Mia Oberländer erzählt in Anna von drei Generationen aussergewöhnlich grosser Frauen. Mit ihrer Andersartigkeit gehen die drei Annas unterschiedlich um, was auch ihre Beziehungen untereinander prägt. In virtuosen Bildern und mit subtilem Humor erzählt Mia Oberländer vom Gross- und Anderssein in unserer kleinkarierten Welt.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Martina Knoben zeigt sich überaus angetan von Mia Oberländers Graphic Novel "Anna", mit der die junge Zeichnerin alle Möglichkeiten des Mediums ausschöpfe. Oberländers Ausdruck bestehe insbesondere in der direkten Visualisierung "gefühlter Wahrheiten", etwa dem Empfinden, zu groß für diese Welt zu sein - so groß, dass man kaum ins eigene Elternhaus hineinpasst, oder so groß, dass ein einziger Schritt ausreicht, um vom Berggipfel ins Tal hinunter zu schreiten, erläutert die Kritikerin. So geht es den drei Annas, lesen wir - Großmutter, Mutter und Tochter, jeweils eine größer als die andere. Oberländer springt zwischen ihren Geschichten und verschiedenen Zeitebenen hin und her, wobei unterschiedliche Farbgebungen die Orientierung erleichtern. Ihren teils sehr humorvollen Zeichnungen, so Knoben, sieht man nicht nur das Talent, sondern auch die Freude am eigenen Handwerk an, wodurch die oftmals doch recht schwermütige Erzählung an Leichtigkeit gewinne. Knoben freut sich schon aufs nächste Werk der Autorin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.11.2021Rausgewachsen
Mia Oberländer erzählt vom Großsein in „Anna“
Wer schon mal hinter hoch aufragenden Schultern im Kino saß oder in einer Warteschlange von einem trampeligen Riesen umgenietet wurde, weiß, wie ätzend es ist, kleiner zu sein. Große verdienen mehr, Große werden Models. „Großsein ist etwas Tolles, denkt man.“ Das schreibt Mia Oberländer auch in ihrem Comic.
Die Ernüchterung folgt in Gestalt eines Riesenbabys, das wie heruntergeplumpst auf dem Dach eines Hauses liegt. Das Baby ist fast so groß wie das Haus selbst, ein pummeliges Monstrum – so wird es vom Dorf, in das es hineingeworfen wurde, gesehen. „Oh Gott!“, kommentiert eine entsetzte Menge.
Die Größenverhältnisse laufen immer wieder grotesk aus dem Ruder in Mia Oberländers Graphic Novel. Als Kleinkind strampelt Anna in ihrem Kinderwagen mit Beinen, die so lang sind, dass sie über den Wagen auf den Boden hängen. Und die erwachsene Anna wird auf dem Gipfel eines Berges ihre Beine strecken und mit einem einzigen Schritt im Tal stehen. Hier ist das Medium Comic in seinem Element, wenn aus der gefühlten Wahrheit ganz unmittelbar Bilder werden. Viel Zeichenspaß ist außerdem zu spüren, ein Vergnügen, das der immer wieder bedrückenden Erzählung viel ihrer Schwere nimmt.
Großsein mag etwas Tolles sein, aber zu groß zu sein in den Augen von Kleingeistern, ist keine Freude. Dabei ist Annas Übergröße auch nur eine Möglichkeit des Andersseins. Als überdurchschnittlich Kleine, Dicke, Dünne, Schwarze oder sonst wie „andere“ Person wäre Anna ähnlich viel Aufmerksamkeit sicher gewesen.
Wobei – von welcher Anna sprechen wir eigentlich? Mia Oberländer erzählt von drei Frauen, die alle Anna heißen: Großmutter, Mutter und Tochter, die denselben Vornamen und ähnliche Gene haben. Weil große Frauen oft große Männer finden, legen die Annas allerdings von Generation zu Generation an Größe zu. Weshalb Anna 1 (die Großmutter) noch ein vergleichsweise unauffälliges Gemeindemitglied war und sogar häufig zur „Tannenkönigin“ gewählt wurde, während Anna 2 (das Riesenbaby) als abnorm groß gesehen wird. Auch Anna 1 bezeichnet ihr Kind in der Öffentlichkeit als Zumutung und Schicksalsschlag. Anna 2 ist das gar nicht gut bekommen.
Mia Oberländer wechselt zwischen den Zeitebenen hin und her, Orientierung bieten die Farben. Während die Geschichte der Oma in einem gräulichen Rotbraun gehalten ist (ein Rückblick auf ihre Kindheit ist gar schwarz-weiß gezeichnet), wird der Leidensweg von Anna 2 in flächig aufgetragenen, durch harte schwarze Linien getrennten Knallfarben dargelegt: Feuerwehrrot, Tannengrün, Zitronengelb und Nachmittagsblau. Fast lustig sieht das manchmal aus, wenn etwa beim Abi-Abschlussfoto Kopf und Hals von Anna 2 abgeschnitten sind, weil sie oben aus dem Foto ragt. Aus den harten schwarzen Linien bricht Anna 2 am Ende aber aus. Die Wut in ihrem Gesicht sprengt jeden Rahmen, und sie schreit sich den Frust aus dem Leib in roten Lavaströmen – ein Höhepunkt im zeichnerisch starken Band. „Anna“ ist Oberländers Abschlussarbeit an der HAW Hamburg, wo sie bei Anke Feuchtenberger studierte. Die junge Zeichnerin (sie ist Jahrgang 1995) wurde dafür mit dem Preis der Berthold-Leibinger-Stiftung ausgezeichnet, auf künftige Arbeiten darf man gespannt sein.
Auch Anna 3 ist in den Farben der Gegenwart gezeichnet, ihre Geschichte aber verläuft ganz anders. Während Anna 2 noch schlechte Chancen auf dem Heiratsmarkt prophezeit wurden (es gab zum Großsein eine Sondersendung im Fernsehen), hat Anna 3 viel Glück in der Liebe. Ausgelassen tanzt sie im lila-schwarz-weißen Stroboskoplicht einer Disco – eine tolle Frau „Du bist lang und schön wie diese Lilien, Anna 3!“, sagt ein Mann zu ihr, dann geht es zusammen auf den Gipfel. Nicht den der Lust – die beiden genießen die Vogelperspektive.
MARTINA KNOBEN
Mia Oberländer:
Anna.
Graphic Novel.
Edition Moderne,
Zürich 2021.
220 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Mia Oberländer erzählt vom Großsein in „Anna“
Wer schon mal hinter hoch aufragenden Schultern im Kino saß oder in einer Warteschlange von einem trampeligen Riesen umgenietet wurde, weiß, wie ätzend es ist, kleiner zu sein. Große verdienen mehr, Große werden Models. „Großsein ist etwas Tolles, denkt man.“ Das schreibt Mia Oberländer auch in ihrem Comic.
Die Ernüchterung folgt in Gestalt eines Riesenbabys, das wie heruntergeplumpst auf dem Dach eines Hauses liegt. Das Baby ist fast so groß wie das Haus selbst, ein pummeliges Monstrum – so wird es vom Dorf, in das es hineingeworfen wurde, gesehen. „Oh Gott!“, kommentiert eine entsetzte Menge.
Die Größenverhältnisse laufen immer wieder grotesk aus dem Ruder in Mia Oberländers Graphic Novel. Als Kleinkind strampelt Anna in ihrem Kinderwagen mit Beinen, die so lang sind, dass sie über den Wagen auf den Boden hängen. Und die erwachsene Anna wird auf dem Gipfel eines Berges ihre Beine strecken und mit einem einzigen Schritt im Tal stehen. Hier ist das Medium Comic in seinem Element, wenn aus der gefühlten Wahrheit ganz unmittelbar Bilder werden. Viel Zeichenspaß ist außerdem zu spüren, ein Vergnügen, das der immer wieder bedrückenden Erzählung viel ihrer Schwere nimmt.
Großsein mag etwas Tolles sein, aber zu groß zu sein in den Augen von Kleingeistern, ist keine Freude. Dabei ist Annas Übergröße auch nur eine Möglichkeit des Andersseins. Als überdurchschnittlich Kleine, Dicke, Dünne, Schwarze oder sonst wie „andere“ Person wäre Anna ähnlich viel Aufmerksamkeit sicher gewesen.
Wobei – von welcher Anna sprechen wir eigentlich? Mia Oberländer erzählt von drei Frauen, die alle Anna heißen: Großmutter, Mutter und Tochter, die denselben Vornamen und ähnliche Gene haben. Weil große Frauen oft große Männer finden, legen die Annas allerdings von Generation zu Generation an Größe zu. Weshalb Anna 1 (die Großmutter) noch ein vergleichsweise unauffälliges Gemeindemitglied war und sogar häufig zur „Tannenkönigin“ gewählt wurde, während Anna 2 (das Riesenbaby) als abnorm groß gesehen wird. Auch Anna 1 bezeichnet ihr Kind in der Öffentlichkeit als Zumutung und Schicksalsschlag. Anna 2 ist das gar nicht gut bekommen.
Mia Oberländer wechselt zwischen den Zeitebenen hin und her, Orientierung bieten die Farben. Während die Geschichte der Oma in einem gräulichen Rotbraun gehalten ist (ein Rückblick auf ihre Kindheit ist gar schwarz-weiß gezeichnet), wird der Leidensweg von Anna 2 in flächig aufgetragenen, durch harte schwarze Linien getrennten Knallfarben dargelegt: Feuerwehrrot, Tannengrün, Zitronengelb und Nachmittagsblau. Fast lustig sieht das manchmal aus, wenn etwa beim Abi-Abschlussfoto Kopf und Hals von Anna 2 abgeschnitten sind, weil sie oben aus dem Foto ragt. Aus den harten schwarzen Linien bricht Anna 2 am Ende aber aus. Die Wut in ihrem Gesicht sprengt jeden Rahmen, und sie schreit sich den Frust aus dem Leib in roten Lavaströmen – ein Höhepunkt im zeichnerisch starken Band. „Anna“ ist Oberländers Abschlussarbeit an der HAW Hamburg, wo sie bei Anke Feuchtenberger studierte. Die junge Zeichnerin (sie ist Jahrgang 1995) wurde dafür mit dem Preis der Berthold-Leibinger-Stiftung ausgezeichnet, auf künftige Arbeiten darf man gespannt sein.
Auch Anna 3 ist in den Farben der Gegenwart gezeichnet, ihre Geschichte aber verläuft ganz anders. Während Anna 2 noch schlechte Chancen auf dem Heiratsmarkt prophezeit wurden (es gab zum Großsein eine Sondersendung im Fernsehen), hat Anna 3 viel Glück in der Liebe. Ausgelassen tanzt sie im lila-schwarz-weißen Stroboskoplicht einer Disco – eine tolle Frau „Du bist lang und schön wie diese Lilien, Anna 3!“, sagt ein Mann zu ihr, dann geht es zusammen auf den Gipfel. Nicht den der Lust – die beiden genießen die Vogelperspektive.
MARTINA KNOBEN
Mia Oberländer:
Anna.
Graphic Novel.
Edition Moderne,
Zürich 2021.
220 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de