It is four years since the virus came, killing every adult in its path. Not long after that the electricity failed. Food and water started running out. Fires raged across the country. Now Anna cares for her brother alone in a house hidden in the woods, keeping him safe from 'the Outside'. But, when the time comes, Anna knows they must leave their world and find another.
By turns luminous and tender, gripping and horrifying, Anna is a haunting parable of love and loneliness; of the stories we tell to sustain us, and the lengths we will go to in order to stay alive.
By turns luminous and tender, gripping and horrifying, Anna is a haunting parable of love and loneliness; of the stories we tell to sustain us, and the lengths we will go to in order to stay alive.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2018In der
Wildnis
Niccolò Ammanitis Roman über
eine Welt ohne Erwachsene
Eine „road novel“ erzählt keineswegs nur von der Straße, und die Protagonisten solcher Romane sind keineswegs nur unterwegs. Denn vorangetrieben werden sie von einer Sehnsucht nach seliger Sesshaftigkeit, und jedes halbwegs glückliche Innehalten auf der Reise erscheint als Vorglanz jenes Ankommens. Dass es aber diese Hoffnung überhaupt gibt, setzt ebenfalls die Gebundenheit an einen Ort voraus, als vorausgegangene Erfahrung, und zwar nicht nur, weil es anderenfalls die Vorstellung jenes Ziels nicht gäbe, sondern auch, weil jeder Hoffnung eine Idee von Planbarkeit innewohnt, und sei sie auch noch so vage. Und wie sollte diese Idee entstanden sein, wenn nicht aus einer Art Sesshaftigkeit heraus? Wirkliches Nomadentum kommt deshalb in einer „road novel“ nicht vor. Ein solches Leben müsste planlos sein, von nicht begriffener Not getrieben und ohne Vorstellung von Zukunft. Und von der Erinnerung an die Vergangenheit ist dabei womöglich nicht mehr übrig, als es zum unmittelbaren Überleben bedarf.
Gewiss ist „Anna“, der jüngste Roman des römischen Schriftstellers Niccolò Ammaniti, eine „road novel“. Aber er ist es gleichsam auf der Schwelle zur Schilderung des Nomadentums. Das liegt daran, dass Niccolò Ammaniti seinen Helden die Zukunft nimmt, nicht vollständig, aber fast, so dass diese Zukunft wie einer dünner Spalt erscheint, den die Tür gerade noch offen lässt, bevor sie endgültig zufällt: Ein Virus hat in Ammanitis Geschichte die Menschheit befallen, und er sorgt dafür, dass alle Erwachsenen sterben, die Kinder aber am Leben bleiben, bis sie ihrerseits geschlechtsreif werden. Der Einfall ist von einiger Perfidie, nicht nur, weil absehbar ist, dass die Menschheit in ihren Kindern zugrunde gehen wird, sondern auch, weil er den Kindern die Unschuld nimmt: Durchschlagen müssen sie sich, unter allen erdenklichen Bedingungen, weshalb manche Teile der Geschichte an William Goldings „Herr der Fliegen“ (1954) erinnern.
Doch ist Niccolò Ammanitis Perspektive weiter: Die Insel, auf der seine Kinder leben, ist kein menschenleeres Eiland in der Südsee, sondern ein höchst gegenwärtiges Sizilien. Vor allem aber ist dieser Roman keine Parabel, sondern eine Geschichte von der Heraufkunft eines Nichts: „Das Meer glich einem Blatt Stanniolpapier, auf dem zwei Inseln lagen, die eine klein und rund wie eine Bacio-Praline, die andere ferner und kleiner. Im Hintergrund glaubte Anna einen schmalen, dunkleren Streifen auszumachen, möglicherweise nur eine Spiegelung oder eine Illusion: das Festland.“ Es bedarf einer kindlichen, noch an Erwachsenen geschulten Fantasie, um darin eine Hoffnung erkennen zu wollen.
Ein Kind aus behütetem Haus war Anna, bevor ihre Eltern starben, und die Mutter verließ die Tochter nicht, ohne ihr ein umfangreiches Kompendium mit Anweisungen und Ratschlägen zu hinterlassen. Sie gelten vor allem dem Umgang mit Astor, dem kleinen Bruder, aber sie helfen nur bedingt: Gewiss, man kann von den Hinterlassenschaften der alten Welt leben, von Tomaten in Dosen oder mit ein Paar Turnschuhen von Adidas, so lange jedenfalls, bis auch das letzte Kind der Pubertät anheimfällt.
Aber bevor es soweit ist, muss Anna hinaus in eine zur Wildnis gewordenen Ruinenlandschaft. Dort haben sich Banden gebildet, und es regiert die Gewalt, und wo die anderen Kinder nicht sind, da marodieren die Hunde, die, gleichermaßen meist in Rudeln auftretend, erstaunlich menschliche Eigenschaften entwickeln, oft im Bösen, aber manchmal auch im Guten.
In der Schilderung dieser verlorenen Welt entfaltet der Roman seine Qualitäten: „Schafherden weideten neben Denkmälern, bärtige Ziegen kletterten auf Müllcontainer, und zwischen den Autos liefen zahlreiche Pferde und Fohlen herum. Nur der Hafen, der mit Stacheldraht abgegrenzt und von Militärfahrzeugen umstellt war, erinnerte an die brutale Zeit der Quarantäne, aber der Wind trug den salzigen Duft des Meeres herbei, und die Wellen hinter den Kais waren mit Schaumkronen besetzt.“
Diese Art des ausführlichen Erzählens, von einem Verständnis allen Figuren gegenüber, auch den schrecklichen, getragen, macht den Roman lesbar, manchmal sogar spannend: In den Details vor allem lässt sich die Angst der Kinder ahnen, und das gilt auch für die Gewalttätigsten unter ihnen.
Wozu das alles, mag man sich da fragen, denn es hat den „Herrn der Fliegen“ doch schon gegeben, und nicht nur diesen Roman, sondern auch Cormac McCarthys „Die Straße“ (2006) oder die „Tribute von Panem“ (2008 bis 2010), sowie zahllose andere Werke der eher hoffnungslosen Art. Eben wegen dieser Angst, wäre auf die Frage zu antworten, weil in Niccolò Ammanitis präziser Redseligkeit eine existenzielle Not erkennbar wird, gegen die es keinen Schutz gibt und gegen die man sich nicht imprägnieren kann: die Not von Nomaden, die sich daran erinnern können, einmal ein Zuhause gehabt zu haben.
THOMAS STEINFELD
Niccolò Ammaniti: Anna. Roman. Aus dem Italienischen von Luis Ruby. Eisele Verlag, München 2018. 336 Seiten, 20 Euro.
Ein Virus hat die Menschheit
befallen und die
Erwachsenen dahingerafft
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wildnis
Niccolò Ammanitis Roman über
eine Welt ohne Erwachsene
Eine „road novel“ erzählt keineswegs nur von der Straße, und die Protagonisten solcher Romane sind keineswegs nur unterwegs. Denn vorangetrieben werden sie von einer Sehnsucht nach seliger Sesshaftigkeit, und jedes halbwegs glückliche Innehalten auf der Reise erscheint als Vorglanz jenes Ankommens. Dass es aber diese Hoffnung überhaupt gibt, setzt ebenfalls die Gebundenheit an einen Ort voraus, als vorausgegangene Erfahrung, und zwar nicht nur, weil es anderenfalls die Vorstellung jenes Ziels nicht gäbe, sondern auch, weil jeder Hoffnung eine Idee von Planbarkeit innewohnt, und sei sie auch noch so vage. Und wie sollte diese Idee entstanden sein, wenn nicht aus einer Art Sesshaftigkeit heraus? Wirkliches Nomadentum kommt deshalb in einer „road novel“ nicht vor. Ein solches Leben müsste planlos sein, von nicht begriffener Not getrieben und ohne Vorstellung von Zukunft. Und von der Erinnerung an die Vergangenheit ist dabei womöglich nicht mehr übrig, als es zum unmittelbaren Überleben bedarf.
Gewiss ist „Anna“, der jüngste Roman des römischen Schriftstellers Niccolò Ammaniti, eine „road novel“. Aber er ist es gleichsam auf der Schwelle zur Schilderung des Nomadentums. Das liegt daran, dass Niccolò Ammaniti seinen Helden die Zukunft nimmt, nicht vollständig, aber fast, so dass diese Zukunft wie einer dünner Spalt erscheint, den die Tür gerade noch offen lässt, bevor sie endgültig zufällt: Ein Virus hat in Ammanitis Geschichte die Menschheit befallen, und er sorgt dafür, dass alle Erwachsenen sterben, die Kinder aber am Leben bleiben, bis sie ihrerseits geschlechtsreif werden. Der Einfall ist von einiger Perfidie, nicht nur, weil absehbar ist, dass die Menschheit in ihren Kindern zugrunde gehen wird, sondern auch, weil er den Kindern die Unschuld nimmt: Durchschlagen müssen sie sich, unter allen erdenklichen Bedingungen, weshalb manche Teile der Geschichte an William Goldings „Herr der Fliegen“ (1954) erinnern.
Doch ist Niccolò Ammanitis Perspektive weiter: Die Insel, auf der seine Kinder leben, ist kein menschenleeres Eiland in der Südsee, sondern ein höchst gegenwärtiges Sizilien. Vor allem aber ist dieser Roman keine Parabel, sondern eine Geschichte von der Heraufkunft eines Nichts: „Das Meer glich einem Blatt Stanniolpapier, auf dem zwei Inseln lagen, die eine klein und rund wie eine Bacio-Praline, die andere ferner und kleiner. Im Hintergrund glaubte Anna einen schmalen, dunkleren Streifen auszumachen, möglicherweise nur eine Spiegelung oder eine Illusion: das Festland.“ Es bedarf einer kindlichen, noch an Erwachsenen geschulten Fantasie, um darin eine Hoffnung erkennen zu wollen.
Ein Kind aus behütetem Haus war Anna, bevor ihre Eltern starben, und die Mutter verließ die Tochter nicht, ohne ihr ein umfangreiches Kompendium mit Anweisungen und Ratschlägen zu hinterlassen. Sie gelten vor allem dem Umgang mit Astor, dem kleinen Bruder, aber sie helfen nur bedingt: Gewiss, man kann von den Hinterlassenschaften der alten Welt leben, von Tomaten in Dosen oder mit ein Paar Turnschuhen von Adidas, so lange jedenfalls, bis auch das letzte Kind der Pubertät anheimfällt.
Aber bevor es soweit ist, muss Anna hinaus in eine zur Wildnis gewordenen Ruinenlandschaft. Dort haben sich Banden gebildet, und es regiert die Gewalt, und wo die anderen Kinder nicht sind, da marodieren die Hunde, die, gleichermaßen meist in Rudeln auftretend, erstaunlich menschliche Eigenschaften entwickeln, oft im Bösen, aber manchmal auch im Guten.
In der Schilderung dieser verlorenen Welt entfaltet der Roman seine Qualitäten: „Schafherden weideten neben Denkmälern, bärtige Ziegen kletterten auf Müllcontainer, und zwischen den Autos liefen zahlreiche Pferde und Fohlen herum. Nur der Hafen, der mit Stacheldraht abgegrenzt und von Militärfahrzeugen umstellt war, erinnerte an die brutale Zeit der Quarantäne, aber der Wind trug den salzigen Duft des Meeres herbei, und die Wellen hinter den Kais waren mit Schaumkronen besetzt.“
Diese Art des ausführlichen Erzählens, von einem Verständnis allen Figuren gegenüber, auch den schrecklichen, getragen, macht den Roman lesbar, manchmal sogar spannend: In den Details vor allem lässt sich die Angst der Kinder ahnen, und das gilt auch für die Gewalttätigsten unter ihnen.
Wozu das alles, mag man sich da fragen, denn es hat den „Herrn der Fliegen“ doch schon gegeben, und nicht nur diesen Roman, sondern auch Cormac McCarthys „Die Straße“ (2006) oder die „Tribute von Panem“ (2008 bis 2010), sowie zahllose andere Werke der eher hoffnungslosen Art. Eben wegen dieser Angst, wäre auf die Frage zu antworten, weil in Niccolò Ammanitis präziser Redseligkeit eine existenzielle Not erkennbar wird, gegen die es keinen Schutz gibt und gegen die man sich nicht imprägnieren kann: die Not von Nomaden, die sich daran erinnern können, einmal ein Zuhause gehabt zu haben.
THOMAS STEINFELD
Niccolò Ammaniti: Anna. Roman. Aus dem Italienischen von Luis Ruby. Eisele Verlag, München 2018. 336 Seiten, 20 Euro.
Ein Virus hat die Menschheit
befallen und die
Erwachsenen dahingerafft
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.08.2018Wenn alles Gewohnte seinen Sinn verliert
Nach der Apokalypse sieht die Welt schon ganz anders aus: Niccolò Ammanitis Roman "Anna" führt zwei Kinder ins Jahr 2020 und baut dabei auf eine Tradition, die bis zu Jules Verne zurückreicht.
Als der Schäferhund, den sie "Coccolone", also "Kuscheliger", getauft haben, in der Meerenge nun doch noch das Tretboot erreicht hat, in dem Anna und ihr Bruder Astor sitzen, als das Mädchen dann den halbtoten Hund endlich mühsam aus dem Wasser wuchtet und ihr vor Erleichterung fast die Tränen kommen, sagt sie spontan: "Ich könnte ihn heiraten." Der Hund sei "ihr Liebster", flüstert sie dem wehrlosen Tier ins Ohr und bedeckt Coccolone mit Küssen. Der kleine Astor aber fragt: "Geht das, einen Hund heiraten?"
Die Frage ist weniger absurd, als es scheint, nicht nur weil Astor es gewohnt ist, das zu akzeptieren, was seine fünf Jahre ältere Schwester über die Welt und deren Regelwerk verkündet. Sondern auch, weil so gut wie alles, was in dieser Hinsicht einmal galt, in dieser Situation auf dem Prüfstand steht. An diesem Punkt der Handlung von Niccolò Ammanitis Roman "Anna", der im italienischen Original 2015 erschienen ist und dieser Tage auf Deutsch erscheint, blicken die Kinder zurück auf eine Apokalypse, die mehr als vier Jahre zuvor über die Welt hereingebrochen war und, wie es scheint, alle Erwachsenen getötet hatte: Ein Virus, aus Belgien stammend, hatte sich 2016 rasend schnell verbreitet, dabei aber rätselhafterweise die Kinder verschont.
Nun, im Spätherbst 2020, schlagen sich die dreizehnjährige Anna und ihr achtjähriger Bruder im heimatlichen Nordsizilien durch. Die Bedingungen dafür sind vergleichsweise gut. Ihre Mutter war mit ihnen schon lange vor dem Ausbruch der "roten Seuche" in ein Landhaus bei Castellamare gezogen, wo sie einen großen Gemüsegarten angelegt hatte. Als die Katastrophe näher kam und klar wurde, dass es für die Erwachsenen kein Entkommen geben würde, fing sie an, den Kindern, vor allem aber der neunjährigen Anna, in einem Heft alles aufzuschreiben, was sie für das Überleben brauchen könnten, inklusive Anweisungen für den Umgang mit der Leiche, die sie bald sein würde. Über diesen Punkt allerdings setzt sich Anna hinweg: Sie sammelt die Knochen der Mutter ein, bemalt und schmückt sie und drapiert sie in der richtigen Ordnung im Elternschlafzimmer.
An solchen Stellen blitzt immer wieder das Interesse des Autors daran auf, wie sich die Kinder jenseits der Notwendigkeit des schieren Überlebens noch verhalten, wie sie dem Tag Struktur verleihen und woher sie etwa spirituellen Halt beziehen - das mütterliche Skelett, aufbewahrt in einem verschlossenen Zimmer und dem allgegenwärtigen Verfall entzogen, fungiert als Symbol einer besseren Zeit, in der die Kinder ihr Schicksal komplett bei den Erwachsenen aufgehoben wussten. Und der bizarre Kult einer gewalttätigen Jugendgruppe, in dem überall zusammengeraffte Knochen eine wesentliche Rolle bei der erhofften magischen Rettung vor der Seuche spielen, stellt die Nachtseite dieser Orientierungssuche dar.
Insgesamt steht "Anna" in einer literarischen Tradition, die mindestens bis Jules Vernes "Zwei Jahre Ferien" (1888) zurückreicht und so unterschiedliche Werke wie William Goldings "Herr der Fliegen" (1954) und John Christophers "Leere Welt" (1977) umfasst. In ihr sind Kinder und Jugendliche jäh auf sich allein gestellt, um in einer von Erwachsenen geprägten, nun aber von diesen entblößten Kultur zu überleben und darüber zu entscheiden, welche Traditionen sie fortführen wollen und welche nicht. Die Welt, in der sie sich bewegen, liefert Anlass genug für solche Überlegungen, schon durch die allgegenwärtigen Relikte aus der Zeit vor der Apokalypse und die Verheerungen in den folgenden vier Jahren: "Jetzt, nach den Plünderungen und Bränden, blieben von den hübschen Häusern im mediterranen Stil nur noch die Wandpfeiler aus Beton, dazu haufenweise Ziegel, Schutt und rostige Gittertüren. Bei Häusern, die das Feuer verschont hatte, waren die Türen aus den Angeln gerissen, die Scheiben zerbrochen und die Mauern voller Graffiti. Auf den Straßen lagen die winzigen, stumpfen Glasstücke zerplatzter Autoscheiben." Und während der Asphalt in der Hitze riesige Blasen geworfen hat, ist zugleich "das große Schild mit der lila Languste des Restaurants ,Il gusto di Afrodite' intakt geblieben", wie um daran zu erinnern, dass es einmal eine arbeitsteilige Gesellschaft gegeben hat, eine, in der man sich einfach zum Essen setzen konnte, ohne vorher die Zutaten erbeutet und zubereitet zu haben, und ohne Furcht davor, gewaltsam um diese Mahlzeit oder wegen ihr ums Leben gebracht zu werden. Zudem nehmen mit dem jähen Ende der Elektrizität auch die Geräusche ab, und vieles Gewohnte verliert nun seinen Sinn, auch für diejenigen, die etwa Straßenverkehr oder Radiomusik noch gekannt haben: "Anna war immer ein gesprächiges Kind gewesen. Jetzt füllte sich ihr Mund mit Wörtern, mit denen sie nichts anzufangen wusste."
Niccolò Ammaniti wurde mit dem Roman "Ich habe keine Angst" berühmt, in dem er mit großer Präzision die Psyche eines Jungen schildert, der sich gegen die Erwachsenen seines Dorfs stellt, weil er sich mit einem Gleichaltrigen identifiziert, der von ihnen entführt wurde und umgebracht werden soll. Auch in "Anna" gilt das Interesse des Autors spürbar der besonderen Perspektive der Kinder, und da vor allem der einer Titelheldin, die schwer an der Verantwortung für den Bruder trägt und kaum dazu kommt, ihre eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen. Sie ist hart geworden und zögert nicht, mit großer Wucht zuzuschlagen, wenn es um ihr Überleben oder das ihres Bruders geht. Wenn es sein muss, hält sie für Astor willkürlich terminierte "Weihnachtsfeiern" ab, um ihm unangenehme Entscheidungen schmackhaft zu machen. Und sie erfindet für ihn eine private Mythologie um einen zornigen Gott namens "Danone", um den Bruder davon abzuhalten, das rettende Gehöft zu verlassen. Das funktioniert so lange, bis eine marodierende Kinderbande kommt und dem Bruder auf drastische Weise klarmacht, dass er all die Jahre getäuscht worden ist.
Ammaniti erzählt seine Geschichte spannend und deutlich visuell, einer späteren Verfilmung wäre die Bahn durchaus bereitet. Von seiner Heldin sagt er, sie müsse einfach "hinsehen", auch auf das Entsetzliche, und er beschreibt dann eben so ungeschönt, was sie sieht. Er flicht Kleinkapitel ein, die den Hintergrund einzelner Figuren beleuchten und dabei im Detail aufzeigen, was für eine Welt da untergegangen ist und wie lange ihre Bewohner diesen Untergang nicht wahrhaben wollten. Eine Welt zudem, deren Kultur Sumpfblüten hervorgebracht hat wie einen kümmerlichen Möchtegern-Rapper, der seinen Hund zur Kampfmaschine erzieht. Auch das gehört zur Zivilisation, der Anna und Astor entstammen, aber nun, wo die Gesellschaft dramatisch geschrumpft ist, können die wenigen, die übrig sind, die Regeln des Zusammenlebens neu aushandeln.
Geht das also, einen Hund heiraten? Annas kleiner Bruder scheint nicht nur einverstanden damit, er hat sogar noch weiter reichende Pläne. "Ich will ihn auch heiraten", sagt Astor. Und Anna antwortet: "Ist gut. Wir heiraten ihn alle beide."
TILMAN SPRECKELSEN
Niccolò Ammaniti: "Anna".
Roman.
Aus dem Italienischen von Luis Ruby. Eisele Verlag, München 2018. 336 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach der Apokalypse sieht die Welt schon ganz anders aus: Niccolò Ammanitis Roman "Anna" führt zwei Kinder ins Jahr 2020 und baut dabei auf eine Tradition, die bis zu Jules Verne zurückreicht.
Als der Schäferhund, den sie "Coccolone", also "Kuscheliger", getauft haben, in der Meerenge nun doch noch das Tretboot erreicht hat, in dem Anna und ihr Bruder Astor sitzen, als das Mädchen dann den halbtoten Hund endlich mühsam aus dem Wasser wuchtet und ihr vor Erleichterung fast die Tränen kommen, sagt sie spontan: "Ich könnte ihn heiraten." Der Hund sei "ihr Liebster", flüstert sie dem wehrlosen Tier ins Ohr und bedeckt Coccolone mit Küssen. Der kleine Astor aber fragt: "Geht das, einen Hund heiraten?"
Die Frage ist weniger absurd, als es scheint, nicht nur weil Astor es gewohnt ist, das zu akzeptieren, was seine fünf Jahre ältere Schwester über die Welt und deren Regelwerk verkündet. Sondern auch, weil so gut wie alles, was in dieser Hinsicht einmal galt, in dieser Situation auf dem Prüfstand steht. An diesem Punkt der Handlung von Niccolò Ammanitis Roman "Anna", der im italienischen Original 2015 erschienen ist und dieser Tage auf Deutsch erscheint, blicken die Kinder zurück auf eine Apokalypse, die mehr als vier Jahre zuvor über die Welt hereingebrochen war und, wie es scheint, alle Erwachsenen getötet hatte: Ein Virus, aus Belgien stammend, hatte sich 2016 rasend schnell verbreitet, dabei aber rätselhafterweise die Kinder verschont.
Nun, im Spätherbst 2020, schlagen sich die dreizehnjährige Anna und ihr achtjähriger Bruder im heimatlichen Nordsizilien durch. Die Bedingungen dafür sind vergleichsweise gut. Ihre Mutter war mit ihnen schon lange vor dem Ausbruch der "roten Seuche" in ein Landhaus bei Castellamare gezogen, wo sie einen großen Gemüsegarten angelegt hatte. Als die Katastrophe näher kam und klar wurde, dass es für die Erwachsenen kein Entkommen geben würde, fing sie an, den Kindern, vor allem aber der neunjährigen Anna, in einem Heft alles aufzuschreiben, was sie für das Überleben brauchen könnten, inklusive Anweisungen für den Umgang mit der Leiche, die sie bald sein würde. Über diesen Punkt allerdings setzt sich Anna hinweg: Sie sammelt die Knochen der Mutter ein, bemalt und schmückt sie und drapiert sie in der richtigen Ordnung im Elternschlafzimmer.
An solchen Stellen blitzt immer wieder das Interesse des Autors daran auf, wie sich die Kinder jenseits der Notwendigkeit des schieren Überlebens noch verhalten, wie sie dem Tag Struktur verleihen und woher sie etwa spirituellen Halt beziehen - das mütterliche Skelett, aufbewahrt in einem verschlossenen Zimmer und dem allgegenwärtigen Verfall entzogen, fungiert als Symbol einer besseren Zeit, in der die Kinder ihr Schicksal komplett bei den Erwachsenen aufgehoben wussten. Und der bizarre Kult einer gewalttätigen Jugendgruppe, in dem überall zusammengeraffte Knochen eine wesentliche Rolle bei der erhofften magischen Rettung vor der Seuche spielen, stellt die Nachtseite dieser Orientierungssuche dar.
Insgesamt steht "Anna" in einer literarischen Tradition, die mindestens bis Jules Vernes "Zwei Jahre Ferien" (1888) zurückreicht und so unterschiedliche Werke wie William Goldings "Herr der Fliegen" (1954) und John Christophers "Leere Welt" (1977) umfasst. In ihr sind Kinder und Jugendliche jäh auf sich allein gestellt, um in einer von Erwachsenen geprägten, nun aber von diesen entblößten Kultur zu überleben und darüber zu entscheiden, welche Traditionen sie fortführen wollen und welche nicht. Die Welt, in der sie sich bewegen, liefert Anlass genug für solche Überlegungen, schon durch die allgegenwärtigen Relikte aus der Zeit vor der Apokalypse und die Verheerungen in den folgenden vier Jahren: "Jetzt, nach den Plünderungen und Bränden, blieben von den hübschen Häusern im mediterranen Stil nur noch die Wandpfeiler aus Beton, dazu haufenweise Ziegel, Schutt und rostige Gittertüren. Bei Häusern, die das Feuer verschont hatte, waren die Türen aus den Angeln gerissen, die Scheiben zerbrochen und die Mauern voller Graffiti. Auf den Straßen lagen die winzigen, stumpfen Glasstücke zerplatzter Autoscheiben." Und während der Asphalt in der Hitze riesige Blasen geworfen hat, ist zugleich "das große Schild mit der lila Languste des Restaurants ,Il gusto di Afrodite' intakt geblieben", wie um daran zu erinnern, dass es einmal eine arbeitsteilige Gesellschaft gegeben hat, eine, in der man sich einfach zum Essen setzen konnte, ohne vorher die Zutaten erbeutet und zubereitet zu haben, und ohne Furcht davor, gewaltsam um diese Mahlzeit oder wegen ihr ums Leben gebracht zu werden. Zudem nehmen mit dem jähen Ende der Elektrizität auch die Geräusche ab, und vieles Gewohnte verliert nun seinen Sinn, auch für diejenigen, die etwa Straßenverkehr oder Radiomusik noch gekannt haben: "Anna war immer ein gesprächiges Kind gewesen. Jetzt füllte sich ihr Mund mit Wörtern, mit denen sie nichts anzufangen wusste."
Niccolò Ammaniti wurde mit dem Roman "Ich habe keine Angst" berühmt, in dem er mit großer Präzision die Psyche eines Jungen schildert, der sich gegen die Erwachsenen seines Dorfs stellt, weil er sich mit einem Gleichaltrigen identifiziert, der von ihnen entführt wurde und umgebracht werden soll. Auch in "Anna" gilt das Interesse des Autors spürbar der besonderen Perspektive der Kinder, und da vor allem der einer Titelheldin, die schwer an der Verantwortung für den Bruder trägt und kaum dazu kommt, ihre eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen. Sie ist hart geworden und zögert nicht, mit großer Wucht zuzuschlagen, wenn es um ihr Überleben oder das ihres Bruders geht. Wenn es sein muss, hält sie für Astor willkürlich terminierte "Weihnachtsfeiern" ab, um ihm unangenehme Entscheidungen schmackhaft zu machen. Und sie erfindet für ihn eine private Mythologie um einen zornigen Gott namens "Danone", um den Bruder davon abzuhalten, das rettende Gehöft zu verlassen. Das funktioniert so lange, bis eine marodierende Kinderbande kommt und dem Bruder auf drastische Weise klarmacht, dass er all die Jahre getäuscht worden ist.
Ammaniti erzählt seine Geschichte spannend und deutlich visuell, einer späteren Verfilmung wäre die Bahn durchaus bereitet. Von seiner Heldin sagt er, sie müsse einfach "hinsehen", auch auf das Entsetzliche, und er beschreibt dann eben so ungeschönt, was sie sieht. Er flicht Kleinkapitel ein, die den Hintergrund einzelner Figuren beleuchten und dabei im Detail aufzeigen, was für eine Welt da untergegangen ist und wie lange ihre Bewohner diesen Untergang nicht wahrhaben wollten. Eine Welt zudem, deren Kultur Sumpfblüten hervorgebracht hat wie einen kümmerlichen Möchtegern-Rapper, der seinen Hund zur Kampfmaschine erzieht. Auch das gehört zur Zivilisation, der Anna und Astor entstammen, aber nun, wo die Gesellschaft dramatisch geschrumpft ist, können die wenigen, die übrig sind, die Regeln des Zusammenlebens neu aushandeln.
Geht das also, einen Hund heiraten? Annas kleiner Bruder scheint nicht nur einverstanden damit, er hat sogar noch weiter reichende Pläne. "Ich will ihn auch heiraten", sagt Astor. Und Anna antwortet: "Ist gut. Wir heiraten ihn alle beide."
TILMAN SPRECKELSEN
Niccolò Ammaniti: "Anna".
Roman.
Aus dem Italienischen von Luis Ruby. Eisele Verlag, München 2018. 336 S., geb., 20,- [Euro].
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Ammaniti sets a new standard in post-apocalyptic fiction . . . This story of children running wild in Sicily brilliantly manipulates the usual models even as it transcends their limits . . . In the midst of wonderfully detailed disorder, one girl named Anna struggles to survive, fighting off feral dogs and crazed children and enduring one of recent literature's most nightmarish visions of hell on earth as she tries to feed and protect her young brother, Astor John Burnside Guardian