entbehrliches, Banales und Unausgegorenes enthalten – beziehungsweise Texte, von denen man beim ersten Lesen weiß, dass man sich kein zweites Mal mit ihnen befassen wird, weil sie kein Geheimnis bergen, wenngleich sie an der Oberfläche mit dem Abseitigen und Sonderbaren kokettieren.
Wenn Ella, die Mutter der kleinen Anna aus der Titelerzählung, ihr Geld als Ehebruchsresistenz-Testerin verdient und von ihrer Tochter mit allgegenwärtigen Zetteln daran erinnert werden muss, sie nicht zu vergessen, dann mag die Konstellation originell sein, aber sie bewegt nicht und führt zu nichts. Genausowenig wie die Zwangslage jener Katarina, die bei einer städtischen Behörde für Streumittelverwaltung und Splitt-Recycling zuständig ist und sich wegen eines Schneekugeldiebstahls zu Nacktfotos erpressen lässt („Natürliche Schwankungserscheinung”).
Wenigstens flüchtige Rührung erzeugt der Fall des einsamen jungen Mannes, der vor seinem „Abschied von Berlin” ein Nachtquartier bei einer freundlichen Kellnerin findet und sich am nächsten Morgen vor dem Klempner als deren Lebensgefährte ausgibt. Dennoch würde man sich den Band wohl weder nach einem Wohnungsbrand noch bei einem Kofferverlust von der Versicherung ersetzen lassen, zeigte nicht das Finalstück unter dem Titel „Doppelte Buchführung” etwas von den Qualitäten, die man bei einem derart belobigten Autor sucht: Die hektischen Wiederbelebungsversuche an einem kollabierten Zwölfjährigen und die bedrückenden Kindheitserinnerungen eines Klinikarztes werden parallel geschaltet, auf anstrengende, aber dramaturgisch überzeugende Weise. Hier endlich tut sich ein Abgrund auf, auch wenn man den Grund noch sehen kann.KRISTINA MAIDT-ZINKE
ARNO GEIGER: Anna nicht vergessen. Erzählungen. Carl Hanser Verlag, München 2007. 253 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Arno Geigers neue Erzählungen sind eine nervige Enttäuschung
Dieses Buch ist erhellend für alle, die vor zwei Jahren in den Jubel um Arno Geigers buchpreisgekrönten Roman „Es geht uns gut” nicht recht einstimmen mochten. Die Erzählungen des fleißigen, 1968 geborenen Österreichers bestätigen den Eindruck, dass sein schriftstellerisches Talent einige Blind- und Schwachstellen aufweist. Umso deutlicher tritt ein Zug seines Schreibens hervor, der seinen Erfolg zum Teil erklären könnte: Seinen Figuren geht es nicht gut; sie sind alle irgendwie schlecht drauf. Zugleich aber gelingt es ihrem Erfinder, sie so unsympathisch zu machen, dass ihre Verfassung uns nicht wirklich berührt. So lässt sich die moderate Misere fremder Leute wie durch ein Fernglas betrachten, vor dem der Filter einer gepflegten Alltagsprosa sitzt. Der Autor, der in seinen frühen Arbeiten zu überschießender Metaphorik neigte, schreibt mittlerweile so, wie in der Titelerzählung „Anna nicht vergessen” eine Frau spricht – „gewählt, fast manierlich leise, als lebe sie in einem von Unzufriedenheit luftverdünnten Raum”. Damit ist das Milieu charakterisiert, in dem Geigers Erzählgewächse gedeihen. Die Leser, die ihn schätzen, müssen sich darin wohlfühlen.
Da ist zum Beispiel das Lamento eines Mannes, dem es nicht gelingt, seine Freundin unter die Fuchtel seines Kontrollwahns zu bringen („Es rührt sich nichts”). Oder die Suada einer Frau, die im Jahre 1973, als Ferngespräche noch teuer waren, ihren nach Australien ausgewanderten Liebhaber per Tonband zur Rückkehr bewegen will („Also, das wär’s so ziemlich”). Man wünscht sich jeweils schon nach drei Sätzen, dass es das gewesen wäre, weil sich nichts literarisch Belangvolles mehr ereignet, sondern nur noch Nervensägerei. Kürzer fasst sich gottlob der Gatte, der das eigene Haus als „Feindesland” erlebt, weil seine Frau ihn dauernd berühren will, während er sich nur nach Ruhe sehnt: Ein nicht mehr ganz frisches Sujet, das sich konsequenterweise bis zum Mord zuspitzen könnte, hier indes etwas lau mit der Flucht ins Büro endet. Vollends psychopathisch, aber deshalb kaum interessanter ist der Monolog einer Zimmerwirtin, die ausrastet, weil „Der Untermieter”, seines Zeichens Schriftsteller, es hemmungslos mit seiner Freundin treibt, während der Tierarzt am Küchentisch die hauseigene Katze operiert. Das alles wirkt beklemmend, doch nicht zwingend.
Diese Liste ist noch keine Poesie
Auch die Irritation, die von anderen Szenarien ausgeht, vermag nicht recht zu packen. Um den Schießübungen, Plänkeleien und Techtelmechteln einer Genossenclique aus der Wiener Sozialisten-Crème („Samstagshunde”) etwas abzugewinnen, muss man wohl Österreicher sein. Um herauszufinden, wer der Empfänger der „Neuigkeiten aus Hokkaido” ist, die eine Japanerin sammelt und mit der Post verschickt, muss man stärker motiviert werden, als es die gleichnamige Briefgeschichte leistet. Und die Annahme, die fünfzehnseitige Liste der bei einem Wiener Wohnhausbrand zerstörten Einrichtungsgegenstände sei durch die Überschrift „Das Gedächtnisprotokoll” zum literarischen Einfall geadelt, ist nun doch etwas zu dreist, als dass man noch darüber lachen könnte. Allenfalls lässt sich hier eine Verbindung herstellen zu Philipp Erlach, dem Helden von „Es geht uns gut”, der als Erbe der großmütterlichen Villa mit der Übermacht der Dinge, dem generationenlang angehäuften Ballast der Besitztümer konfrontiert wird und sich davon befreien muss.
Doch auch Bücher können zum Ballast werden, wenn sie zu viel Entbehrliches, Banales und Unausgegorenes enthalten – beziehungsweise Texte, von denen man beim ersten Lesen weiß, dass man sich kein zweites Mal mit ihnen befassen wird, weil sie kein Geheimnis bergen, wenngleich sie an der Oberfläche mit dem Abseitigen und Sonderbaren kokettieren.
Wenn Ella, die Mutter der kleinen Anna aus der Titelerzählung, ihr Geld als Ehebruchsresistenz-Testerin verdient und von ihrer Tochter mit allgegenwärtigen Zetteln daran erinnert werden muss, sie nicht zu vergessen, dann mag die Konstellation originell sein, aber sie bewegt nicht und führt zu nichts. Genausowenig wie die Zwangslage jener Katarina, die bei einer städtischen Behörde für Streumittelverwaltung und Splitt-Recycling zuständig ist und sich wegen eines Schneekugeldiebstahls zu Nacktfotos erpressen lässt („Natürliche Schwankungserscheinung”).
Wenigstens flüchtige Rührung erzeugt der Fall des einsamen jungen Mannes, der vor seinem „Abschied von Berlin” ein Nachtquartier bei einer freundlichen Kellnerin findet und sich am nächsten Morgen vor dem Klempner als deren Lebensgefährte ausgibt. Dennoch würde man sich den Band wohl weder nach einem Wohnungsbrand noch bei einem Kofferverlust von der Versicherung ersetzen lassen, zeigte nicht das Finalstück unter dem Titel „Doppelte Buchführung” etwas von den Qualitäten, die man bei einem derart belobigten Autor sucht: Die hektischen Wiederbelebungsversuche an einem kollabierten Zwölfjährigen und die bedrückenden Kindheitserinnerungen eines Klinikarztes werden parallel geschaltet, auf anstrengende, aber dramaturgisch überzeugende Weise. Hier endlich tut sich ein Abgrund auf, auch wenn man den Grund noch sehen kann.KRISTINA MAIDT-ZINKE
ARNO GEIGER: Anna nicht vergessen. Erzählungen. Carl Hanser Verlag, München 2007. 253 Seiten, 19,90 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.08.2007Ich hab noch einen Koffer in Wien
Tagträume von einem anderen Leben: Mit seinem Familienroman "Es geht uns gut" landete der österreichische Autor Arno Geiger vor zwei Jahren überraschend einen Bestseller. Sein neuer Erzählungsband gewährt Einblick in fremde Existenzen.
Von Richard Kämmerlings
Was würde man über einen Menschen erfahren, wenn man zufällig, durch eine Verwechslung oder durch Diebstahl, in den Besitz seines Reisekoffers gelangte? Als erstes wohl sein Geschlecht, dann Äußerlichkeiten, die Maße, Kleider- und Schuhgröße, das Alter, seine materiellen Verhältnisse, manches über Geschmack und Stil. Aber vielleicht gibt es auch Persönliches: Bücher oder gar Erinnerungsstücke, Briefe oder Fotos, vielleicht aber auch Alkoholika oder Medikamente. Womöglich enthält das Gepäckstück den Bausatz für ein ganzes Leben.
Oder für eine Erzählung. In "Koffer mit Inhalt" aus dem neuen Erzählungsband von Arno Geiger bekommt der Bahnangestellte Herr Gabriel zur Pensionierung von seinen Kollegen ein Kofferset geschenkt. Herr Gabriel war dafür zuständig gewesen, herrenlose Gepäckstücke zu versteigern. Zuvor hatte er die Koffer zu "perlustrieren", auf allzu persönliche Dinge, aber auch auf pornografische Erzeugnisse, Bargeld, verderbliche Waren oder Waffen zu durchsuchen. Privat jedoch hat er sich für ihren Inhalt nie interessiert. Im Innersten der Koffer nun, die die Kollegen ihm schenken, befindet sich ein Prospekt über die Andenbahnen in Peru. Gemeinsam mit seiner Frau plant er seine Reise dorthin akribisch, gemäß den Empfehlungen des Veranstalters. Eine der notwendigen Impfungen löst bei Frau Gabriel ein Impffieber aus, an dem sie etwas später stirbt. Herr Gabriels Koffer enthielt den Tod - und für ihn ein neues, einsames Leben als Witwer.
Stellt man sich die jüngere deutschsprachige Literatur für einen Moment wie eine idealtypische Deutsche Bahn vor - mit frustrierten, unterbezahlten Lokführern, schneidigen, polyglott parlierenden Zugchefs, aber auch mit übereifrigen, auf jede Frage antwortenden Schalterbeamten, einer Menge schrulliger Provinzschaffner und einer sozial engagierten Bahnhofsmission - dann würde Arno Geiger tatsächlich so etwas wie das Fundbüro sein, die offizielle Sammelstelle für die in Taschen und Rollkoffern enthaltenen Utensilien einer Existenz, für Lebenskondensate in Hartschale. Geiger öffnet einen nach dem anderen und lässt das Inventar eine Geschichte erzählen. Vielleicht ist deshalb, weil sie seinem Selbstverständnis so genau entspricht, "Koffer mit Inhalt" eine der besseren Geschichten dieses Bandes, den Geiger nun seinem Romanerfolg "Es geht uns gut" von 2005 folgen lässt.
Auch in der Titelgeschichte nimmt eine Frau, Anfang dreißig, alleinerziehende Mutter, professionell Einblick in andere Leben. Ella arbeitet als erotischer Lockvogel im Dienste misstrauischer Frauen, die die Treue ihrer Partner prüfen wollen. Bei ihren Rendezvous hat es sich Ella zur Gewohnheit gemacht, sich selbst immer eine neue Biographie zu erfinden (auch das ist wieder als erzählerische Selbstreflexion zu lesen). Zugleich, und das hebt die Story über die "Sex-and-the-City"-Ebene hinaus, wird Ella ihre kleine Tochter fremd. Überall in der Wohnung hängen Zettel mit der Mahnung "Anna nicht vergessen" - damit über dem habituellen Maskenspiel das eigene Leben nicht durch die Finger gleitet.
Das ist ein starker Einstieg, doch schon die zweite Geschichte kann das Niveau nicht halten: Ein junger Mann, der in Berlin weder privat noch beruflich Fuß fassen konnte, verbringt die Nacht vor seiner Abreise auf dem Sofa einer Kellnerin. Am nächsten Morgen gibt er sich gegenüber einem Handwerker als glücklicher Lebensgefährte seiner Zufallsbekanntschaft aus. Der Tagtraum vom anderen Leben als Flucht aus der eigenen, verkrachten Existenz - das bleibt hier banal.
Schon "Es geht uns gut", mit Hilfe des Deutschen Buchpreises überraschend zum Bestseller geworden, hatte die Stärken wie die Schwächen des Erzählers Arno Geiger gezeigt. Bei dieser österreichischen Familiengeschichte stachen die historischen Passagen durch ihre Tiefenschärfe und psychologische Einfühlungskraft klar hervor gegenüber den eher matten und klischeehaften Beziehungs- und Existenzkrisen der jüngeren Vergangenheit. Auf der Habenseite dieses Erzählungsbandes stehen vor allem diejenigen, die zeitlich weiter zurückgreifen: In "Samstagshunde" etwa trifft sich im Mai 1981 heimlich eine Gruppe von führenden österreichischen Sozialisten, um in einem Buchauslieferungslager Schießübungen zu machen; vor diesem grotesken Hintergrund von Bonzentum und Terrorfurcht wird nebenbei das Porträt einer Frau entworfen, die die Geliebte mehrerer der Teilzeitcowboys ist und in der sich Zeitgeschichte wie in einem Fadenkreuz bündelt. Ähnliches gilt für den Tonbandmonolog einer verlassenen Frau in "Also, das wär's so ziemlich", die im weltpolitisch turbulenten Jahr 1973 die Beziehung zu ihrem ausgewanderten jüdischen Liebhaber wortreich und zugleich stockend aufarbeitet - Fernbeziehungstragik im Zeitalter vor Internet und Mobiltelefon.
Guter Hausrat ist teuer.
Aber wie schwach ist dagegen das zeitgenössische Gegenstück "Es rührt sich nichts"! Dass die jederzeit mögliche Kommunikation per Handy und SMS bei einem pathologischen Kontrollfreak in Überwachungswahn umkippt, ist wenig originell - und kein Stoff für fünfundzwanzig Seiten! Ähnlich schwach das Macho-Porträt in "Feindesland": "Ich komme von der Firma nach Hause, bin erschöpft und bräuchte mindestens anderthalb Stunden Ruhe. Aber kaum ist das Kind zu Bett gebracht, marschiert meine Frau an und will mich berühren." Was soll aus einem solchen Anfang noch werden; würde man in einem Koffer voller Nadelstreifenanzügen, Kondomen und Männermagazinen weiterstöbern wollen? Eine Mischung aus Ressentiment und Sozialkritik bietet schließlich "Das Gedächtnisprotokoll oder die Auflistung der bei der Brandlegung durch den Gärtnergehilfen zerstörten Einrichtungsgegenstände und Besitztümer", das über fünfzehn Seiten das Inventar einer Wiener Nobelvilla auflistet. Auch das ist Geiger; da wurde in seinem Fundbüro halt ein ganzer Schiffscontainer abgegeben, zollfrei, aber im literarischen Gegenwert gleich null.
Wer einen unbekannten Koffer öffnet, kann einen Schatz entdecken oder nur schmutzige Wäsche. Der Besitzer kann von einer Reise in die Anden zurückgekommen sein oder von der Beerdigung der Tante im Heimatdorf. Arno Geigers Erzählungen sind immer so interessant wie die Leben, auf die er gestoßen ist. Die Qualität steht und fällt mit den Figuren, weil Geiger über keinen wirklich eigenen Erzählton, keine Sprache verfügt, die deren Bewusstsein transzendieren und somit auch das Banale noch spannend machen würde, sondern sich stets wie ein Stimmenimitator an seine Charaktere anpasst. Vom Beamten erzählt Geiger altmodisch-bürokratisch, vom Kontrollfreak im pedantischen Protokollstil, vom Chauvinisten wie "American Psycho".
Zieht man Bilanz, ist die Hälfte der Geschichten lesenswert, noch zu erwähnen ist vor allem die letzte, die ausgerechnet "Doppelte Buchführung" heißt und die routinehaften Bemühungen eines Intensivarztes um das Leben eines Jungen mit den bedrängenden Erinnerungen an seinen eigenen kranken Vater überblendet. Sechs von zwölf Geschichten - ist der Koffer nun halbvoll oder halbleer?
- Arno Geiger: "Anna nicht vergessen". Hanser Verlag, München 2007. 256 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tagträume von einem anderen Leben: Mit seinem Familienroman "Es geht uns gut" landete der österreichische Autor Arno Geiger vor zwei Jahren überraschend einen Bestseller. Sein neuer Erzählungsband gewährt Einblick in fremde Existenzen.
Von Richard Kämmerlings
Was würde man über einen Menschen erfahren, wenn man zufällig, durch eine Verwechslung oder durch Diebstahl, in den Besitz seines Reisekoffers gelangte? Als erstes wohl sein Geschlecht, dann Äußerlichkeiten, die Maße, Kleider- und Schuhgröße, das Alter, seine materiellen Verhältnisse, manches über Geschmack und Stil. Aber vielleicht gibt es auch Persönliches: Bücher oder gar Erinnerungsstücke, Briefe oder Fotos, vielleicht aber auch Alkoholika oder Medikamente. Womöglich enthält das Gepäckstück den Bausatz für ein ganzes Leben.
Oder für eine Erzählung. In "Koffer mit Inhalt" aus dem neuen Erzählungsband von Arno Geiger bekommt der Bahnangestellte Herr Gabriel zur Pensionierung von seinen Kollegen ein Kofferset geschenkt. Herr Gabriel war dafür zuständig gewesen, herrenlose Gepäckstücke zu versteigern. Zuvor hatte er die Koffer zu "perlustrieren", auf allzu persönliche Dinge, aber auch auf pornografische Erzeugnisse, Bargeld, verderbliche Waren oder Waffen zu durchsuchen. Privat jedoch hat er sich für ihren Inhalt nie interessiert. Im Innersten der Koffer nun, die die Kollegen ihm schenken, befindet sich ein Prospekt über die Andenbahnen in Peru. Gemeinsam mit seiner Frau plant er seine Reise dorthin akribisch, gemäß den Empfehlungen des Veranstalters. Eine der notwendigen Impfungen löst bei Frau Gabriel ein Impffieber aus, an dem sie etwas später stirbt. Herr Gabriels Koffer enthielt den Tod - und für ihn ein neues, einsames Leben als Witwer.
Stellt man sich die jüngere deutschsprachige Literatur für einen Moment wie eine idealtypische Deutsche Bahn vor - mit frustrierten, unterbezahlten Lokführern, schneidigen, polyglott parlierenden Zugchefs, aber auch mit übereifrigen, auf jede Frage antwortenden Schalterbeamten, einer Menge schrulliger Provinzschaffner und einer sozial engagierten Bahnhofsmission - dann würde Arno Geiger tatsächlich so etwas wie das Fundbüro sein, die offizielle Sammelstelle für die in Taschen und Rollkoffern enthaltenen Utensilien einer Existenz, für Lebenskondensate in Hartschale. Geiger öffnet einen nach dem anderen und lässt das Inventar eine Geschichte erzählen. Vielleicht ist deshalb, weil sie seinem Selbstverständnis so genau entspricht, "Koffer mit Inhalt" eine der besseren Geschichten dieses Bandes, den Geiger nun seinem Romanerfolg "Es geht uns gut" von 2005 folgen lässt.
Auch in der Titelgeschichte nimmt eine Frau, Anfang dreißig, alleinerziehende Mutter, professionell Einblick in andere Leben. Ella arbeitet als erotischer Lockvogel im Dienste misstrauischer Frauen, die die Treue ihrer Partner prüfen wollen. Bei ihren Rendezvous hat es sich Ella zur Gewohnheit gemacht, sich selbst immer eine neue Biographie zu erfinden (auch das ist wieder als erzählerische Selbstreflexion zu lesen). Zugleich, und das hebt die Story über die "Sex-and-the-City"-Ebene hinaus, wird Ella ihre kleine Tochter fremd. Überall in der Wohnung hängen Zettel mit der Mahnung "Anna nicht vergessen" - damit über dem habituellen Maskenspiel das eigene Leben nicht durch die Finger gleitet.
Das ist ein starker Einstieg, doch schon die zweite Geschichte kann das Niveau nicht halten: Ein junger Mann, der in Berlin weder privat noch beruflich Fuß fassen konnte, verbringt die Nacht vor seiner Abreise auf dem Sofa einer Kellnerin. Am nächsten Morgen gibt er sich gegenüber einem Handwerker als glücklicher Lebensgefährte seiner Zufallsbekanntschaft aus. Der Tagtraum vom anderen Leben als Flucht aus der eigenen, verkrachten Existenz - das bleibt hier banal.
Schon "Es geht uns gut", mit Hilfe des Deutschen Buchpreises überraschend zum Bestseller geworden, hatte die Stärken wie die Schwächen des Erzählers Arno Geiger gezeigt. Bei dieser österreichischen Familiengeschichte stachen die historischen Passagen durch ihre Tiefenschärfe und psychologische Einfühlungskraft klar hervor gegenüber den eher matten und klischeehaften Beziehungs- und Existenzkrisen der jüngeren Vergangenheit. Auf der Habenseite dieses Erzählungsbandes stehen vor allem diejenigen, die zeitlich weiter zurückgreifen: In "Samstagshunde" etwa trifft sich im Mai 1981 heimlich eine Gruppe von führenden österreichischen Sozialisten, um in einem Buchauslieferungslager Schießübungen zu machen; vor diesem grotesken Hintergrund von Bonzentum und Terrorfurcht wird nebenbei das Porträt einer Frau entworfen, die die Geliebte mehrerer der Teilzeitcowboys ist und in der sich Zeitgeschichte wie in einem Fadenkreuz bündelt. Ähnliches gilt für den Tonbandmonolog einer verlassenen Frau in "Also, das wär's so ziemlich", die im weltpolitisch turbulenten Jahr 1973 die Beziehung zu ihrem ausgewanderten jüdischen Liebhaber wortreich und zugleich stockend aufarbeitet - Fernbeziehungstragik im Zeitalter vor Internet und Mobiltelefon.
Guter Hausrat ist teuer.
Aber wie schwach ist dagegen das zeitgenössische Gegenstück "Es rührt sich nichts"! Dass die jederzeit mögliche Kommunikation per Handy und SMS bei einem pathologischen Kontrollfreak in Überwachungswahn umkippt, ist wenig originell - und kein Stoff für fünfundzwanzig Seiten! Ähnlich schwach das Macho-Porträt in "Feindesland": "Ich komme von der Firma nach Hause, bin erschöpft und bräuchte mindestens anderthalb Stunden Ruhe. Aber kaum ist das Kind zu Bett gebracht, marschiert meine Frau an und will mich berühren." Was soll aus einem solchen Anfang noch werden; würde man in einem Koffer voller Nadelstreifenanzügen, Kondomen und Männermagazinen weiterstöbern wollen? Eine Mischung aus Ressentiment und Sozialkritik bietet schließlich "Das Gedächtnisprotokoll oder die Auflistung der bei der Brandlegung durch den Gärtnergehilfen zerstörten Einrichtungsgegenstände und Besitztümer", das über fünfzehn Seiten das Inventar einer Wiener Nobelvilla auflistet. Auch das ist Geiger; da wurde in seinem Fundbüro halt ein ganzer Schiffscontainer abgegeben, zollfrei, aber im literarischen Gegenwert gleich null.
Wer einen unbekannten Koffer öffnet, kann einen Schatz entdecken oder nur schmutzige Wäsche. Der Besitzer kann von einer Reise in die Anden zurückgekommen sein oder von der Beerdigung der Tante im Heimatdorf. Arno Geigers Erzählungen sind immer so interessant wie die Leben, auf die er gestoßen ist. Die Qualität steht und fällt mit den Figuren, weil Geiger über keinen wirklich eigenen Erzählton, keine Sprache verfügt, die deren Bewusstsein transzendieren und somit auch das Banale noch spannend machen würde, sondern sich stets wie ein Stimmenimitator an seine Charaktere anpasst. Vom Beamten erzählt Geiger altmodisch-bürokratisch, vom Kontrollfreak im pedantischen Protokollstil, vom Chauvinisten wie "American Psycho".
Zieht man Bilanz, ist die Hälfte der Geschichten lesenswert, noch zu erwähnen ist vor allem die letzte, die ausgerechnet "Doppelte Buchführung" heißt und die routinehaften Bemühungen eines Intensivarztes um das Leben eines Jungen mit den bedrängenden Erinnerungen an seinen eigenen kranken Vater überblendet. Sechs von zwölf Geschichten - ist der Koffer nun halbvoll oder halbleer?
- Arno Geiger: "Anna nicht vergessen". Hanser Verlag, München 2007. 256 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Kein Buch für die Insel hat Kristina Maidt-Zinke da gelesen. Dunkle Ahnungen, die der umjubelte Roman Arno Geigers "Es geht uns gut" einst bei ihr angestoßen hatte, sieht sie mit diesen Erzählungen bestätigt: Der Autor nervt, meint sie und bezeichnet die Texte als entbehrlich und literarisch bestenfalls gepflegt. Von Geheimnissen dagegen keine Spur. Auch wenn die Figuren mitunter psychopathisch werden, rührt es die Rezensentin nicht. Einzig das "Finalstück" des Bandes bietet ihr einen Anhaltspunkt für den Hype um diesen Autor: "anstrengend, aber dramaturgisch überzeugend".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Komisch, selbstironisch und ein bisschen verloren kreisen Arno Geigers Figuren um sich selbst und zeigen, wie absurd der Alltag sein kann." Freundin, 01.08.07
"Erzählungen erfordern eine besondere Stringenz, sie müssen genau komponiert werden, und da kommen die Stärken eines Autors besser heraus, vielleicht auch die Schwächen. Bei Arno Geiger aber die Stärken. ... Der Autor kann das Beklemmende alltäglichen Scheiterns wunderbar und feingliedrig nuancieren. Er beherrscht einen Tonfall von unsentimentaler, lakonischer Härte." Sigrid Löffler, Deutschlandradio, 03.08.07
"Der Monolog einer unglücklich liebenden Frau, auf drei innerhalb des Jahres 1973 vollgesprochene Tonbänder gebannt, ist schlicht und einfach genial. ... Wie hier die Reste von sozialem Stolz, Kultiviertheit und dem diskreten Charme bourgeoisen Konversationsvermögens schließlich vor der Übermacht der Gefühle kapitulieren, das ist sprachlich so grandios und berührend gestaltet, dass einem als Leser der Atem wegbleibt." Tilman Krause, Die Welt, 04.08.07
"Arno Geiger bietet uns ein tragikomisches Kaleidoskop der Liebe in Zeiten offener Beziehungskultur." Christian Schacherreiter, Oberösterreichische Nachrichten, 08.08.07
"Geiger beweist mit seinem neuen Erzählband aufs Neue, dass es ihm an Könnerschaft nicht mangelt. Er versteht es, auf verschiedenen Klaviaturen zu spielen, tiefsinnige, melancholische, kritische, aber auch heitere Töne anzuschlagen." Peter Landerl, Wiener Zeitung, 11.08.2007
"Im Zentrum der sprachlich fein ziselierten Miniaturen: das Greifen nach dem Glück." Reinhold Reiterer, Oberösterreichische Nachrichten, 16.08.07
"Erzählungen erfordern eine besondere Stringenz, sie müssen genau komponiert werden, und da kommen die Stärken eines Autors besser heraus, vielleicht auch die Schwächen. Bei Arno Geiger aber die Stärken. ... Der Autor kann das Beklemmende alltäglichen Scheiterns wunderbar und feingliedrig nuancieren. Er beherrscht einen Tonfall von unsentimentaler, lakonischer Härte." Sigrid Löffler, Deutschlandradio, 03.08.07
"Der Monolog einer unglücklich liebenden Frau, auf drei innerhalb des Jahres 1973 vollgesprochene Tonbänder gebannt, ist schlicht und einfach genial. ... Wie hier die Reste von sozialem Stolz, Kultiviertheit und dem diskreten Charme bourgeoisen Konversationsvermögens schließlich vor der Übermacht der Gefühle kapitulieren, das ist sprachlich so grandios und berührend gestaltet, dass einem als Leser der Atem wegbleibt." Tilman Krause, Die Welt, 04.08.07
"Arno Geiger bietet uns ein tragikomisches Kaleidoskop der Liebe in Zeiten offener Beziehungskultur." Christian Schacherreiter, Oberösterreichische Nachrichten, 08.08.07
"Geiger beweist mit seinem neuen Erzählband aufs Neue, dass es ihm an Könnerschaft nicht mangelt. Er versteht es, auf verschiedenen Klaviaturen zu spielen, tiefsinnige, melancholische, kritische, aber auch heitere Töne anzuschlagen." Peter Landerl, Wiener Zeitung, 11.08.2007
"Im Zentrum der sprachlich fein ziselierten Miniaturen: das Greifen nach dem Glück." Reinhold Reiterer, Oberösterreichische Nachrichten, 16.08.07